KKZ 2 – Kapitel 29 – 35

Kapitel 29 – Pläne und Antworten
Kapitel 30 – Zu viele Geheimnisse
Kapitel 31 – Gerettet werden
Kapitel 32 – Wie es weitergehen soll
Kapitel 33 – Die Trennung
Kapitel 34 – Die Farm der Reiher
Kapitel 35 – Heilungsprozess


Kapitel 29 – Pläne und Antworten

 „Es ist unglaublich, wie fundiert die wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Leute sind, die sich Wissenschaftler schimpfen“, sprach ein schlanker Mann mit einer Narbe unter dem linken Auge. Er trug ein enges Hemd, die Krawatte in die Lücke zwischen zwei Knöpfe gestopft. Er reichte die Unterlagen einem älteren Herrn mit einem feinen Schnurrbart.
„Die Psychopharmaka, die sie verwenden, wurden schon vor Jahren von der Weltkommission für Medizin verboten“, sprach der ältere Herr und blätterte dabei die Dokumente durch.
„Wir müssen dem Ganzen hier ein Ende setzen. Tresna, wie weit sind Pecos und seine Truppe?“, sprach der Mann mit der Narbe zu einem kleineren, dicken Mann, der vor einigen Bildschirmen saß. Er trug einen riesigen Rucksack auf dem Rücken.
„Sie konnten sich unbemerkt in das Archiv schleichen, Nal“, antwortete Tresna und deutete mit seinem Finger auf einen der Bildschirme. „Es ist schon ziemlich auffällig, wie unbewacht das ganze Labor ist.“
Nun meldete sich ein weiterer Mann zu Wort, der sich ebenfalls in dem kleinen Überwachungsraum befand. Er war ein großer muskulöser Kerl, der auf seinem Rücken und an seinem Gürtel diverse Waffen befestigt hatte. Sein rechtes Auge war mit einem Verband verdeckt und er machte sonst einen eher strengen Eindruck. Neben ihm saß auf einem Stuhl gefesselt Racun. Racun war der Mann mit der merkwürdigen Brille, der zu der Entführertruppe des Labors gehörte.
„Es ist schon auffällig still“, sprach der muskulöse Mann.
In diesem Augenblick leuchtete eine kleine Lampe über einem der Bildschirme auf.
„Nal, Hol, Borroka, seht euch das einmal an“, sprach Tresna und tippte nervös auf den Bildschirm. „Da sind Kinder im Gang mit den Gefangenen. Sie lassen nacheinander alle frei.“
„Sie können die Patienten doch nicht einfach aus ihrem Umfeld nehmen!“, protestierte Nal. „Das setzt die Leute in eine schwierige gesundheitliche Situation, sie aus ihrem jetzigen Umfeld zu reißen.“
„Sie hören nicht damit auf“, murmelte Tresna.
„Wir müssen etwas unternehmen!“, schlug Nal vor. Er wirkte auf einmal sehr aufgelöst und besorgt.
„Dann lass uns etwas tun“, sprach der alte Mann ruhig. „Borroka, Tresna, ihr haltet hier die Stellung. „Nal und ich werden hinunter gehen und uns um die Kinder kümmern. In welchem Stockwerk befindet sich dieser Gang?“
„Fahrt hinunter in das zweite Untergeschoss. Neben ein paar Lagern befinden sich dort auch die Zellen“, erklärte Tresna, der weiterhin die Monitore überwachte.
Nal schnappte sich seine Tasche und verließ zusammen mit Hol die Überwachungszentrale.
„Dann halten wir hier wohl alleine die Stellung“, sprach Borroka ruhig und grinste dabei merkwürdig.

Währenddessen schmiss Pecos einige Dokumente wütend durch die Luft. „Es muss hier sein!“
„Entspann dich, Pecos“, sagte ein dunkelhäutiger Mann in einer weißen, großen Jacke, welche mit mehreren kreuzförmigen Stickereien gemustert war.
„Khamal, wenn ich das nicht finde, war dieser ganze Einsatz umsonst“, verteidigte sich Pecos und wühlte weiter durch einige Unterlagen.
„Das würde ich nicht sagen“, widersprach Ryoma, der sich zusammen mit zwei weiteren Männern im Archiv befand. „Wenn wir die wichtigen Unterlagen mitnehmen, können wir endlich herausfinden, wieso sich diese Organisation wieder zusammensetzen konnte.“
„Es scheint so, als wäre das vor neunzehn Jahren noch nicht alles gewesen“, sprach ein Mann in einem langen Umhang. Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht. Auf seinem Rücken war ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen geschnallt.
„Außerdem geben uns diese Unterlagen Hinweise auf weitere Orte und Verstecke der Organisation“, erklärte ein bärtiger Mann, der mit einer unangezündete Zigarette zwischen seinen Lippen herumspielte.
„Und außerdem“, erklärte Ryoma und ging nun auf Pecos zu, „ist mir Tsuru genauso wichtig wie dir. Wir werden schon etwas finden.“
„Ich glaube, das könnte etwas sein“, sprach Khamal und reichte Pecos unverzüglich einen Ordner. „Das passt vom Zeitraum her, wie du beschrieben hast.“
Pecos öffnete ihn und blätterte durch die Berichte. Es war tatsächlich etwas, das mit Tsuru zu tun hatte.
„Das kann nicht sein“, murmelte er schockiert, als er zu den Berichten über die Experimente kam. „Schaut euch das einmal an. So etwas geht?“

Alles was Takeru sah, waren die nackten Pobacken von Suna, die gut sichtbar aus seinem Patientenmantel hervorblitzten. Ab und zu sah er durch den offenen Kittel noch etwas anderes zwischen seinen Beinen. Er schluckte und versuchte, seinen Blick woanders hinzulenken. Es war merkwürdig, dass seine Aufmerksamkeit darauf gezogen wurde. Vielleicht lag es daran, dass er in dem engen Korridor gefangen war und er durch seine Nervosität, die durch die Tatsache herrührte, sich tief unter der Erde zu befinden, keine andere Möglichkeit sah, sich zu beruhigen. Er bekam etwas Panik bei dem Gedanken, keinen Fluchtweg zu sehen und versuchte etwas ruhiger zu atmen. Sein Blick schweifte nun auf Eimi, der jedes Mal, wenn sie an einer Zelle vorbeikamen, diese öffnete und erklärte, dass die Freunde hier wären, um alle aus ihrer Gefangenschaft zu befreien.
„Alles in Ordnung?“, fragte Kioku sanft und berührte Takeru dabei an der Schulter.
„Ja, ich denke schon“, meinte dieser und wirkte dabei sehr unsicher.
„Wir wussten nicht, worauf wir uns einlassen“, erzählte Kioku. „Es ist schockierend, wie die Leute hier eingesperrt sind, richtig?“
Takeru nickte still. Die Vorstellung, in so einer kleinen Zelle sein ganzes Leben zu verbringen, machte ihn sehr traurig.
Nach kurzer Zeit und zwei weiteren Gängen waren alle Zellen geleert. Die Personen, die darin gefangen waren, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Darunter waren Kinder, Jugendliche, Erwachsene und auch ältere Personen, Frauen wie Männer von allen Ecken des Kontinents. Auf einmal blieb die Masse an Menschen stehen. Alayna drängelte sich an den Leuten vorbei zurück zu Takeru und Kioku.
„Wir fahren mit dem Aufzug nach oben. Tsuru und Eimi möchten noch weitersuchen“, erklärte Alayna nervös. „Die Frau ist nicht dabei.“
„Die Frau aus dem Zug?“, hakte Takeru nach und Alayna nickte. Kioku fuhr sich enttäuscht durchs Haar.
„Wir müssen die Leute zurück in die Stadt bringen. Sie brauchen Hilfe“, erklärte sie und deutete Alayna, wieder nach vorne zu gehen.
Die Leute vor Takeru und Kioku wurden allmählich unruhiger. Kioku konnte nur erkennen, dass eine kleine Leuchte über der Aufzugtür aufblinkte und auf einmal die Tür aufging. Wie als entdeckte eine Herde Antilopen einen Löwen, brach plötzlich Panik aus und die Patienten drehten sich auf einen Schlag um und drängten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Einige von ihnen schrien auf. Takeru und Kioku, die beide nicht verstanden, was gerade passierte, versuchten Eimi irgendwie ein Zeichen zu geben.
„Was ist passiert?!“, wunderte sich Takeru.
„Ich habe keine Ahnung“, sprachen Suna und Kioku wie aus einem Mund. Einige der Patienten drängten sich schon an beiden vorbei. Jedoch war es so eng, dass sie keinen Widerstand leisten konnten und auch mit in die Richtung liefen. Sie hörten dabei nicht auf, nach Eimi und Alayna zu rufen, aber durch das Gedränge erhielten sie keine Antwort. Sie stürmten alle in die letzten Zellen des Ganges. Als Suna, Takeru und Kioku zurück in Sunas Zelle gehen wollten, hielten sie überrascht inne, als plötzlich ein junger Mann mit rosa Haaren vor ihnen stand.

Gerade, als sich Pecos die Unterlagen über Tsuru unter die Weste steckte und Ryoma und Yuu noch einige Sachen einpackten, hörten sie plötzlich einen unangemessenen Applaus.
„Also für Gesetzeshüter klaut ihr hier aber ganz schön viel“, sprach eine Stimme aus einer dunklen Ecke des Raumes. Zwischen zwei Regalen hatte sich langsam eine versteckte Tür geöffnet und ein blonder Mann trat herein, der einen langen weißen Mantel trug. Er zog sich langsam Gummihandschuhe von den Fingern und warf sie achtlos in die Ecke.
Es dauerte einen Wimpernschlag, da zog Ryoma sein Schwert, Yuu spannte seinen Bogen und Pecos und Niku zogen ihre Revolver. Khamal stand regungslos neben einem schwach beleuchteten Tisch. Kurz nachdem der Mann den beleuchteten Teil des Raumes betrat, folgte ihm aus der Tür eine schlanke Frau mit violetten Haaren, die ebenfalls Gummihandschuhe trug.
„Es scheint, als hättet ihr mich gerade bei einer wichtigen Operation gestört“, sprach der Mann und deutete seiner Begleiterin, dass sie die Tür verschließen sollte.
Pecos zeigte mit dem Lauf seines Revolvers direkt auf den Mann. „Vaidyam, endlich kann ich mit dir abrechnen. Schön, dass du uns direkt in die Arme läufst. Mein Team hat das Gebäude schon infiltriert. Ich rate dir, dich einfach zu ergeben.“
„Du schlägst vor, dass ich all diese armen Seelen hier zurücklassen soll? Und wer kümmert sich dann um die Heilung dieser besonderen Menschen? Sie brauchen Hilfe“, erklärte er und setzte dabei ein überhebliches Lächeln auf. „Ich bin der beste Arzt weit und breit und werde diese Menschen unsterblich werden lassen.“ Er ging einen Schritt auf Pecos zu.
Pecos entsicherte den Revolver und starrte ihn böse an. „Ich warne dich. Ergib dich, sonst schieße ich!“
Ryoma ging einen Schritt nach vorn, doch Pecos deutete ihm, dass er da stehen bleiben sollte, wo er war.
Vaidyam hielt sich aber nicht auf, fuhr sich einmal durch die Haare und ging einen weiteren Schritt.
„Wie du willst!“, schrie Pecos und drückte ab. In dieser Sekunde erhellte ein Lichtblitz das Archiv.

Die Türen öffneten sich und heraus traten die zwei Muskelprotze, die bereits bei der Entführung an Vaidyams Seite gekämpft hatten.
„Geht zurück!“, forderte Eimi und nickte Alayna zu. Alayna drängte die Patienten zurück dahin, wo sie hergekommen waren.
„Schnell, zurück in die Zellen“, wiederholte sie und achtete darauf, dass niemand stehen blieb.
„Schau mal, wen wir da haben, Vodvar“, sprach der eine Muskelprotz zum anderen und ließ dabei seinen Kopf kreisen, dabei knackten die Gelenke.
„Das wird lustig, Palar“, antwortete der andere.
„Zeit für die Abrechnung!“, rief Eimi und zückte sein Schwert. Er fühlte sich zuversichtlich, dass er diesmal länger kämpfen konnte. Tsuru ging in Kampfposition und trat gleich kräftig zu. Vodvar hielt dabei ihren Fuß fest und Eimi sah das als Chance, mit seinem Schwert einmal kräftig auf seinen Unterarm zu schlagen. Der Aufprall war so hart, dass Eimis Hände zitterten. Vodvar ließ Tsuru los, die sich nach hinten abrollte. Palar holte zum Faustschlag aus, den Eimi schnell abblockte.
Tsuru nickte Eimi zu und deutete dabei auf einen anderen Gang. Eimi verstand. Sie wichen etwas zurück, sodass Vodvar und Palar aus dem Aufzug heraustraten. Dies sahen sie als Chance, mit mehreren kurzen Angriffen die Schläger in den Gang zu drängen, der wohl in einen anderen Abschnitt der Ebene führte.
Als Alayna dies erkannte, pfiff sie die Leute wieder zurück zu sich, um mit dem Aufzug zu fliehen.

Der rosahaarige Mann kam Takeru und Kioku sehr bekannt vor.
„Oh, hier seid ihr also, das ist ja interessant“, sprach er und schob sich sein schwarzes Stirnband zurecht.
Takeru und Kioku sahen sich beide fragend an und wussten nicht genau, wie sie reagieren sollten.
„Ihr kennt diesen Typen? Ist das einer von euch?“, erkundigte sich Suna, der die Situation genau so wenig verstand wie die beiden.
„Wie bist du hier runtergekommen?“, fragte Takeru vorsichtig.
„Genauso wie ihr, würde ich sagen? Hübschen Plüschbären habt ihr da oben, sehr interessant“, antwortete der junge Mann.
„Hast du Kûosa irgendetwas getan?“, hakte Kioku nach. Sie machte sich Sorgen um Tsurus Freund.
„Nein, er war eigentlich ganz lieb zu mir“, grinste der Mann. „Also, ihr habt das Labor gefunden. Danach habe ich schon so lange gesucht. Danke für eure Hilfe, Narbe und Tagebuch-Tak.“
Jetzt waren die Freunde gänzlich verwirrt. Kioku beschlich das merkwürdige Gefühl, dass sie diesen Mann schon irgendwo gesehen haben musste.
„Woher weißt du vom Tagebuch?“, murmelte Tak. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, als er sich an einen kleinen Jungen erinnerte, der genauso aussah wie dieser Mann. „Dir hat Ea davon erzählt? Bist du sein Bruder?“
„Bruder? Was meinst du mit Bruder?“, wunderte sich der Mann und sah an sich herab, als würde er ein kleines Kind neben sich suchen. „Das war ich. Hast du das Tagebuch endlich zurückbringen können?“
„Wie, das bist du? Du bist ein erwachsener Mann!“, protestierte Takeru, der sich das alles nicht erklären konnte.
„Leute!“, meldete sich Suna wieder zu Wort, nachdem er kurz in den Gang hinausgeblickt hatte, um die Lage zu checken. „Der Gang ist wieder frei!“
„Wir sollten los“, sprach eine junge Frau, die ebenfalls Patientin war.
„Auf in die Freiheit“, sprach ein kleiner, alter Mann, der eine Glatze und einen weißen Vollbart hatte.
Kioku sah Takeru an. „Wir sollten wirklich fliehen. Die Patienten müssen zurück in die Stadt gebracht werden.“
Takeru deutete ein „aber“ an, jedoch wurde er von Suna unterbrochen. „Los, jetzt ist die Gelegenheit!“
Also gingen sie mit den Patienten zurück, sahen dabei Alayna am Aufzug, die immer mehr Leute hineinlotste. Der junge Mann, wer auch immer er sein mochte, lugte zunächst in den Gang, sah sich ausgiebig um und stapfte den anderen gemütlich hinterher.
„Deinen Kompass wirst du aber auch zurückgeben müssen“, sprach er so vor sich hin, ohne zu erwarten, dass jemand darauf reagierte.

Als der Lichtblitz nachließ, spürte Pecos einen heftigen Tritt in seine Magengegend. Dabei taumelte er rückwärts und stürzte über einen Tisch hinter ihm. Ryoma rieb sich die Augen. „Was für ein fieser Trick!“
Als Pecos wieder klar sehen konnte, sah er, dass Khamal neben Vaidyam stand. Seine Fingerspitzen leuchteten.
„Was hat das zu bedeuten!?“, brüllte Pecos, der sehr wütend wurde.
„Aber nicht alle sind loyal dir gegenüber“, erklärte Vaidyam und verschränkte verachtend die Arme und lachte laut los.
„Mistkerl!“, schrie Pecos. Er und Niku zielten mit ihren Revolvern wieder auf Vaidyam. Als sie schossen, formte Khamal in der Luft einen siebenzackigen Stern und die Kugeln wurden von einer kurz aufleuchtenden Barriere blockiert.
„Ich fass es nicht! Warum, Khamal!?“, brüllte Pecos und steckte seine Waffe weg. Es hatte wohl mehr Sinn, mit Fäusten zu kämpfen. Yuu und Niku steckten ebenfalls ihre Waffen weg und machten sich für einen Faustkampf bereit.
Khamal jedoch starrte nur Pecos an. Sein Gesichtsausdruck verriet keine Emotionen.
„Gib doch eine Antwort!“ Pecos rannte auf ihn zu und versuchte ihn mit seiner Faust zu treffen, jedoch erhellte dann ein weiterer Lichtblitz den Raum.
„Das sind nur Kopien unserer Forschung, Andme. Zerstöre sie, die Originale sind sicher. Danach ziehen wir um. Gib den anderen das Signal“, hörten sie Vaidyam sprechen. Als das Licht nachließ, waren die drei verschwunden.
„Verdammt!“, brüllte Pecos. Ryoma legte eine Hand auf seine Schulter.
„Wir müssen hier raus um Tresna und Borroka zu warnen, dass Khamal ein Verräter ist“, schlug Yuu vor.
„Wenn wir schneller das Gebäude als die verlassen, können wir das Lager umstellen und sie können nicht mehr flüchten“, schlug Niku vor, der sich eine neue Zigarette in den Mund steckte. Doch bevor er sie sich anzünden konnte, rümpfte er die Nase. „Feuer.“
Sie sahen sich um und aus allen Ecken des Raumes züngelten plötzlich hohe Flammen zwischen den Regalen hervor.
„Jetzt zerstören sie auch noch die ganze Forschung“, erkannte Yuu.
„Kein Problem“, meinte Ryoma, der sein Schwert immer noch in den Händen hielt. „Ich kümmere mich darum, geht ihr schon einmal vor.“

Eimi und Tsuru schafften es ihre Gegner in einen großen Lagerraum zu drängen. In Regalen aus Metall waren viele verschiedene Geräte, Medikamente und Kisten geräumt, die im Labor sicherlich für so einige Experimente verwendet wurden.
Flink wie sie waren, konnten die beiden einigen Angriffen gekonnt ausweichen. Jedoch packte Palar Eimis Bein, als dieser an ihm vorbei huschte und riss ihn zu Boden. Tsuru reagierte darauf, indem sie hochsprang, sich an einem Leitungsrohr an der Decke festhielt um ihn mit beiden Beinen ins Gesicht zu treten. Dabei sprang sie von seinem Gesicht ab, drehte sich einmal in der Luft und landete dann neben Palar, dem sie einen heftigen Schlag in die Seite verpasste. Palar taumelte für einen kurzen Moment, sodass sich Eimi befreien konnte, der jedoch von Vodvar einen kräftigen Hieb abbekam. Eimi wurde gegen ein Regal geschleudert. Aufgrund des Aufpralls fielen einige Gegenstände zu Boden und Gefäße aus Glas und Keramik zersprangen darauf. Ein beißender Geruch nach Alkohol und anderen Chemikalien verbreitete sich im Lager.
Palar fasste sich wieder und trat einmal kräftig zu. Tsuru konnte diesen Angriff nicht abblocken und rutschte in den Haufen von umgestürzten Sachen. Dabei schnitt sie sich an einigen Splittern den Unterarm auf. Blut sickerte durch mehrere Stichwunden heraus. Sie hielt sich den Arm fest, um nicht zu viel Blut zu verlieren.
Als Eimi sich nach ihr umdrehte, packte Palar ihn am Kopf und hob ihn hoch. Eimi hielt sich am Arm Palars fest. Die Schmerzen waren enorm.

Der dritte Aufzug fuhr nach oben. Es waren nicht mehr viele Patienten da. Alayna erklärte jedem, dass sie oben außerhalb des Lagers warten sollten, da wäre jemand, der sie beschützte. Kioku und Tak erkundigten sich bei ihr, ob alles in Ordnung wäre und sie nickte.
Die drei stellten sich zusammen mit Suna und einer Handvoll weiterer Patienten in den Aufzug, als der junge Mann mit rosa Haaren am Aufzug vorbeilief. Die Türen schlossen sich langsam.
„Wer war das!?“, wollte Alayna wissen, die kurz davor war, wieder hinaus zu springen, doch die Türen waren schon geschlossen.
„Wie es scheint, möchte er nicht mit“, erklärte Kioku.
„Wir wissen es auch nicht“, murmelte Takeru. „Er hat behauptet, er sei Ea.“
„Wer ist Ea?“, hakte Alayna nach. „Das war ein Mann? Er sah aus wie eine Frau, die ich im Zug getroffen habe.“
„Eine Frau? Er hat mir versucht zu erklären, dass er das kleine Kind war, das ich am Anfang unserer Reise getroffen habe.“
„Eine Frau!“, fiel es Kioku plötzlich ein. „Als ich mich in Hakata verlaufen hatte, traf ich eine alte Frau, die genauso aussah. Daher kommt er mir so bekannt vor!“
„Aber wie kann es sein, dass so viele aussehen wie er?“, wunderte sich Takeru.
Der Aufzug fuhr nach oben. Im Erdgeschoss angekommen, sahen die Freunde die Patienten in einer Ecke des fast leeren Lagers kauern. Vor ihnen stand ein großer Mann. Sein rechtes Auge war mit einem Verband verdeckt. Außerdem trug er etliche Waffen an seinem Körper. Neben ihm stand Racun, der Mann mit Brille, der die Frau im Zug betäubt hatte. Vor ihnen lagen ein kleinerer bewusstloser Mann und ein Rucksack.

Eimi versuchte sich mit aller Kraft vom Griff Palars zu befreien. Er strampelte mit den Beinen und versuchte ihn zu treten, schaffte es aber nicht. Tsuru wollte ihm zu Hilfe eilen, wurde von Vodvar aber niedergerissen und fiel wieder zu Boden.
„Mir reicht es!“, brüllte sie mit voller Kraft und streckte ihre Hand aus. Auf der Suche nach etwas Hilfreichem ertastete sie wieder Glassplitter und eine verbeulte Blechschüssel, in der vorher wohl einige medizinische Instrumente gelegen hatten. Sie konzentrierte sich und mit einem hellen Lichtblitz fusionierte sie die Sachen, die sie berühren konnte, zu einer Waffe. Vielmehr war es ein kleiner Schild, der mit verschiedenen gläsernen kegelförmigen Zacken bestückt war. Vodvar packte sie am Bein und zog sie zu sich, um ihr einen Schlag mit der Faust zu verpassen. Tsuru hielt schützend den Schild vor sich, sodass beim Aufprall der Faust zunächst Blut durch die Luft spritzte. Vodvar war für einen kurzen Moment abgelenkt und so rutschte sie zwischen seinen Beinen hindurch und stand hinter ihm auf.
Als sie sich aufrichtete, stand Ea vor ihr.
„Mach das nochmal!“, jubelte er, doch Tsuru erschreckte sich so sehr, dass sie einige Schritte zurücktaumelte und ihr Schild fallen ließ. Dabei stolperte sie über Vodvar, der sie dann in den Schwitzkasten nahm.
„Aber, aber, meine Herren. Diese Dame kann Dinge fusionieren, habt ihr das gerade nicht gesehen?“, erklärte er und sah sich die Lage etwas genauer an. Eimi konnte sich immer noch nicht aus Palars Griff befreien und schien so, als würde er stetig an Kraft verlieren. Tsuru, die sich nicht traute, sich mithilfe ihrer Fusionsfähigkeiten zu befreien, wurde von Vodvar festgehalten. Die beiden Muskelprotze interessierten sich aber wohl nicht für das, was Ea von sich gab.
„Hilf uns“, keuchte Tsuru leise, die kaum Luft mehr bekam.
„Ja, das sollte ich“, grinste Ea und entdeckte zwischen Palars Füßen ein Schwert. „Das gibt es nicht! Wie viel von unserem Zeug habt ihr denn noch!?“
Ea kam näher und wollte das Schwert aufheben, jedoch holte Palar zu einem Schlag aus. Allerdings konnte Ea sich schnell genug ducken und unter Palar hindurchrutschen. Hinter ihm stand Ea wieder auf und hielt das Schwert in seiner Hand.
„Das ist verdammt noch einmal meins“, meckerte er, als wäre Eimi ein kleines Kind, das mit Erwachsenensachen spielte. „Das ist meins!“
Eas gespielt grimmiger Ausdruck änderte sich schnell, als er vorsichtig mit seinen Fingern über die Scheide strich. Er hielt den Griff und zog es mit Leichtigkeit aus der Scheide. Ea schwang das Schwert, was Eimi schockierte, da dieser Typ das Schwert einfach so benutzen konnte. Überraschender war jedoch, dass statt einer Klinge plötzlich grelle Blitze aus dem Griff schossen und über den Boden huschten und nicht nur Vodvar und Palar trafen, sondern auch einige Kisten und Eimer im Raum, die daraufhin Feuer fingen. Vom Angriff geschwächt, ließen sie Eimi und Tsuru los, die leider ebenfalls etwas vom Angriff abbekamen und angeschlagen auf die Knie gingen.
Die Blitze, die aus dem Schwert krochen, veränderten sich von dem einen auf den anderen Augenblick in eine große Steinkeule. Ea schwang die Keule und traf erst Palar und dann Vodvar, die daraufhin bewusstlos zu Boden fielen.
„Was zur Hölle bist du?“, murmelte Eimi, der sich seine schmerzende Schulter hielt.

„Das war’s, Kinder“, sprach Racun und zeigte dabei auf die Patienten. „Ich würde sagen, wir schicken die Patienten zurück in ihre Zellen und euch gleich mit dazu.“
Erschrocken standen Takeru, Kioku, Alayna und Suna vor den beiden Männern. Ihr Plan war gerade dabei zu scheitern.
„Weil ihr aber jetzt über so einiges Bescheid wisst, können wir euch aber trotzdem nicht am Leben lassen“, änderte Racun plötzlich seine Meinung. Dann berührte er Borroka, der daraufhin zwei große Messer aus seinem Gürtel zog. „Mein Partner Borroka hier wird euch nur ein wenig wehtun.“
„Das schafft ihr niemals!“, schrie Takeru und ballte seine Hände zu Fäusten. „All diese Leute hier haben ein Recht darauf, ein normales, freies Leben zu haben! Ihr habt sie lange genug eingesperrt und Experimente an ihnen ausgeführt!“
„Pecos‘ Gruppe müsste doch jeden Moment auftauchen, richtig?“, flüsterte Alayna Kioku zu.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie leise und deutete auf Borroka und den Mann, der auf dem Boden lag. „Siehst du ihre Abzeichen? Die gehören zu seiner Gruppe.“
„Wie kann das sein?“, wunderte sich Alayna, die anfing sich verzweifelt umzuschauen. „Wo ist Pecos?“
„Vielleicht ist es ein Hinterhalt oder so etwas. Es fühlt sich merkwürdig an.“ Kioku zückte ihr Band und machte sich bereit für den Kampf. „Du musst mit den Patienten fliehen. Ich versuche, die beiden abzulenken.“
„Siehst du nicht, wie bewaffnet dieser Typ ist?“, mischte sich Takeru ein. „Lass mich helfen!“
„Vergiss es!“, entgegnete Kioku. Doch bevor sie oder Takeru sich entscheiden konnten, rannte Borroka schon auf sie zu. Jedoch war der erste, der etwas unternahm, Suna, der auf einmal schrie, als hätte er unsägliche Schmerzen. Er fiel auf die Knie und Tak erkannte, dass aus seinen Schultern kleine goldene Bläschen austraten.
„Ich lasse das nicht zu, dass ihr sie verletzt!“, schrie Suna und stand auf. Dabei warf er seine Arme so nach vorn, dass die Bläschen von seiner Haut geschleudert wurden, die in der Luft anfingen sich zu mehreren Goldklumpfen zu verfestigen. Einige trafen Borroka, der jedoch durch seine Schutzausrüstung von diesem schwachen Angriff locker geschützt war.
„Wir müssen weg!“, rief Alayna und rannte am Rand des Raumes entlang, um die Patienten aufzuscheuchen, die aber ängstlich auf dem Boden verharrten. Kioku verstärkte ihr Band und warf sich zwischen Borroka und Suna, um den Angriff mit den Messern abzuwehren. Dabei konnte sie Suna beschützen, wurde aber an der rechten Schulter von einem Messer getroffen. Blut lief aus ihrer Wunde. Takeru zerrte an Sunas Kittel und riss ihn mit sich, um in Richtung Ausgang zu fliehen. Er wollte zwar helfen, jedoch konnte er es nicht zulassen, dass auch nur einem dieser Patienten noch irgendetwas zustieß.
In aller Ruhe zog sich Racun, der dies alles eher still beobachtete, einen Handschuh an, dessen Fingerspitzen spitz geschliffene Metallkuppen waren. Die Spitzen sahen aus wie dicke Nadeln. Er öffnete seine Jacke und piekte vorsichtig mit jedem Finger der Hand in diverse Fläschchen, die sicherlich irgendwelche gefährlichen Chemikalien enthielten.
Takeru und Suna, dem einige kleine Goldklumpen von der Haut fielen, rannten links herum in Richtung Ausgang. Alayna stand rechts an einer Ecke und versuchte, einige der Patienten mit sich zu zerren. Einige von ihnen sahen sich unsicher an. Es schien, als glaubten sie nicht daran, fliehen zu können.
Takeru hatte schon fast das Tor erreicht, als Borroka mit einer Hand einen Schlagstock von seinem hinteren Rücken nahm und ihn so zwischen Takerus Beine warf, dass er und Suna stürzten. Währenddessen packte Racun Alayna an der Jacke und stieß sie weg.
„Hiermit werdet ihr erst einmal eine Weile schlafen“, erklärte Racun und wollte mit seiner linken Hand zustechen. Jedoch überwältigte Alayna ihn wieder und beide fielen zu Boden.
Kioku richtete sich auf und wollte Borroka einen Tritt verpassen, aber dieser wich gekonnt aus und stach mit seinem Messer zu. Diesmal traf er ihren linken Oberschenkel und Kioku taumelte zurück.
Ein plötzlicher Knall und ein kurzes Beben erschütterten das Gebäude.
„Da ist etwas passiert!“, rief Takeru. „Wir müssen zurück zu Eimi! Er braucht sicher Hilfe!“
„Und die Gefangen!?“, antwortete Kioku. „Wir können sie nicht alleine lassen!“
„Das ist viel zu viel!“, zweifelte Alayna, der mittlerweile Tränen über das Gesicht liefen.
Takeru spürte um sich herum nochmal ein Beben, diesmal fühlte es ich jedoch anders an. Vor seinen Augen wurde die metallene Tür des Gebäudes hinweggerissen und das fahle Mondlicht warf Kûosas Schatten in das Gebäude. Der Hasenbär stürmte hinein, checkte kurz die Lage und warf sich dann in den Kampf.
Eine weitere Erschütterung, die der ersten glich, jedoch viel stärker war, riss nun einige Gegenstände von Tischen und Wänden. Das Beben war so stark, dass alle kurz innehielten. Was passierte dort unten gerade?


Kapitel 30 – Zu viele Geheimnisse

„Seit wann ist so etwas möglich?“, murmelte Pecos wiederholend vor sich hin. „Ist die Wissenschaft schon so weit?“
„Es wundert mich nicht, dass dies möglich ist, da diese Organisation ihre Errungenschaften über Jahrhunderte hinweg geheim gehalten hat. Sie haben auf so viele Arten und Weisen die Entwicklung des Planeten gebremst“, erklärte Niku und zündete sich an den letzten Flammen des brennenden Feuers seine Zigarette an. Kurz darauf schwang Ryoma sein Schwert darüber und auch dieses Feuer war gelöscht. Der Raum war nun nicht mehr in Brand.
„Möchtest du damit sagen, dass die Welt mit der Technik des Klonens sich positiv entwickeln wird? Ich sehe das anders“, wandte Yuu ein, der erfolglos die Wände nach einem Geheimgang abklopfte.
„Nun ja, du musst bedenken, welchen Effekt dies auf den Hunger in der Welt haben könnte“, antwortete Niku darauf. Er ging an die Tür um zu sehen, ob man sie öffnen konnte. Doch sie war von außen verschlossen worden. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und stieß dicken Rauch aus seinen Nasenlöchern wieder aus.
„Ich werde ihr das nie erklären können“, seufzte Pecos matt und ließ sich auf einen Stuhl am Tisch nieder. „Sie ist ein Klon.“
„Bevor du überhaupt in Erwägung ziehen kannst, ihr das irgendwie zu erklären, müssen wir zunächst einmal hier raus“, sprach Yuu, während er in die Überwachungskamera in der Ecke des Raumes winkte. „Tresna? Kannst du uns sehen? Hilf uns doch bitte und mach die Tür auf!“
„Wir werden einen Weg finden“, versuchte Ryoma Pecos zu beruhigen und legte ihm dabei eine Hand auf die Schulter. „Ich würde mir das aber noch einmal ganz genau überlegen, ob du ihr damit wirklich etwas Gutes tust.“
Yuu kam an den Tisch zurück und winkte Niku ebenfalls zu sich.
„Ich finde keinen Schalter für den Geheimgang und Tresna reagiert auch nicht. Ich glaube, wir müssen die Tür aufbrechen“, erklärte Yuu.
„Bleibt uns wohl keine andere Wahl“, stimmte Niku zu und nahm noch einmal einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
„Lasst uns gehen; den Ort können eure Einsatzkräfte später noch einmal von oben nach unten auf den Kopf stellen“, schlug Ryoma vor. Er sah dabei Pecos an, der aber erst für eine Weile lethargisch ins Nichts starrte, bevor er reagierte.

Wie ein irrer hämmerte Ea mit seinem Schwert, das mittlerweile einer großen Spitzhacke ähnelte, auf den Boden ein. Brocken von Beton schossen durch die Luft. Es klirrte jedes Mal, wenn einer dieser Brocken gegen Fässer oder die metallenen Regale prallte. Tsuru hatte mittlerweile einen Verband aus dem Regal gekramt und ihre Wunden verbunden. Eimi zerrte Vodvar und Palar an den Eingang des Raumes. Die Flammen wurden immer stärker.
„Da unten wird’s was Interessantes geben“, meinte Ea, als er ein Loch durch den Boden schlug, welches gerade so groß war, dass eine Person hineinpasste. Tsuru und Eimi sahen sich verwundert an. Es war den beiden genug gewesen, gerade gegen die Schläger kämpfen zu müssen, da hatte sich dieser junge Mann mit pinken Haaren eingemischt und redete seitdem merkwürdige Sachen vor sich her.
„Ich weiß, wir können sie nicht allein lassen. Wir müssen sie Pecos‘ Gruppe überführen“, erklärte Eimi und zog die Fesseln um die Hände der beiden ohnmächtigen Helfer fester. „Aber wir müssen noch die Frau finden. Sie war nicht in den Zellen. Sie ist hier irgendwo, ich weiß es!“
Tsuru sah sich zögernd erst die gefesselten Schläger an und danach das Loch, in das Ea gerade hineinspringen wollte.
„Kommt ihr mit?“, fragte er und sprang in das Loch, ohne auf eine Antwort zu warten. Sollten sie nun die beiden vor dem Feuer retten oder nach einer Frau suchen, die vielleicht noch im Gebäude war? Sie wusste auf beide Optionen keine richtige Antwort, jedoch wusste Tsuru, dass sie noch herausfinden wollte, was sie selbst mit dem Labor zu tun hatte.
„Wir lassen sie hier“, war ihr Vorschlag und löste dabei die Fesseln wieder. „Wenn sie aufwachen, können sie selbst fliehen. Lass uns nach dieser Frau suchen.“
Eimi wirkte, als hätte er gerade die gleichen Optionen verglichen und nickte nur. Sie mussten sich beide beeilen, sonst würde sich das Feuer noch mehr ausbreiten. Also hüpfte erst Tsuru und dann Eimi in das Loch. Kurz danach öffnete sich die Tür zu dem Lager. Hol und Nal, zwei Männer aus Pecos‘ Gruppe, traten hinein und waren überrascht, dass sie zunächst die bewusstlosen Helfer Vaidyams und dann auch noch einen brennenden Raum vor sich fanden. „Diese Kinder verändern die ganze Mission“, sagte Nal kühl und überprüfte, ob Vodvar und Palar noch am Leben waren. Hol, der Mann mit dem feinen Schnurrbart, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und nickte nur. „Scheint so, als hätte sich das Blatt gewendet. Mal sehen, zu welchen Überraschungen sie noch fähig sind“, erkannte er. Zusammen mit Nal zerrten sie die Schläger aus dem brennenden Raum heraus.

Unten angekommen, befanden sich Eimi und Tsuru in einem weiteren Labortrakt. Sie waren in einem riesigen Raum, in dem sich viele zu Inseln zusammengestellte Schreibtische befanden, auf denen diverse medizinische Instrumente, Ordner und Unterlagen befanden. Auf der einen Seite des Raumes befanden sich etliche Schränke mit diversen kleinen Türchen und Schubladen. Sie waren sicherlich dafür da, Medikamente und medizinisches Werkzeug aufzubewahren. Folgte man den Schränken, kam man zu einem Bereich mit Betten, die durch Vorhänge verdeckt werden konnten. Gegenüber befand sich statt einer Ecke eine kreisförmige Einrundung im Raum, indem sich der Operationsbereich befand. Etliche große Maschinen waren in diesem Kreis aufgestellt.
„Du hast interessante Fähigkeiten“, sprach Ea, als die drei sich etwas umsahen.
„Wer bist du überhaupt?“, fragte Tsuru, die sich gerade ein paar Unterlagen auf den Schreibtischen ansah. Der Raum war verlassen.
„Ich bin Ea Noacks“, antwortete er kurz und spielte mit einer herumliegenden Spritze.
„Wie kannst du dieses Schwert benutzen?“, hakte Eimi nach. Er deutete Tsuru an, einen kleinen Sicherheitsabstand zu Ea zu halten, für den Fall der Fälle.
„Ganz einfach“, erklärte Ea und drehte sich dabei um, „es ist meines.“
Eimi wunderte es, dass Ea dieses Schwert einfach so benutzen konnte. Er ging davon aus, dass es ein antikes Artefakt war, welches seit Jahrhunderten nicht verwendet werden konnte. Oder lag es schlicht und einfach daran, dass Ea versteckte, starke Fähigkeiten hatte, die dieses Schwert aktivierten? Bevor er noch etwas fragen konnte, war Ea hinter einem der Vorhänge verschwunden.
„Ich traue ihm nicht“, flüsterte Eimi Tsuru zu. „Wir müssen vorsichtig sein. Wir kennen diesen Typen nicht. Außerdem werden Vodvar und Palar nicht die Einzigen gewesen sein, die sich hier verstecken. Lass uns schnell nach der Frau suchen und nach oben zu Alayna und den anderen fahren.“
„Sicher“, sprach Tsuru sehr leise, als hätte sie das, was Eimi gesagt hatte, gar nicht wahrgenommen. Ihr Blick richtete sich starr auf eine Tür, die sich neben dem Operationsbereich befand. Sie hob die Hand und winkte das gesagte von Eimi einfach weg. „Ich habe das Gefühl, dass ich kurz vor der Antwort stehe, wer ich bin.“
„Tsuru“, murmelte Eimi, der erschrocken war, dass sie ihn so ignorierte. Tsuru ging auf die Tür zu und legte ihre Hand auf den Türgriff. Sie schritt in einen grünlich beleuchteten Raum und Eimi folgte ihr ohne zu zögern. Ea lugte zwischen zwei Vorhängen hervor und entdeckte, was Eimi und Tsuru gerade taten. Neugierig ging er den beiden nach. Als sie jedoch erkannten, was sich in diesem neuen Raum befand, konnten sie nur mit offenem Mund starrend innehalten. Es war eine Halle, die mindestens zwei bis drei Stockwerke hoch war. Auf der linken Seite der Halle standen etliche Betten, die teilweise leer waren. In manchen davon schliefen noch schwangere Frauen. Über diesen Betten hingen merkwürdige Apparaturen, aus denen diverse Schläuche und Kabel herauskamen. Ein Teil davon war an die Frauen angebracht. Schockierender jedoch war die rechte Seite des Raumes. Hier standen viele große Glaszylinder, in der sich eine merkwürdige orangene Flüssigkeit befand. In manchen dieser Zylinder schwamm etwas, das erst auf den zweiten Blick als Menschen wahrzunehmen war. Auf etlichen der Befestigungen am Boden befanden sich keine Glaszylinder.
„Was zur Hölle ist das?“, stammelte Tsuru und hielt sich ihre zitternde Hand vor den Mund. Eimi sah sich um, er konnte nicht glauben, was sich in diesem Labor versteckte. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Als sein Blick durch die Halle schweifte, entdeckte er in einem der ersten Betten die Frau, die im Zug entführt worden war. Augenblicklich rannte er zu ihr, um zu schauen, wie es ihr ging. Er rief nach Tsuru, die einen kurzen Moment brauchte, um sich bewegen zu können.
„Schau dir das an“, murmelte er und zeigte auf die Frau. „Sie ist hochschwanger. Das kann nicht sein! Als wir sie im Zug getroffen haben, war sie dünn. Man kann doch nicht in ein paar Tagen so einen Bauch entwickeln?“
„Was ist das nur für ein schrecklicher Ort?“, meinte Tsuru und sah sich wieder die Glaszylinder an. Eimi nahm das Handgelenk der Frau. Die Geräte über ihr machten keine Geräusche. Mit seinen Fingern versuchte er, den Puls der Frau zu spüren. Als er nichts spürte, überprüfte er die Ader am Hals. Sie hatte keinen Puls und auch leichtes Schütteln weckte die Frau nicht auf. Er musste erkennen, dass die Frau nicht mehr am Leben war. Er rammte seine Faust in die Wand. „Sie ist tot“, stammelte er, „wir sind zu spät.“
„Was ist mit den anderen Frauen?“, wunderte sich Tsuru und sprintete los. Eimi folgte ihr und abwechselnd stellten sie fest, dass von den sieben Frauen, die hier lagen, alle schon verstorben waren. Vor Wut kniete er sich vor ein leeres Bett und trommelte wild mit seinen Händen darauf.
„Verdammt!“, schrie er mehrmals. Sein Echo hallte durch den Raum, dann war es für einen kurzen Moment still.
„Das ist es“, sprach auf einmal Ea, der hinter einem der Glaszylinder hervortrat. Er ging noch einmal prüfend darum herum und murmelte etwas vor sich hin, das weder Eimi noch Tsuru verstanden.
„Hier war ich für einige Zeit gefangen“, erklärte er, ohne auf die beiden zu achten. „Jetzt versteh ich endlich, was passiert ist.“
Tsuru, die tröstend eine Hand auf Eimis Schulter gelegt hatte, wurde auf Ea aufmerksam und ging auf ihn zu. Eimi hob seinen Kopf.
„Was meinst du damit, das verstanden zu haben?“, wollte Tsuru wissen. „Was hast du mit diesem Labor zu tun?“
Ea kicherte und stellte sich dabei auf eine der Befestigungen am Boden, in der sich kein Glaszylinder befand. Aus diesem schalenförmigen Podest kamen dünne und dicke Schläuche, die in der Wand dahinter verschwanden.
„Antworte!“, verlangte sie nun und wurde dabei lauter.
„Oh, entschuldige bitte, ich genieße gerade meine Freiheit. Freiheit ist etwas Süßes, nicht wahr? Man darf gehen, wohin man möchte und tun und lassen, was man möchte. Das ist definitiv etwas, was ich dem Gefangensein bevorzugen würde“, sprach Ea und sah sich noch einmal die Glaszylinder an, die sich rechts und links neben ihm befanden. Tsuru kam näher und wirkte nun richtig wütend.
„Beantworte meine Frage!“, forderte sie wiederholt und ballte dabei ihre Hände zu Fäusten.
„Schau doch“, fing Ea grinsend an und ging dabei in die Knie, „du brauchst nur eins und eins zusammenzählen. Diese Frauen, die dort liegen, sind tragische Opfer von brutalen Experimenten dieser Gesellschaft, die sich auserkoren fühlt, die Menschheit auf die nächste Ebene zu bringen. Diese Fleischklumpen, die in diesen Gläsern schwimmen, das sind ihre Kinder.“
Tsuru war verwirrt. Sie sah sich den Inhalt der Gläser noch einmal an. Es waren fleischfarbene, kleine unfertige Menschen. Eimi stand auf und sah sich abwechselnd die Behälter und die Frauen an.
„Nein, nicht was ihr denkt! Das sind nicht die Kinder dieser Frauen. Ich meine, dass diese Gesellschaft diese Kinder herstellt.“
„Was meinst du genau damit?“, hakte Tsuru wieder nach. Langsam zweifelte sie daran, ob sie überhaupt ein Mensch war.
„Sie nehmen diese Frauen gefangen, damit sie diese Wesen hier gebären können“, erzählte Ea. „Sie werden als Brutmaschinen für ihre Experimente missbraucht.“
„Woher weißt du das?“, wunderte sich Eimi, der sich nun wieder zu Wort meldete. „Tsuru, ich weiß wirklich nicht, was hier los ist, aber wir müssen so schnell es geht Pecos Bescheid geben, damit die Schutztruppe sich hier drum kümmern kann.“
Eimi konnte wieder klarere Gedanken fassen. Diese ganze Situation war so unglaublich merkwürdig, dass er so schnell wie möglich von hier verschwinden wollte. Tsuru erkannte, dass er zitterte. Sie selbst hatte Bauchkrämpfe beim Anblick dieses Raumes. Jedoch ging sie einen Schritt auf Eimi zu und packte ihn an den Schultern.
„Ich bin so kurz davor herauszufinden, wer ich bin“, sagte sie ihm und schaute ihm dabei tief in die Augen. Eimi sah, wie sie nun weinte. Sie drehte sich zurück zu Ea und zeigte mit dem Finger auf ihn.
„Es wird Zeit, dass du Klartext redest, sonst werde ich richtig sauer!“, forderte sie in einem energischen Ton. Als Ea grinste, stampfte sie ein paar Schritte auf ihn zu. Ea erschrak vor der Energie, die Tsuru plötzlich ausstrahlte und stand auf. Verteidigend hob er seine Hände und entschuldigte sich.
„Sorry, ich werde es jetzt klar machen“, sagte er und seufzte. „Ich wurde damals überwältigt und gefangen genommen. Mann, hatten die ein Glück. Bevor ich zu sinnen kam, sperrten sie mich in einen dieser Glaszylinder und versetzten meinen Körper mit Giften, sodass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Das konnten sie einige Zeit aufrechterhalten, bis sie genug Proben von meinem Körper nehmen konnten. Ich war stets bei vollem Bewusstsein, nicht so wie die anderen Menschen, mit denen sie experimentierten. Was genau sie mit diesen Proben machten, konnte ich nicht herausfinden. Jedoch bemerkte ich, wie diese Frauen benutzt wurden. So etwas wie ungeborene Menschen werden hier in diesen Gläsern gezüchtet und den Frauen eingesetzt, damit diese dann ‚normale‘ Kinder gebären konnten.“
„Wie kann man so etwas Schreckliches nur tun?“, warf Eimi schockiert ein.
„Warum taten sie das?“, fragte Tsuru. „Wie konntest du dich befreien?“
„Warum? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wollen sie so etwas wie Supermenschen herstellen, die ganz besondere Kräfte haben.“
„Ganz besondere Kräfte“, murmelte Tsuru und betrachtete dabei ihre Hände. „So jemand wie ich …“
„Das können wir nicht sagen“, widersprach Eimi und hielt sie dabei an den Armen fest.
„Aber es macht Sinn! Ich kann mir das richtig vorstellen“, fing Tsuru an zu erklären und weinte dabei. „Meine Eltern wurden für dieses Experiment ausgenutzt und stellten dann fest, wie schrecklich die Arbeit dieser Leute war. Sie nahmen mich und flüchteten. Deswegen waren die Shal auch hinter mir her. Sie wollten ihr gelungenes Experiment zurückhaben!“
„Es gibt doch auch Leute, die andere Fähigkeiten haben! Jumon hat es uns erklärt. Diese Kräfte sind etwas ganz Natürliches in jedem von uns Menschen“, wandte Eimi ein. Er wollte nicht glauben, dass Tsuru ebenfalls so etwas sein konnte, wie das, was in diesen Glaszylindern schwamm.
„Hast du auch jemals schon einen Menschen getroffen, der Dinge miteinander verschmelzen konnte?“
„Ich habe das“, unterbrach Ea die Unterhaltung. Hoffnungsvoll drehte sich Tsuru wieder zu Ea um. Mit einem fragenden Blick sah sie den rosahaarigen Mann an. „Mich“, sprach Ea und zeigte mit der einen Hand auf sich, während die andere den Griff des Schwertes in der Hand drehte. Kurz darauf verwandelte er seine Hand in Stein, rammte diese in die Wand und holte sich einen Brocken aus Beton und Kabeln heraus. Ein kurzes Leuchten erhellte den Raum, dann hielt er in seiner Hand einen merkwürdigen Stein, dessen Oberfläche wie Kunststoff glänzte. Tsuru stand schockiert da und konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Was hatte dies zu bedeuten?
„Was verdammt nochmal willst du eigentlich!?“, forderte Eimi zu wissen, der ebenfalls nicht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Bevor Ea antwortete, lachte er kurz auf.
„Ich suche etwas, was ich schon vor langer Zeit verloren habe. Außerdem dachte ich, dass ich diesen Laden, der mich sehr lange gefangen hielt, einfach in Schutt und Asche hauen kann.“
„Das kann ich nicht zulassen!“, entgegnete Eimi und ballte seine Fäuste. „Die Schutztruppe wird sich darum kümmern. Sie wird dafür sorgen, dass die Opfer dieses Labors beerdigt werden können und dass so etwas nie wieder passiert!“
Ea stampfte mit dem Fuß auf den Boden wie ein kleines Kind, das wütend war. „Aber ich habe mich so lange darauf gefreut! Seit über zwanzig Jahren war ich auf der Suche nach diesem beschissenen Labor!“
„Du bist aber nicht das einzige Opfer hier!“, brüllte Eimi und ging auf Ea zu. Sie waren ungefähr gleich groß. Eimi packte Ea am Kragen und hielt ihn fest. „Es gibt andere, die ebenfalls verstehen und trauern wollen!“
„Eimi“, sprach Tsuru leise und zerrte an seiner Kleidung. „Lass gut sein.“ Sie holte tief Luft und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Ich möchte mehr über dich Wissen, Ea. Du bist nicht mit mir verwandt?“ Ea sprach nicht. Er zeigte nur auf einen der Glaszylinder.

Währenddessen schaffte es Alayna gerade so, sich ihre Handschuhe anzuziehen, bevor Racun wieder angreifen konnte. Der Befreiungskampf am Eingang zum Labor war im vollen Gange. Mit seinen Nadel-Fingern versuchte er Alayna zu treffen. Doch diese wich immer wieder zurück. Mithilfe der Metallplatten auf dem Rücken der Handschuhe konnte sie mehrmals die spitzen Nadeln von sich wegschlagen. Es schien so, als würde ihr Gegenüber sich immer schneller bewegen.
„Tak, auf was wartest du!? Bring die Leute hier heraus!“, schrie sie ihrem Bruder zu. Takeru konnte gerade, da er sich im Rücken Kûosas befand, der zusammen mit Kioku gegen Borroka kämpfte, zu den Leuten in der Ecke rennen.
„Meine Schwester hat Recht, ihr müsst hier heraus! Ich kenne einen Ort, an dem ihr Hilfe bekommt“, überredete er die in der Ecke kauernden Menschen. „Vertraut mir.“
Suna, der nun hinter ihm stand, nickte bestätigend. Er nahm zwei ältere Damen an den Armen und führte sie hinaus. Takeru schickte immer einen nach dem anderen zur Tür.
„PASS AUF!“, riefen Alayna und Kioku gleichzeitig. Racun, der bemerkt hatte, was vor sich ging, hatte sich von Alayna abgewandt und wollte sich auf Takeru stürzen, damit er keine Geiseln mehr befreien konnte. Jedoch reagierte Kioku intuitiv und riss ihren rechten Arm nach vorne. Für einen Augenblick verlängerte sich ihr Band und wickelte sich um Racuns Bein, sodass er an Takeru vorbei auf den Boden fiel. Borroka nutzte diese Gelegenheit und rammte seinen Schlagstock in Kiokus Magengegend. Daraufhin fiel sie purzelnd zu Boden und stieß dabei gegen die Wand. Vor Schmerz krümmte sie sich. Kûosa versuchte Borroka daraufhin festzuhalten, jedoch konnte der muskulöse Mann Kûosa mit Leichtigkeit überwältigen und über seine Schulter werfen. Takeru schubste nun auch die letzten zwei Personen von sich weg und Suna führte sie aus der Halle.
„Unsere wertvollen Testobjekte!“, brüllte Racun und gab mit einem Kopfnicken Borroka ein Zeichen. Dieser wandte sich sogleich dem Ausgang zu. Bevor er sich aber bewegen konnte, klammerten sich Alayna und Takeru an seine Beine.
„Ich lass es nicht zu, dass ihr diesen Menschen noch irgendetwas antut!“, warnte Takeru und biss in Borrokas Unterschenkel, der ihn lediglich genervt abwimmelte, in dem er zutrat. Dies tat er dann auch mit Alayna und beide lagen nun vor Kioku, die sich allmählich wieder aufrichtete.
„Keine Bewegung!“, rief plötzlich eine sehr bekannte Stimme. Die Tür zum Aufzug öffnete sich und heraus traten Pecos, Ryoma, Niku und Yuu. Während Yuu seinen Bogen spannte und direkt auf Racun zielte, zeigten die Läufe der Revolver von Niku und Pecos auf Borroka. Ryoma stürmte zu den Freunden und half ihnen auf.
„Nicht du auch noch, Borroka“, sprach Pecos enttäuscht und ging einige Schritte in den Raum hinein, ohne dass er sein Ziel dabei aus den Augen verlor. „Und ich wundere mich noch, warum hier alles ins Chaos stürzt.“
Als Alayna sich auf ihren Bruder stützte, bemerkte sie, dass Pecos zitterte. Was war dort unten nur passiert?

 


Kapitel 31 – Gerettet werden

Für einen Moment waren alle Personen im Raum verstummt. Die Anspannung, die in der Luft wie ein merkwürdiges Knistern zu spüren war, brachte jede Person dazu, genau zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Suna hatte es längst geschafft, die anderen Patienten aus dem Gebäude zu bringen und sich im Wald zu verstecken. Alayna half ihrem Bruder sich aufzurichten. Sie beide sahen Kioku zweifelnd an. Konnten sie jetzt noch etwas ausrichten? Dann blickte sie wieder zu Pecos, der zitternd seinen Revolver auf Borroka gerichtet hatte. Der Mann, der das Abzeichen der Schutztruppe auf seiner Brust trug, hatte sich mit dem Feind verbündet. Yuus Pfeilspitze zeigte direkt auf Racun, dessen Gestik und Mimik pure Entschlossenheit und Siegeswillen zeigte. Ein Kopfschütteln von Ryoma verriet den Geschwistern, dass sie sich nicht vom Fleck rühren sollten.
„Bewegt ihr euch einen Zentimeter, eröffnen wir das Feuer“, sprach Pecos ruhig. Niku richtete seine Pistole nun auch auf Borroka und Yuu spannte seinen Bogen noch stärker. Von Ryomas Schwert sprangen ein paar Funken ab. „Im Namen der Schutztruppe seid ihr nun festgenommen.“
„Das glaubst auch nur du!“, antwortete Racun und lachte laut. Dabei ging er einen Schritt auf Borroka zu.
Gerade, als Alayna Ryoma wieder anschauen wollte, hörte sie ein leises Sirren in der Luft und kurz darauf ein Aufschreien. Yuu hatte seinen Pfeil genau in Racuns Schulter geschossen, der nun zwischen Schlüsselbein und Schultergelenk steckte. Schlaff ließ Racun seinen linken Arm hängen und schrie wie am Spieß. Borroka zückte daraufhin zwei Kurzschwerter und rannte geduckt auf Pecos‘ Gruppe zu. Pecos und Niku schossen beide ihre Waffen ab, schafften es aber nicht, ihren Gegner zu treffen, da dieser die Schussrichtung veränderte, indem er mit dem Schwert gegen die Hände der beiden schlug. Die Geschwindigkeit, die Borroka zeigte, war phänomenal. Ryoma schaffte es gerade so, sich zwischen Pecos und Niku zu stellen, sodass er einen Gegenangriff starten konnte. Ein metallenes Schlagen hallte durch den ganzen Raum, als Ryomas in Flammen gesetztes Schwert den starken Hieben Borrokas standhalten musste.
Gerade, als sich Kûosa wieder in den Kampf stürzen wollte, gab es eine weitere Erschütterung, die diesmal so stark war, dass Alayna, Takeru und Kioku zu Boden stürzten. Auch die anderen taumelten, sodass Racun die Situation nutzte, seine Flucht einzuleiten.
„Borroka!“, rief er, als er im Rahmen des Ausgangstores stand. „Vaidyam hat die Selbstzerstörung eingeleitet! Wir verschwinden.“
Borroka bückte sich zu Boden und trat Ryoma und Pecos so gegen die Beine, dass sie auf Niku und Yuu stießen und somit alle zu Boden fielen. Als sie sich wieder aufrichteten, waren ihre Feinde verschwunden.
„Das lasse ich nicht zu!“, schrie Pecos, der aufstand und den Zweien hinterherrannte. Yuu folgte ihm.
Eine weitere Erschütterung riss dieses Mal in der nördlichen Ecke des Raumes ein Loch in den Boden. Betonbrocken schossen durch die Luft. Kurz darauf stieß eine schwarze Rauchsäule gegen die Decke der Halle.
„Raus hier!“, befahl Niku und versuchte Kioku und Alayna zu helfen. Ryoma zerrte Takeru mit sich.
Dies geschah alles in so kurzer Zeit, dass Alayna erst außerhalb des Gebäudes so richtig realisierte, was eigentlich passierte. Sie zerrte an Nikus Hemd und deutete auf das Gebäude, aus dem nun mehrere Rauchsäulen stiegen. Eine weitere Erschütterung riss das Dach mit sich und Flammen barsten aus dem so entstandenen Loch.
„Eimi und Tsuru sind noch da drin!“, schrie sie und wollte in das Gebäude zurücklaufen, doch Niku hielt sie auf. Als Takeru das Gleiche versuchte, hielt Kûosa ihn fest.
„Wir können sie nicht da drin lassen!“, flehte Kioku Ryoma an. Dieser warf nur einen kurzen Blick zu Niku, der daraufhin nickte.
„Bleibt hier“, sprach Ryoma und rannte zurück in das Gebäude, welches auf einmal eine unglaubliche Hitze absonderte. Die Freunde sahen, dass nun auch ein weiterer Bereich Feuer fing.
„Was zur Hölle ist hier los!?“, schrie Alayna gegen das Feuer. „Warum ist diese Welt so kaputt!?“
Niku ließ sie los. Takeru war ebenso erschüttert wie seine Schwester, konnte aber nur auf die Rauchschwaden starren, die sich ihren Weg in den dunklen Himmel bahnten. Allmählich kamen die Patienten, angeführt von Suna aus dem Wald wieder zurück. Als sich Alayna zu Kioku wandte, konnte sie sich weiterhin nicht beherrschen. „Was ist das für eine Welt, in der Städte in Brand gesetzt werden, Menschen entführt werden und es so viel Leid gibt!?“
„Ich habe keine Ahnung“, sprach Kioku leise und legte eine Hand auf Alaynas Schulter.
Kurz darauf kamen Pecos und Yuu enttäuscht zurück. Sie hatten die Spur verloren.

Einige Momente zuvor herrschte Stille in dem Raum, in dem sich Eimi, Tsuru und Ea befanden. Diese Stille legte sich wie eine schwere Decke über alles, was sich in dieser Halle befand. Sie konnten und wollten für einen Moment nichts sagen, denn sie brauchten diesen Augenblick, um durchzuatmen. Ihnen musste klar werden, was das Ausmaß dieser geheimen Experimente für alle zu bedeuten hatte. Eimi sah Tsuru an, dass sie daran glaubte, endlich eine Antwort auf ihre Frage gefunden zu haben. Sie ging umher und fasste alles vorsichtig an, wie als gehörte dies zu einem Ritual für jemanden, der nach langer Zeit einmal wieder Sachen aus seiner Vergangenheit in der Hand hielt.
Kurz darauf gab es eine Erschütterung. Die medizinischen Werkzeuge auf den Tischen klirrten. Eimi drehte sich blitzschnell zu Ea und schrie ihn gereizt an: „Wir sagten, du sollst nichts kaputt machen!“
Unschuldig wie er war, riss Ea seine Hände nach oben und schüttelte den Kopf. „Das war ich nicht, ernsthaft!“
„Was war das?“, wunderte sich Tsuru und sah sich um. Eimi deutete auf eine unscheinbare Box am Ende des Raumes, die plötzlich leuchtend blinkte.
„Shht“, befahl er, indem er seinen Zeigefinger auf seine Lippen legte. Als wieder Ruhe eingekehrt war, konnten die drei ein schnelles Piepsen wahrnehmen, das immer schneller wurde.
„Das war gerade noch nicht zu hören“, sagte Eimi.
„Irgendwie …“ Doch bevor Tsuru ihren Satz zu Ende sprechen konnte, explodierte die Box und riss ein riesiges Loch in die Wand. Als die Feuerwand auf Eimi und Tsuru zukam, warfen sich beide schnell auf den Boden. Ea verwandelte seine Hände wieder in riesige Steinpranken und hielt sie sich schützend vor den Körper. Die Druckwelle warf einige Betten und Tische durch den Raum, die Glaszylinder zersplitterten und die dampfende Flüssigkeit verteilte sich im Raum. Glassplitter schossen wie Projektile umher und blieben teils in den Leichnamen der Frauen stecken. Rauch hing tief in der Halle, sodass man sich nur noch kriechend bewegen konnte. Irgendetwas traf Tsuru am Rücken und am Kopf, sodass aus den frischen Wunden Blut austrat.
„EIMI!“, rief sie mit aller Kraft und begab sich auf alle Viere. „Eimi, wo bist du!?“
Mit dem Rauch kam ein ätzender Gestank. Viele der Maschinen und Kabel waren angeschmort, die Flüssigkeit aus den Glaszylindern tat seinen Teil dazu.
„Da hatten sie wohl doch ein Ass im Ärmel“, sprach Ea, der sich krabbelnd zu Tsuru zubewegte. Um die beiden herum lag alles in Schutt und Asche.
„Eimi!“, wiederholte Tsuru, dann sah sie Ea mit einem entschlossenen Blick an. „Wir müssen ihn suchen!“
Ohne, dass er antwortete, krabbelten sie nun langsam an den Trümmern vorbei, um Eimi zu suchen. Ein stechender Schmerz fuhr Tsuru durch die Hand, als sie sich einmal auf einen sehr spitzen Glassplitter stützte und sich diesen in die Hand rammte. Vorsichtig zog sie ihn heraus und sogleich floss Blut über ihre Finger. Aber sie ignorierte den Schmerz.
Am Eingang des Raumes befand sich ein größerer Haufen Trümmer. Tsuru deutete Ea, dass sie sich links herum und er sich rechts herum bewegen sollte, um schneller nach Eimi zu suchen. Ea entdeckte kurz darauf zwischen zwei verbogenen Metalltischen einen Arm und zerrte daran. Als sich der Körper jedoch als Frau herausstellte, ließ er diesen einfach liegen.
„Hier!“, rief Tsuru und Ea krabbelte nun schneller. Sie entdeckte, dass zwischen einigen Trümmern Eimi eingeklemmt war. „Hilf mir, er ist bewusstlos“, befahl sie knapp.
Er lag zwischen einem Bett und einigen Betontrümmern. Sein Oberkörper lag schlaff in Flüssigkeit und ein Bein zeigte nach oben. Er musste bei der Explosion von einigen Trümmern mitgerissen worden sein.
„Pack dort an“, sagte sie und deutete auf das Ende des Bettes. Sie hingegen stemmte sich gegen etwas Beton. „Jetzt!“
Ea zog und sie drückte die Brocken beiseite und tatsächlich bewegten sich die Teile etwas, jedoch nicht stark genug, dass sie Eimi hätten hinausziehen können. Als sie noch mehr Kraft gaben, rutschte ein verbeulter Metallschrank auf Eimis Kopf zu. „Stopp!“
Erschöpft ließen die beiden wieder los. „Das geht so nicht, wir verletzen ihn sonst noch“, erklärte Tsuru und wischte sich den Schweiß und das Blut von der Stirn. Durch ihre Verletzungen verlor sie an Kraft und Gleichgewicht, was es erschwerte, Eimi zu helfen. Außerdem war es mit dem ganzen Rauch schwierig zu atmen. Außerdem wurde es immer heißer.
Als Ea gerade etwas sagen wollte, gab es eine weitere Erschütterung, wahrscheinlich in einem anderen Raum. „Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sprach er.
„Probieren wir es noch einmal, diesmal nur anders!“, erklärte sie und sah sich um. Dann entdeckte sie einen halben Lattenrost, den sie nun versuchte, unter die Betonteile zu klemmen. „Vielleicht werden die Trümmer so besser abgestützt. Und los!“
Doch auch beim zweiten Mal rutschten mehrere Teile gefährlich auf Eimis Körper zu. Es hatte keinen Zweck.
„Verdammt!“, brüllte sie und ballte ihre mittlerweile vor Dreck und Blut verschmutzten Hände. In diesem Augenblick kamen zwei Männer in den Raum, die Tsuru nicht genau zuordnen konnte, bis sie durch den Rauch näherkamen. Beide hatten sich mit etwas Stoff einen Mundschutz umgebunden, um den Rauch nicht direkt einatmen zu müssen. Erst fürchtete sie, dass Vodvar und Palar wieder aufgestanden waren. Glücklicherweise stellte sich heraus, dass die zwei Männer Nal Snathaid und Hol Gija waren, zwei Mitglieder von Pecos Einsatztruppe. Hol, der kleinere Mann mit grauen Haaren und einer Schnurrbart-Ziegenbart-Kombination sprach Tsuru zuerst an. „Alles gut bei euch? Was ist passiert?“
Tsuru hielt erst einen Schluchzer zurück, dann sagte sie: „Eimi ist hier eingeklemmt. Die Explosion hat den Raum verwüstet.“
„Keine Sorge“, sprach Hol ruhig und sah sich die Situation genauer an. Nal, der nur etwas größer war als Tsuru, zückte zwei Estoc, welche schmale mittellange Schwerter mit einer beidseitigen Klinge waren und rammte sie zwischen zwei der Betonbrocken hinein. „Du da“, sprach Hol wieder und deutete auf Ea, „du drückst diese Teile auseinander. Auf mein Zeichen.“ Dann wandte er sich wieder zu Tsuru und deutete ihr, Eimi herauszuziehen.
„Los!“
Ea drückte die besagten Teile auseinander, Nal hebelte etwas Freiraum mit seinen Waffen und Hol drückte ebenfalls einige Trümmer beiseite, sodass nichts auf Eimi hinabfallen konnte und genug Platz war, dass Tsuru ihn hinausziehen konnte. Sie hustete dabei, der Rauch brannte im Hals. Als Eimi befreit war, ließen die anderen die Trümmer los.
„Danke!“, bedankte sich Tsuru und beugte sich über Eimi. Sie versuchte ihn wachzurütteln.
„Lass mich mal“, meinte Nal und kniete sich zu Eimi. Dann holte er ein kleines Fläschchen aus seiner Brusttasche und tröpfelte eine klare Flüssigkeit in seinen offenen Mund. „Das ist ein kleiner Wachmacher.“ Vorsichtig verschloss er die Flasche und packte sie wieder ein.
Eine weitere starke Erschütterung paralysierte die Gruppe für einen kurzen Moment. „Wir müssen schnellstmöglich hier raus!“, befahl Hol und sah sich noch einmal um. Kurz darauf wurde Eimi wach, jedoch war er ziemlich schwach. „Nal, hilf ihm, dann müssen wir hier heraus.“
Nal stützte Eimi, der gar nicht wirklich mitzukriegen schien, was hier passierte. Die beiden und Ea, der Tsuru ebenfalls stützte, folgten Hol, der ihnen den Weg nach draußen zeigte.

Alayna und Kioku saßen erschöpft an einen Baum gelehnt. Einige Patienten saßen neben ihnen und machten dabei keinen gesunden Eindruck. Wenigstens half die Wärme des Feuers, das aus dem Gebäude züngelte, dass keiner frieren musste.
„Wenn wir noch lange warten müssen, wird es für einige hier ziemlich knapp“, sprach Suna zu Takeru und hustete dabei.
„Pecos hat gerade den mit den Pfeilen losgeschickt, ich hoffe, dass bald Hilfe kommt“, erklärte Takeru und sah sich nachdenklich um. „Wie gut kennst du die Menschen, die mit dir gefangen waren?“
„Gar nicht. Wir wurden strikt voneinander getrennt. Manchmal flüsterten wir durch die Gitterstäbe miteinander. Aber mir hat nie jemand wirklich geantwortet.“ Suna hielt sich dabei unsicher an den Oberarmen. „Sie waren so lange allein, dass sie nicht mehr wissen, wie es ist, mit anderen Menschen zu sein. Aber ich habe das nicht vergessen.“
Einige der Geflohenen saßen am Boden und wiegten sich hin und her. Andere wiederrum saßen da und starrten lethargisch auf das Feuer. Einige hatten solche körperlichen Beschwerden, dass sie sich ohne Hilfe nicht bewegen konnten. Andere wiederum husteten oder kratzten sich unentwegt. Takeru konnte sich gar nicht ausmalen, was ihnen alles in diesem Labor angetan worden war. Für einen kurzen Moment sprachen sie nichts. Suna und Takeru starrten beide ins Feuer und warteten darauf, dass Ryoma mit Eimi und Tsuru zurückkam. Dabei bekam er mit, dass sich Pecos und Niku unterhielten, die neben dem bewusstlosen Tresna standen.
„Es kann nicht sein, dass Borroka und Khamal übergelaufen sind. Haben sie die ganze Zeit über für das Labor gearbeitet?“, fragte sich Pecos.
„Die zwei haben auch während der ganzen Vorbereitungen und bei früheren Missionen nie den Anschein gemacht, als hätten sie dies vor“, erläuterte Niku und zündete sich eine Zigarette an. Nach seinem ersten Zug stieß er den Rauch aus seinen Nasenlöchern.
„Warum ausgerechnet jetzt, wo wir so lange nach dem Labor gesucht haben?“ Pecos sah sich um und betrachtete die Situation. „Was haben Borroka und Khamal mit dieser Organisation zu tun? Ich kenne die beiden schon seit Ewigkeiten und finde keine Antwort.“
„Du musst dir damit Zeit lassen“, bestärkte ihn Niku, der einen weiteren tiefen Zug von seiner Zigarette nahm. „Wenigstens wissen wir nun über die Arbeit Bescheid. Aus den Trümmern lassen sich sicherlich noch einige Sachen retten. Vielleicht finden wir weitere Hinweise, auch was die zwei Überläufer betrifft.“
„… und Tsuru“, vervollständigte Pecos. Takeru sah, wie er seine Hände zu Fäusten ballte.
„Ryoma wird nicht erfreut sein, diese Kinder hier zu sehen“, sprach Niku und starrte Takeru für einen Moment an. Er fühlte sich daraufhin erwischt, sodass er schnell seinen Kopf peinlich berührt wegdrehte.
In diesem Moment standen Alayna und Kioku auf.
„Ryoma!“, schrie Alayna und rannte Ryoma entgegen. Er zerrte zwei Personen aus dem Gebäude heraus. Sein Gesicht und seine Klamotten waren komplett verdreckt. Auch Pecos und Niku gingen auf Ryoma zu.
„Du hast es geschafft!“, hörte Takeru seine Schwester rufen und ging Ryoma auch entgegen. Aber als er die zwei Körper losließ und diese matt am Boden liegen blieben, wussten die Geschwister, dass etwas merkwürdig war. Ryoma ignorierte Pecos und Niku, die nun vor ihm standen und ging zwischen die beiden hindurch. Alayna blieb ebenfalls geschockt stehen, als sie im Licht des Feuers erkannte, dass am Boden Vodvar und Palar, die zwei Schläger von Vaidyams Truppe am Boden lagen und nicht, wie sie gehofft hatte, Eimi und Tsuru.
„Wo sind…“, stotterte Alayna, konnte jedoch nicht aussprechen. Ryoma packte Takeru am Kragen und zerrte ihn neben Alayna. Dann hielt er beide an jeweils einem Arm fest. Die Geschwister hatten Ryoma noch nie so erzürnt gesehen, wie in diesem Moment.
„Was fällt euch ein!?“, brüllte er in einer Lautstärke, welche die beiden erzittern ließen. „Wie dumm kann man sein, in einen so gefährlichen Ort einzubrechen!?“
Ryoma ließ die beiden los und wandte sich kurz von ihnen ab. Kioku stellte sich beschützend hinter ihre Freunde und legte verständnisvoll jeweils eine Hand auf ihre Schultern. Dann drehte sich Ryoma um und gestikulierte wild.
„Das ist nicht das, was eure Eltern von euch wollen!“, fuhr er die beiden an. „Dort unten ist euer Vater sicherlich nicht zu finden!“ Er schrie sich in Rage.
Takeru ging einen Schritt auf ihn zu. Seine Stimme kam nur schwach aus seinem Hals, als wäre dieser zugeschnürt. „Aber wir wollten …“
„Es ist mir gerade scheißegal, was ihr wollt!“, konterte Ryoma, ohne auf eine Erklärung zu warten. Er massierte sich die Schläfen. „Versteht ihr nicht, wie gefährlich das war? Was hätte ich eurer Mutter erklären sollen, wärt ihr dabei umgekommen?“
Bei dem Wort „Mutter“ fing Alayna plötzlich an zu schluchzen. Ryoma hatte Recht, diese Aktion war unglaublich gefährlich gewesen und es hätten so viele Dinge passieren können, wären Ryoma und Pecos nicht zur Stelle gewesen. Der Beweis dafür war, dass Eimi und Tsuru immer noch in diesem Gebäude waren.
„Es ging gar nicht um Papa!“, wandte sich nun Takeru energisch zu Wort. „Es ging darum, jemanden zu helfen, der Hilfe braucht! Und wir haben es geschafft, so viele Leute zu befreien!“
Jetzt wurde Ryoma erst richtig wütend. Er packte Takeru wieder und anstatt zu brüllen, sprach er ganz ruhig und deutlich. Tränen stiegen in Takerus Augen.
„Was ist der Punkt beim Helfen, wenn man sein Leben dabei sinnlos aufs Spiel setzt? Meinst du etwa nicht, dass wir die Gefangenen nicht auch befreit hätten? Das hätten wir mit weniger Schaden auch hinbekommen.“
Er ließ Takeru wieder los und wollte sich wieder in das Gebäude begeben. Kioku hielt Alayna fest und konnte kein Wort sagen. Takeru verstummte genauso. Doch auf einmal blieb Ryoma stehen. Alayna schaute an ihm vorbei und sie sah weitere Silhouetten, die aus dem brennenden Gebäude kamen. Pecos und Niku, die Vodvar und Palar mittlerweile beiseite gezerrt und sie an einen Baum angebunden hatten, sahen auf und rannten los. Ryoma ging auf die Personen zu, die keuchend auf den Wald zugingen. Es waren Tsuru und Ea, Hol, der die Gruppe anführte und Nal, der Eimi stützte.
„Sie sind es!“, rief Alayna und zusammen mit Kioku lief sie auf Eimi zu. Die beiden führten Eimi zum Waldrand, wo er sich erschöpft an einen Baum lehnend auf den Boden niederließ. Takeru kam hinzu und betrachtete Eimi neugierig.
„Was ist passiert!?“, wollte Alayna wissen.
Schwach deutete Eimi auf Tsuru. Während sich Ryoma mit den Gruppenmitgliedern der Schutztruppe unterhielt, stand Pecos vor Tsuru und nahm sie in den Arm.
„Du bist wieder da“, sprach er glücklich und drückte sie fest an sich.
„Pecos“, sprach Tsuru erschöpft. Die Umarmung fühlte sich unglaublich schön an. „Ich weiß es nun.“
Daraufhin hielt Pecos sie noch fester. „Ich auch.“
Sie hielten sich eine Weile und ließen sich erst wieder los, als Kûosa tränenüberströmt Tsuru ebenfalls umarmen wollte. Ungeduldig wie der Hasenbär war, drückte er auch einfach Pecos an seinen flauschigen Körper. Kurz darauf kam eine große Unruhe auf. Aus dem Wald kamen etliche Kutschen angefahren. Sie hielten auf der Lichtung und aus einigen Wagen stiegen Schutztruppler aus, angeführt von Yuu. Drei der Kutschen waren Löschwagen, die auf der Stelle damit anfingen, die züngelnden Flammen des Gebäudes zu löschen. Hol und Nal setzten sich gleich dafür ein, einigen der Schutztrupplern Arbeiten zu verteilen. Während die gefesselten Handlanger Vaidyams in einen besonderen, mit Gittern versehenen Wagen gesperrt wurden, halfen andere dabei, die befreiten Patienten in andere Kutschen zu bringen. Ryoma führte eine weitere Gruppe an, die ebenfalls versuchten, das Feuer zu löschen. Dabei stürzte sich Ryoma in die Flammen und schwang sein Schwert unzählige Male, um gegen die Flammen zu kämpfen.
„Was passiert nun?“, fragte Suna, der auf Takeru zukam. Die Freunde sahen sich alle fragend an.
„Wie es scheint, werden alle in Sicherheit gebracht“, antwortete Kioku. „Wir haben hier nichts mehr zu tun.“
Sie beobachtete, wie Tsuru sich kurz mit Pecos unterhielt und dann auf sie zukam.
„Tsuru“, sprach Eimi schwach.
„Danke“, antwortete sie, an alle gewandt. „Von tiefstem Herzen danke ich euch. Ihr habt mir ermöglicht zu sehen, was meine Vergangenheit war. Dafür danke ich euch.“
Sie kniete sich zu Eimi nieder, der sie leise fragte: „Was ist passiert?“
Gerade, als Tsuru erzählen wollte, was passiert war, bemerkte Takeru, dass ihn jemand an der Schulter berührte. Als er sich umsah, sah er eine Hand hinter einem Baum winken und folgte ihr. Etwas von der Gruppe entfernt, befand sich Ea, lässig an einen Baum gelehnt.
„Was willst du?“, wunderte sich Takeru und sah zu seinen Freunden zurück. Keiner hatte bemerkt, dass er weggegangen war.
Ea rammte Eimis Schwert in den Boden und stützte sich darauf ab. „Ein Abenteuer, was?“
Takeru sah ihn verwundert an.
„Du hast dich bisher nicht bedankt, Tagebuchträger“, sagte Ea gespielt verärgert. „Für den Tipp, den ich dir damals gegeben habe.“
„Sag mal, verfolgst du uns etwa?“, entgegnete Takeru. Als Ea nach einem kurzen Moment des Wartens nicht antwortete, drehte sich Takeru um und wollte wieder gehen.
„Stopp, stopp! Nicht gleich beleidigt sein. Ich habe Antworten.“
„Was meinst du, mit Antworten?“, wunderte sich Takeru und wandte sich wieder zu Ea.
Dieser kam einen Schritt näher und drückte mit seinem Finger auf den Kompass, den Takeru um den Hals trug.
„Ich weiß was das ist und wie es dir helfen kann, deinen Vater zu finden. Außer, du möchtest natürlich deinen Vater nicht finden.“
„Doch!“, platzte es aus Takeru heraus. „Natürlich will ich das. Aber was meinst du, du kannst mir helfen?“
„Sagen wir so…“, lachte Ea und nahm Takeru seinen Anhänger ab. „Ich habe eher eine Ahnung, wo sich jemand befinden könnte, der weiß, wie man deinen Vater finden kann.“
Ea spielte mit dem Kompass in der Hand. Takeru fühlte sich nicht sicher bei der Sache, Hilfe von jemanden annehmen zu müssen, den er kaum kannte. Aber andererseits hatte Ea ihm schon damals im Wald geholfen. Dieser Tipp hatte Takeru und seine Schwester sogar an diesen Punkt geführt, und hatte bewirkt, dass sie ganz viele Freunde ihres Vaters kennengelernt hatten, die alle bei der Suche halfen. Aber das war genau der Punkt. Wieso sollte er nun auf die Hilfe eines Fremden angewiesen sein? Wobei, wenn er so darüber nachdachte, waren ihm Ryoma, Sayoko und Jumon bisher auch fremd gewesen.
Mit einem metallischen Klacken öffnete Ea den Deckel des Kompasses und flüsterte etwas hinein. Daraufhin stieß ein grünes Licht heraus und eine leuchtende Box schwebte über dem Kompass. Grüne Linien aus Licht zogen ein Gitter über alle Flächen des Quaders. Innerhalb der transparenten Box sah Takeru eine Landschaft. Ea flüsterte wieder etwas und die Landschaft wurde größer. Es war so etwas wie ein Friedhof zu sehen. Ein Finger von Ea stieß durch das Licht und fuchtelte wild umher.
„Da irgendwo ist jemand, der dir helfen kann“, erklärte Ea und klappte den Kompass wieder zu. Die leuchtende Box verschwand augenblicklich. Takeru war erstaunt darüber, was sein Kompass gerade zustande gebracht hatte. Was war das für eine Funktion?
„Das ist kein Trick?“, fragte er neugierig nach. „Ich meine, was hast du davon? Warum kannst du diesen Kompass benutzen? Wer bist du eigentlich, Ea?“
„Ich bin nur zufällig auch auf der Suche nach etwas. Außerdem bin ich ganz hilfsbereit.“ Ea grinste über beide Ohren. Er ließ seinen Charme spielen, um Takeru irgendwie überzeugen zu können.
Dieser drehte sich um und betrachtete seine Schwester und seine Freunde. Eimi setzte sich gerade auf. Er brauchte noch Zeit, sich zu erholen.
„Ich kann das nicht allein entscheiden“, meinte Takeru entschlossen. Er streckte seine Hand aus und verlangte den Kompass zurück. „Das müssen wir zusammen entscheiden.“ Als er diese Worte ausgesprochen hatte, war er sich einerseits sicher, dass das Ziel immer noch die Suche nach ihrem Vater war, jedoch spürte er auch Zweifel daran.
„Ich gebe dir zwei Tage für eine Antwort“, schlug ihm Ea vor. Dann gab er den Kompass zurück und ging, bevor Takeru noch fragen konnte, wie er ihm die Antwort denn zukommen lassen sollte.
Die Rauchsäulen, die in den Himmel stiegen, wurden immer schmaler. Mittlerweile strahlten einige erste Sonnenstrahlen durch die Bäume des Waldes und kündeten einen neuen Tag an. Takeru hängte sich den Kompass um den Hals und zerrte das Schwert aus dem Boden. Es war schwer und er schleifte es hinter sich zur Gruppe zurück.
„Tak, wo warst du?“, wunderte sich Alayna, die ihm entgegenkam. Eimi wurde gerade von einem Schutztruppler in eine Kutsche geholfen, in der schon Suna und Kioku saßen.
„Ich habe Eimis Schwert gefunden“, antwortete er, während er sich dabei am Kopf kratzte.
„Sie fahren uns zurück zu Sayoko“, erklärte Alayna, die ein müdes Gähnen unterdrücken musste. Es war eine lange Nacht gewesen. Erschöpft stiegen die beiden in die Kutsche. Als die Türen geschlossen wurden, kündigte sich die Fahrt mit einem Ruck an. Es war ein holpriger Weg zurück zu Sayokos Haus.


Kapitel 32 – Wie es weitergehen soll

Ein starker, würziger Geruch kroch in das Zimmer, in dem Takeru schlief. Es roch nach deftigem Essen, was eine alte Erinnerung an zu Hause in ihm weckte. Er wälzte sich in seinem Bett noch einmal umher, verlor dabei seine Zudecke und lag dann nur in seiner Unterhose auf dem Bett. Sein Magen knurrte laut und bevor er aufstand, vergrub er sein Gesicht noch einmal für eine Weile in seinem Kissen. Dann konnte er es nicht mehr aushalten und setzte sich auf. Während er sich gähnend durch sein Haar fuhr, machte sich der Magen wiederholt bemerkbar. Was war das nur für ein köstlicher Duft, der immer stärker zu werden schien? Nach zwei weiteren Gähnern schlüpfte Takeru in seine Klamotten und schlurfte aus dem Zimmer.
Ihm schossen dabei unzählige Bilder in seinen Kopf. Er sah seinen Vater der Lichtgestalt in den Wald folgen, wie er das Tagebuch zum ersten Mal aufschlug, wie er Kioku kennenlernte, wie er in einer brennenden Stadt nach seiner Schwester suchte, was für einen Eindruck Eimi auf ihn machte, Kioku am Strand weinen, wie er die Flugtickets besorgte, wie das Luftschiff fast abstürzte, wie Jumon und Sabî ihren Sohn in den Armen hielten, wie eine Frau entführt wurde und wie Kûosa Tsuru umarmte.
So langsam wurden die Erinnerungen an die letzte Nacht wieder wach. Die Geschehnisse im Labor und die, die nach dem Kampf passiert waren, brannten sich fest in sein Gehirn. Wieder hatte es einen Kampf gegeben, den sie ohne fremde Hilfe nicht gewonnen hätten. Wieder waren sie auf den Schutz von Menschen angewiesen gewesen, die sich als Freunde seines Vaters herausgestellt hatten. Und wieder hatte er das Gefühl, dass keiner so wirklich dabei half, seinen Vater zu finden.
Ea hatte ihm angeboten, zu suchen. Dabei zeigte er Takeru, wie der Kompass wirklich funktionierte. Kurz blieb er auf dem Weg nach unten im Gang stehen und holte den Kompass unter seinem Pullover hervor. Mit seinen Fingern fuhr er vorsichtig über die metallene Oberfläche. Mit seinem Fingernagel blieb er kurz an einem Kratzer hängen und spielte gedankenverloren daran herum.
„Öffne dich“, flüsterte er leise, den Kompass nah an seinen Mund haltend. Enttäuscht ließ er den Kompass wieder sinken, als sich nichts tat. Vielleicht war es sinnvoll, Ea um Hilfe zu bitten. Er wusste doch auch über das Tagebuch Bescheid, deswegen musste an dem, was er sagte, etwas dran sein. Das Tagebuch! Takeru flitzte zurück ins Zimmer und holte unter seinen Sachen das Tagebuch hervor. Er öffnete es und durchblätterte die Seiten. Es musste doch wieder etwas darinstehen. Er blätterte eine Weile, bis er endlich einen Eintrag gefunden hatte.

Tsuru ist heute beim Essen einfach verschwunden. Wir haben sie in der Stadt ewig gesucht und zum Glück am Ende des Tages gefunden. Ginta und Sayoko haben sich unglaubliche Sorgen gemacht. Es herrscht eine merkwürdige Spannung gerade. Ob wir die Forderungen von Riven Kire wirklich einhalten können?

 

Schnell holte Takeru sein kleines Notizbuch heraus und notierte sich den Eintrag. Es war sehr auffällig, dass gerade jetzt ein Eintrag erschien, in dem Tsuru und Sayoko erwähnt wurden. Es musste einfach so sein, dass das Tagebuch auf die Personen um sich herum reagierte. Also schrieb er sich die momentane Situation unter seine Notiz. Er beschrieb, wo er sich gerade befand und wen er getroffen hatte. Um wirklich sicherzugehen, dachte er sich, müsste er noch ein paar mehr Einträge finden.
Dann klappte er beide Bücher wieder zu und steckte sie tief in seine Tasche. Er spürte den Kompass an seiner Brust und dachte wieder über Ea nach. Irgendetwas fühlte sich unglaublich merkwürdig an. Aber er musste diesem Gefühl nachgehen und herausfinden, wo sein Vater war. Nachdem er seine Sachen unter seinem Bett verstaut hatte, machte er sich wieder auf, um herauszufinden, woher dieser großartige Geruch herkam.
Unten angekommen bemerkte er, dass in der Eingangshalle reges Treiben herrschte. Er sah einige Personen, die er vorher noch nicht gesehen hatte, mit diversen Dingen unter dem Arm hin und her laufen. Einige Mitglieder der Schutztruppe lasen Dokumente, während Leute, die wie Ärzte aussahen, kleine Schachteln umhertrugen. Aus einer Tür kam Kioku, die einen großen Topf trug. Da sie ihn nicht abstellen konnte, wackelte sie mit dem Kopf und grinste, als sie Takeru sah.
„Endlich wach? Komm mit!“, begrüßte sie ihn und ging los. Takeru folgte ihr und stammelte noch ein „Guten Morgen“. Nachdem sie durch zwei Gänge gelaufen waren, zeigte sie ihm, welche Tür er öffnen sollte. Er schwang zwei große Flügeltüren auf und die beiden befanden sich in einem großen Raum. Auf der linken Seite befanden sich provisorische Betten für die Patienten, die sie befreit hatten. Auf der anderen Seite des Raumes befanden sich runde Tische, an denen bis zu acht Personen sitzen konnten. Einige der Patienten saßen an den Tischen und aßen. Ein Stück neben der Tür war ein langer Tisch aufgebaut, an dem Eimi und Alayna etwas von dem Essen verteilten, das sich in den großen Töpfen befand. Kioku stellte den nächsten großen Topf ab und Takeru lugte neugierig hinein. Der Duft von leckerem Eintopf kam ihm entgegen. Es roch köstlich.
Eimi winkte einige der Patienten her und schon stellten sie sich an. Alayna half, das Essen zu verteilen.
„Bist etwas spät, aber es gibt noch was zu essen“, erklärte Kioku.
„Warum habt ihr mich nicht geweckt?“, wunderte sich Takeru und schnappte sich auch einen Teller.
„Ich habe es versucht“, schimpfte Alayna, „aber du hast einfach nicht reagiert. Tja, dein Pech.“
Kioku stupste sie mit ihrem Ellenbogen in die Seite.
„Und ich wollte dich noch etwas ausruhen lassen“, meinte Alayna dann in einem netteren Ton.
Takeru setzte sich neben Alayna und nahm einige Löffel vom Eintopf. Ihm fiel auf, dass Eimi jetzt einen Verband trug.
„Wie geht es euch?“, hakte er nach und fühlte sich merkwürdig. Er hatte diese Frage jetzt für einen langen Zeitraum nicht mehr gestellt. Von seiner Mutter hatte er früher jeden Tag diese Frage gehört.
„Tut gar nicht mehr so weh“, meinte Eimi und grinste, während er auf seine Verbände deutete.
„Ganz okay“, meinte Alayna knapp. Takeru beschlich das Gefühl, dass sie etwas verheimlichte.
„Wir können hier etwas helfen“, erklärte Kioku mit einem Lächeln. „Also ganz gut.“
„Was ist hier los?“, fragte er weiter und schaufelte sich noch einige Löffel des Eintopfs in den Mund. Das Essen war heiß und köstlich.
„Sayoko hat, als wir angekommen sind, eine Hilfestation aufbauen lassen. Die Schutztruppe hilft und Nal läuft gerade herum und überprüft den gesundheitlichen Zustand aller Patienten. Sayoko bespricht gerade mit Pecos, wie es weitergehen soll.“
„Hat überhaupt irgendwer geschlafen heute Nacht? Wo sind Ryoma und die anderen?“
Kioku sah Alayna und Eimi fragend an. „Wir haben ihn nicht mehr gesehen.“
Es stellten sich weitere Patienten an und Alayna schenkte aus. Zum ersten Mal bemerkte Takeru jetzt, wer die Patienten wirklich waren. Er sah sich den Raum an, in dem reges Treiben herrschte und entdeckte die unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Am anderen Ende des Raumes stand eine Frau an einem Fenster, die keinen rechten Arm mehr besaß. Etwas weiter auf der linken Seite saß ein alter dunkelhäutiger Mann in einem Rollstuhl, der eine Augenklappe trug. Sein krauses, graues Haar stand in alle Richtungen ab. Näher bei ihm saß ein Mädchen auf einem Bett, das einen merkwürdig verformten Buckel hatte. Ihr Gesicht war starr, es bewegte sich kein Muskel. Takerus Blick wäre noch länger durch den Raum geschweift, aber da stand plötzlich Suna vor ihnen. Er machte einen glücklichen Eindruck. „Danke Leute“, bedankte er sich, als er den Teller an sich nahm. „Eure Hilfe ist gigantisch. Schaut euch mal an, wie fröhlich einige der Leute hier wirken.“
Takeru sah sich wieder um und entdeckte tatsächlich einige grinsende Gesichter.
„Es wird zwar einige Zeit dauern, bis jeder das Trauma über die Gefangenschaft überwunden hat, aber ich bin ganz zuversichtlich. Wobei ich den Arzt der Schutztruppe vorhin sagen gehört habe, dass einige Patienten dringend in ein bestimmtes Krankenhaus gebracht werden sollten.“
„Da reicht ein normales Krankenhaus nicht aus?“, wunderte sich Kioku.
„Nein“, fing Suna an zu erklären, „unter den Leuten befinden sich einige, die eine ähnlich seltene Krankheit wie ich haben.“
Als Suna das sagte, blickte er auf einmal bedrückt zu Boden. Takeru bildete sich ein, als Suna sich verlegen am Hinterkopf kratzte, etwas Goldenes in seinem Nacken glänzen zu sehen.
„Ich habe auch gehört, wie Nal mit einigen anderen der Schutztruppe darüber redete, dass er morgen eine Eskorte aller Patienten nach Yofu-Shiti machen möchte.“
„Davon habe ich schon einmal gehört“, erzählte Eimi und wirkte ganz zuversichtlich dabei, „Chojiro hatte Freunde in Yofu-Shiti. Das ist die berühmteste Stadt für Ärzte überhaupt. Es heißt, dass die besten Ärzte der Welt dorthin pilgern, um noch mehr zu lernen. Dort soll es Spezialisten für alle Krankheiten geben.“
Takeru fragte sich, wenn diese Stadt so berühmt war, warum er davon noch nie gehört hatte. Außerdem wunderte er sich darüber, warum Sunas Eltern es bevorzugten, irgendwelchen dubiosen Typen ihren Sohn anzuvertrauen, statt ihn in eine Stadt zu bringen, die voller Spezialisten war. Sein Blick schweifte kurz zu Alayna, die plötzlich merkwürdig bedrückt wirkte. So eine Reaktion hatte er bei ihr noch nie bemerkt. Nahm das alles sie doch etwas mehr mit, als sie sagte?
„Und dort gibt es wirklich Spezialisten für alles?“, hakte Kioku sehr unsicher noch einmal nach. Nachdenklich kratzte sie sich an der Wange. Dann wandte sie sich zu ihren Freunden. „Ich glaube, ich würde gerne nach Yofu-Shiti.“
Alayna und Eimi wurden ganz aufmerksam.
„Was ist, wenn dort jemand ist, der mir mit meinen Erinnerungen helfen kann?“, fragte sie zögernd.
Takeru hatte das Gefühl, dass sie nicht aufdringlich wirken wollte. Alayna sah sich im Raum noch einmal um. Nervös hielt sie sich am Ende ihrer Bluse fest, die sie trug.
„Das ist eine gute Idee!“, schoss es aus ihr heraus. „Wir könnten… Also wir könnten Nal und die Patienten begleiten, um ganz sicher zu sein, dass sie gut in der Stadt ankommen und versorgt werden. Direkt im Anschluss könnten wir uns auf die Suche nach einem Arzt machen, der dir helfen kann, Kioku.“
Eimi nickte diesen Vorschlag ohne Kommentar ab und Kiokus Gesichtszüge wurden wieder glücklicher. Auch Suna schien diesen Vorschlag gut zu finden.
„Dann… dann können wir ja noch eine Weile zusammen sein“, murmelte er und nur Takeru schien diesen Kommentar mitbekommen zu haben. Jetzt blickten alle Takeru an, um seine Antwort zu hören. Doch irgendetwas hielt ihn gerade auf, etwas zu sagen. Sein Blick schweifte noch einmal durch den Raum. Es war nicht so, dass ihm diese Menschen egal waren, aber es fühlte sich nicht richtig an, dies zu tun. Eas Stimme hallte in seinem Kopf wider, dass er ihm Hilfe anbot, seinen Vater zu finden. Statt zu antworten, stand er auf und ging aus dem Raum. Ab durch die Eingangshalle verließ er das Gebäude und stand in dem großen Garten von Sayokos Anwesen. Es war immer noch Winter, einige letzte Schneehaufen lagen auf der grüngrauen Wiese. Beim Atmen stieß er eine dampfende Atemwolke aus. Er fühlte sich wie in zwei Teile gerissen. So sehr wollte er seinen Vater endlich finden und dabei fühlte er sich so einsam. Kioku war eine großartige Freundin, aber warum konnte das nicht warten? Warum konnten sie nicht erst das eine erledigen und dann Kioku helfen? Den Patienten hatten sie doch jetzt schon geholfen. Sie hatten Tsuru geholfen und Eimi unterstützt. Sie hatten jetzt so vielen Personen geholfen. Jetzt war doch wieder er selbst dran, oder nicht? Die Frage war nun, wie konnte er die anderen überzeugen, nicht nach Yofu-Shiti zu gehen, sondern mit Ea zu reisen, der ihnen helfen könnte?
Die Tür hinter ihm ging auf und Eimi trat heraus. „Was ist los?“, fragte er Takeru.
Erst blickte er Eimi grimmig an, als wäre er schuld, dass Takeru sich nicht entscheiden konnte. Jedoch beruhigte er sich schnell und erklärte Eimi alles, was Ea ihm nach dem Labor gezeigt hatte.
„Dann ist das also noch so ein Gegenstand“, überlegte Eimi und dachte dabei an sein Schwert. „Ea zeigte mir im Labor, wie er das Schwert benutzt, musst du wissen. Ich habe das Gefühl, dass dieser Ea so einiges weiß.“
„Dieser Kompass“, erklärte Takeru und zeigte ihn noch einmal Eimi, „es war, als hätte er sich in eine dreidimensionale Karte verwandelt. Wenn ich lerne … wenn ich doch nur lerne, wie man ihn benutzt, könnte ich Papa ganz schnell finden!“
„Ea könnte mir beibringen, wie man dieses Schwert benutzt. Dann könnte ich das nächste Mal endlich jemanden beschützen.“ Als Eimi das sagte, drehte er sich kurz zur Seite. Takeru sah, wie wütend Eimi über sich selbst war.
„Wir könnten doch auch erst danach nach Yofu-Shiti reisen, oder?“, hakte Takeru hoffnungsvoll nach.
„Tak“, meinte Eimi und berührte ihn dabei am Arm, „Kioku ist unsere Freundin. Wir können sie doch nicht hängen lassen.“
„Und wenn, wir, also du und ich“, fing Takeru an und überlegte sich schnell einen Plan, „wenn nur wir zwei mit Ea mitgehen? Schau doch mal, die Schutztruppe ist auf der Eskorte nach Yofu-Shiti dabei. Alayna und Kioku werden sicher sein.“
Bevor Eimi jedoch etwas dazu sagen konnte, öffnete sich erneut die Tür hinter ihnen und Suna kam heraus. „Ah, da seid ihr! Jemand namens Sayoko sucht euch. Alayna und Kioku sind schon vorgegangen. Sie wirkten gerade nicht wirklich … fröhlich.“
„Danke“, nickte Eimi ab und gemeinsam mit Takeru ging er in das Büro von Sayoko.

Die massive Holztür zu Sayokos Büro öffnete sich und die Jungs kamen herein. Vor dem großen Schreibtisch saßen schon Alayna und Kioku. Es wirkte so, als wären sie gerade in einer Unterhaltung gewesen, die aber sofort abbrach, als die Jungs hereinkamen. Sie setzten sich. Takeru traute sich gerade nicht, seine Schwester und Kioku anzuschauen. Die beiden sagten kein Wort.
„Schön, dass ihr auch da seid“, fing Sayoko an zu sprechen. „Ich habe mit Ryoma gesprochen.“
Bei diesem Namen fuhr es Takeru eiskalt den Rücken herunter. Noch nie war er so wütend angeschrien worden, wie von Ryoma. Nicht einmal, als er mit einem Klassenkameraden in der 3. Klasse seiner Lehrerin einen Streich gespielt hatte. Oder als er beim Einkauf mit seiner Mutter sich aus ihrer Hand gelöst hatte und in einen großen Laden gegangen war und sich daraufhin verlaufen hatte. Es hatte fast zwei Stunden gebraucht, bis seine Mutter ihn wiedergefunden hatte.
„Ich muss ihn dahingehend bestätigen, dass eure Aktion unglaublich gefährlich war. Es hätte alles Mögliche mit euch passieren können.“ Sayoko saß ganz gerade auf ihrem Stuhl, ihre Hände übereinander auf den Tisch gelegt. Ihre Körpersprache strahlte eine gewisse Strenge aus, ihre Worte zeugten aber von aufrichtiger Fürsorge. Sie war wie eine streng wirkende Mutter, die ihre Kinder über alles liebte. „Ihr wisst nicht, worauf ihr euch da eingelassen habt. Es gibt Situationen, da müsst ihr auf uns Erwachsene, aufgrund der Erfahrung, die wir haben, einfach hören.“
Bei dem Wort „Erwachsene“ merkte Takeru, wie unangenehm ihr das war, da sie wusste, dass Kioku und Eimi schon älter waren.
„Ich nehme an, Jumon hat euch die Geschichte eures Vaters erzählt?“, hakte Sayoko nach, um eine Bestätigung ihres Wissens zu bekommen. Alayna beantwortete die Frage und dabei fiel Takeru nahe bei ihm ein Stapel von Briefen auf, die wohl von Jumon abgesendet worden waren. Was er ihr wohl alles erzählt hatte?
„Ich habe einen Vorschlag zu machen“, sprach Sayoko sehr formell. „Ich kann euch jegliche Hilfe versprechen, euren Vater zu finden, diese Organisation aufzuhalten und euch bald wieder sicher nach Hause zu bringen. Dafür bleibt ihre eine Weile hier. Es gibt genug zu essen und jeder kann sein eigenes Zimmer bekommen.“
Takeru blickte überrascht auf. Hatte er das wirklich richtig verstanden? Jegliche Hilfe, seinen Vater zu finden? Für einen Moment war es in dem Büro sehr still. Alle schienen über das Angebot nachzudenken.
„Ryoma und Jumon geht es genauso wie mir“, erklärte Sayoko und stand dabei auf. Sie blickte aus dem Fenster hinter sich. Sie sprach mit einer Herzlichkeit, die sie so von ihr noch nicht gehört hatten. „Wenn ich euch dort hinausschicke und euch etwas zustößt, könnte ich euren Eltern nicht mehr in die Augen schauen. Jumon hat nicht dieselben Mittel wie ich, deswegen hat er euch zu mir geschickt. Ryoma hat mit seiner Arbeit alle Hände voll zu tun. Er versichert euch übrigens noch einmal, dass es eurer Mutter gut geht.“
„Wo ist Mama?“, fragte Alayna nach. Sie war die erste, die sich zu Wort meldete.
„Ihr müsst verstehen“, versuchte Sayoko zu erklären und lehnte sich an die Wand, „dass eurer Mutter mehr Gefahr droht, als euch momentan. Sie ist die Frau von Ginta und … die Organisation wird hinter ihr her sein.“
„Sag uns doch bitte, wo sie ist“, bat Alayna ruhig.
„Nur Ryoma weiß ihren Aufenthaltsort. Wenn die Organisation irgendetwas darüber erfährt, ist sie in großer Gefahr. Deswegen kann ich euch das nicht verraten. Auch aus diesem Grund möchte ich auf mein Angebot zurückkehren. Wenn ihr dort draußen seid und irgendjemand herausfindet, was ihr wirklich vorhabt, könntet ihr euch und alle anderen in große Schwierigkeiten bringen. Diese Organisation darf absolut nichts über euch, euren Vater oder seine Vergangenheit erfahren. Nehmt ihr mein Angebot an?“
Es erstaunte Takeru, dass es seine Schwester war, die aufstand und etwas antwortete.
„Nein“, sprach sie entschlossen und sah Sayoko direkt in die Augen. Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in Takerus Bauch breit, eine Vorahnung, dass Sayoko sie jetzt genauso anschreien würde, wie Ryoma es getan hatte. Aber es kam nichts.
„Ich möchte mit nach Yofu-Shiti reisen“, erklärte Alayna daraufhin. Sie wirkte auf einmal sehr entschlossen und mutig. „Ich möchte persönlich sichergehen, dass die Befreiten die beste Behandlung bekommen, die sie verdient haben. Außerdem möchte ich Kioku helfen, ihre Erinnerungen wiederzuerlangen. Dafür brauchen wir Spezialisten, die wir nur in dieser Stadt finden.“
Alayna sah Kioku an, die ein friedliches Lächeln hatte. Takeru wusste in diesem Moment, wie unglaublich dankbar Kioku war. Eimi rutschte in seinem Stuhl, doch bevor er aufstehen konnte, stand Takeru zuerst auf.
„Alayna, Kioku, es tut mir leid“, entschuldigte sich Takeru und blickte die beiden an. „Ich möchte nicht mit euch gehen.“
„Aber …“, wandte Alayna an, die aber nicht weitersprach, als Eimi ihr deutete, Takeru aussprechen zu lassen.
Takeru erzählte die Geschichte, die er auch Eimi erzählte, dabei holte er seinen Kompass heraus und beschrieb jedes Detail des Gesprächs, das er mit Ea geführt hatte.
Als er fertig erzählt hatte, sprach auch Eimi: „Ich habe das Gefühl, dass Ea mir zeigen kann, wie ich dieses Schwert benutze. Ich glaube außerdem nicht, dass ihr Tak hier umstimmen könnt. Ich kann ihn nicht allein diese Reise machen lassen.“
In Alaynas Gesicht zeichnete sich Angst und Sorge ab. Kioku wusste gar nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sayoko hörte sich das alles geduldig an.
„Wir können einfach, nachdem wir diese Person gefunden haben, die uns helfen wird, zusammen nach Yofu-Shiti kommen. Ihr braucht dort doch nur auf uns zu warten, oder?“ Takeru gestikulierte flehend, in der Hoffnung, dass er irgendwie Bestätigung kriegen würde. Auch er wusste, dass sich seine Schwester eigentlich nicht mehr umstimmen ließ.
„Das ist viel zu gefährlich“, wandte Kioku ein. Keiner sah, wie Sayoko mit den Augen rollte. „Eimi, meinst du wirklich, dass das der richtige Weg ist?“
„Kioku, du musst einsehen, dass es eine Möglichkeit ist, schneller zu erreichen, was jeder möchte. Du hast es verdient, herauszufinden, wer du bist. Du musst nach Yofu-Shiti gehen! Wenn Alayna dabei ist, fühle ich mich dahingehend viel sicherer“, erklärte Eimi. Takeru bemerkte ein kleines Zittern in seinem Mundwinkel. Ein merkwürdiges Bauchgefühl verriet ihm, dass Eimi etwas verheimlichte. „Ea ist stark. Uns wird nichts passieren und ich kümmere mich darum, dass wir so schnell wie nötig wieder zurückkehren werden.“
„Also, also willst du wirklich da hingehen?“ Alaynas Stimme brach weg. Sie zitterte auf einmal. Auch wenn sie es Takeru nie sagen würde, wusste er, dass sie ihn niemals allein lassen würde.
„Ja“, auch Takerus Stimme wurde höher. Angst überfiel seinen ganzen Körper. „Wie geht es dir?“, fragte er, ohne den Grund darüber zu wissen.
„Beschissen“, antwortete Alayna knapp.
„Mir auch“, stimmte ihr Takeru zu. Eine merkwürdige Stimmung füllte den Raum wie ein grauer Nebel. Plötzlich schien alles viel trüber und unklarer. Obwohl jeder ein Ziel hatte, konnte keiner der Freunde sagen, ob oder wie sie es erreichten. Die Geschwister merkten, dass dies die erste Zeit in ihrem Leben sein würde, in der sie wahrhaftig voneinander getrennt sein würden. Diese Unsicherheit kam ihnen trotzdem erstaunlich bekannt vor. Es war dieselbe Unsicherheit, die sie gespürt hatten, als sie von ihren Eltern getrennt worden waren.
Kioku nahm Alayna an der Hand. Eimi legte seine auf Takerus Schulter.
„Ich hatte ihm gesagt, dass ihr nicht auf Ryoma hören würdet“, unterbrach Sayoko die Stille und stieß einen halb lachenden Seufzer aus. „Schaut euch an. Ihr seid genau wie euer Vater. Er hat nie bemerkt, was er für eine Wirkung auf andere hat. Dieser Junge hatte damals eine Macht, in jeder Unsicherheit trotzdem Mut zu beweisen. Er beschützte uns alle und hielt bis zum Ende durch. Auch er machte eine Trennung durch, die er lange nicht verkraftete. Trotzdem schaffte er es, uns alle wieder zusammenzubringen. Solange ihr euch wiederfindet, wird alles gut. Ich nehme an, mein Angebot ist hiermit hinfällig?“
Takeru nickte verlegen. „Entschuldige.“
„Trotzdem“, wandte sie sich an die Freunde und stützte sich dabei auf ihren Schreibtisch, „werden die Schutztruppe und ich alles Erdenkliche tun, euren Vater zu finden und diese Organisation aufzuhalten. Deswegen habe ich eine Kleinigkeit vorbereitet.“
Sayoko öffnete die dritte Schublade ihres großen Schreibtisches und holte vier kleine metallene Pins heraus, die wie eine Feder geformt waren. Auf der Oberfläche schimmerte türkisfarbene Emaille. Die Freunde sahen Sayoko verwundert an.
„Ich habe durch meine Position so einige Beziehungen in diesem Land. Tragt diese Pins und ihr werdet von meinen Freunden Hilfe erlangen. Ich weiß, wie schwer es damals war, Unterkünfte zu finden, etwas zu ssen zu bekommen und den richtigen Weg zu gehen. Wenn es auch nur das ist, womit ich euch helfen kann, bin ich sehr glücklich. Außerdem habe ich auch noch das hier.“
Sie zog einen Umschlag mit etwas Geld aus dem Schreibtisch und halbierte den Stapel fair. Alayna und Takeru bekamen jeweils einen Stapel. Als Alayna die Scheine in der Hand hielt, öffnete sie erstaunt den Mund.
„Das ist so viel Geld, Sayoko, das können wir nicht annehmen!“, entgegnete Alayna und wollte es Sayoko zurückgeben.
„Doch, werdet ihr“, sprach Sayoko auf einmal wieder sehr streng und blickte Alayna dabei böse an. Daraufhin traute sie sich nicht, einen zweiten Versuch zu starten und packte das Geld brav ein. Die Freunde bedankten sich herzlich bei Sayoko.
„Außerdem werde ich veranlassen, dass ihr mit genug Vorräten versorgt werden, die für eine Weile reichen sollten. Bevor ihr geht, solltet ihr euch vielleicht noch bei Tsuru verabschieden. Sie wird sich für die waghalsige Unterstützung bedanken wollen“, erzählte sie recht vorwurfsvoll. „Ryoma ist schon gegangen. Ich konnte ihn jedoch überreden, eurer Mutter nichts von dem Abenteuer im Labor zu erzählen.“
Es dauerte nicht lange, da gab es nichts mehr zu sagen. Takeru hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, das gemischt war mit Hoffnung und Angst. Vielleicht hatte er sich doch geirrt, dass ihm keiner helfen wollte. Eimi und Alayna standen auf und gingen einfach aus dem Büro heraus. Auch Kioku folgte ihnen nach einem kurzen Zögern. Nur Takeru blieb noch einen kurzen Moment und sah Sayoko an, die auf einmal wieder ein sehr strengen, nachdenklichen Eindruck machte und das Einzige, was nun in seinem Kopf herumschwirrte, war die Frage, was sein Vater mit dieser Frau wohl für eine Freundschaft hatte. Erst als er ging, dachte er wieder über Ea und den Kompass nach.


Kapitel 33 – Die Trennung

In einem sehr ungleichmäßigen Rhythmus fielen die Tropfen der schmelzenden Eiszapfen von der Dachrinne. Der Wind schlug einige davon gegen die Fensterscheibe. Alayna betrachtete ihre Hände und dachte an den gestrigen Tag. Kioku hatte sie gestern richtig festgehalten. Noch nie war ihre Hand von jemandem so festgehalten wie von Kioku, als Alayna gemeint hatte, sie wolle ihr helfen, in Yofu-Shiti nach Hilfe zu suchen. Seit einiger Zeit wusste Alayna, dass Kioku nicht nur eine Begleiterin, sondern mittlerweile eine Freundin geworden war. Von Sayoko, bei der sie zu diesem Zeitpunkt im Büro gesessen hatten, war auf einmal, als ihre Worte die Stille durchbrochen hatten, eine unglaubliche Wärme ausgegangen. Die Strenge, die Sayoko sonst umgab, war wie weggeblasen gewesen.
Als Alayna also ihre Hand betrachtete, dachte sie auch darüber nach, wie ihr kleiner Bruder eine ganz andere Meinung und ein ganz anderes Ziel vor Augen hatte. Sie fragte sich, wann es passiert war, dass Takeru seine eigenen Entscheidungen traf. Aber sie brauchte nicht lange darüber nachzudenken, denn sie wusste, dass er von Anfang an nur ihren Vater hatte finden wollen. Dass Takeru jetzt einen anderen Weg gehen wollte, war trotzdem so merkwürdig. Alayna hatte zu Hause zwar nie etwas mit ihrem nervigen Bruder zu tun haben wollen, aber im Prinzip waren sie nie lange voneinander getrennt gewesen. Es schien, als würde diese Unsicherheit, die durch die Trennung entstand, ihr das Atmen erschweren.
Heute war der Tag der Trennung gekommen. Nal, der Medizinspezialist aus dem Schutztruppenteam von Pecos, wollte die Patienten nach Yofu-Shiti bringen. Sayoko hatte dafür die Kosten übernommen und der berühmten Medizinstadt schon eine Nachricht zukommen lassen, damit die Ärzte sich dort vorbereiten konnten. Kioku hatte ihre Sachen schon gepackt und war gerade dabei, diese in die Kutsche zu verfrachten. Alayna wollte gerade selbst noch ihre Sachen packen und stopfte gedankenversunken ihre Klamotten und die Vorräte, die sie von Sayoko bekommen hatte, in ihre Tasche.
Als sie fertig war, schnappte sie sich ihre Tasche und ging. An der Tür hielt sie noch einen Moment inne und blickte zurück in das Zimmer, das ihr für die Größe dieser Villa plötzlich sehr klein vorkam. Früher hätte sie mit ihren Freundinnen darüber geschwärmt, wie es wohl wäre, in so einer großen Villa zu leben. Doch genau jetzt in diesem Moment, schien ihr das so unwichtig. Was hatte man von diesem Wohlstand, wenn man damit nichts machen konnte? Sayoko ließ so viele Menschen in ihr Zuhause und kümmerte sich darum, dass es jedem gut ging. Sie benutzte diesen Wohlstand, um anderen zu helfen, was sehr edel war.
Draußen angekommen, hatte Kioku sie schon vor der Kutsche erwartet. Gemütlich lehnte sie an dem Wagen und schenkte ihr ein Lächeln. Alayna hatte plötzlich einen merkwürdigen Kloß im Hals und konnte nichts sagen. Kioku schien sehr aufmerksam zu sein, denn sie nahm Alayna die Tasche ab und packte sie in den Wagen. Danach, ohne etwas zu kommentieren, umarmte Kioku sie. Dabei schossen all diese Gedanken wie Kanonenkugeln durch ihren Kopf und der Kloß im Hals brachte sie fast dazu, zu weinen. Aber sie riss sich zusammen und löste sich von der Umarmung.
„Wir sollten uns noch von Tsuru und Kûosa verabschieden“, meinte Kioku und deutete auf das Anwesen. „Ich denke, dass Eimi und Tak schon vorgegangen sind.“
„Klar“, sagte Alayna. Dann gingen beide. Momentan war es noch ruhig; die Vorbereitungen fingen gerade erst an und nur einige der Schutztruppler waren dabei, die Wagen vorzubereiten. Es dauerte sicherlich nicht mehr lange, dann konnten sie losfahren.

Als sie durch den großen Garten zurückliefen, bemerkte Alayna, dass kein Schnee mehr auf dem Boden lag. Die Luft war wärmer, als noch vor ein paar Tagen. Sie gingen um das große Anwesen herum, denn auf der Rückseite befand sich ein großer Anbau, der im Gegensatz zum Hauptgebäude eine Holzfassade hatte. Der rechte Bereich war ein Lager, wahrscheinlich für die ganzen Spielzeuge, die Tsuru produzierte. Durch eine große Tür konnten sie den Arbeitsbereich von Tsurus Werkstatt betreten. In der Mitte des Raumes befanden sich mehrere quadratische, massive Holztische. Darüber hingen kegelförmige Lampen aus einem kupfernen Material. Gelbgoldenes Licht schien aus ihnen auf die Arbeitstische. An drei Wänden befanden sich hohe Regale aus Holz und Metall, in denen diverse Materialien gelagert waren. Neben Bechern, Pinseln, Nähnadeln, Stoffen, Hölzern, Metallformen, Pflanzen und etlichen weiteren Dingen befanden sich auch diverse Kreationen von Tsuru darin. An der letzten Wand, die dreiecksförmig gebaut war, da sich dahinter eine Treppe befand, die in ein Obergeschoss des Anwesens führte, befand sich ein langer, schmaler Schreibtisch.
Alayna sah Kioku dabei zu, wie sie durch den Raum schlenderte und sich alle Dinge ganz genau ansah. Tsuru schien nicht da zu sein, also lief Alayna auch eine Runde und hielt an dem langen Schreibtisch inne. Dort hingen einige Photographien, kleine Kritzeleien, Postkarten und getrocknete Blumen. Sie setzte sich auf den Stuhl ohne Lehne und betrachtete ganz genau, was sich auf dem Schreibtisch befand. Dabei fiel ihr ein Zeitungsausschnitt auf, auf dem Sayoko und einige Schutztruppler zu sehen waren. Ein etwas jüngerer Pecos stach ihr direkt in die Augen und sie schmunzelte leicht. Dann sah sie ein Photo in schwarz-weiß, auf dem eine Gruppe von jungen Leuten zu sehen war. Das Photo war alt und die Ränder schon zerschlissen. Beim genaueren Betrachten entdeckte sie Sayoko. Neben ihr stand ein kleines Mädchen, dessen Hand von einem Hasenbären festgehalten wurde. Die Gesichtszüge eines Jungen kamen ihr auch bekannt vor, das musste Jumon sein. Dort, neben einem jungen Mädchen, das sicherlich ihr Alter haben musste, stand ihr Vater. Er hatte noch nicht das kantige Gesicht, das er jetzt hatte und dafür längere Haare. Es war merkwürdig, ihren Vater ohne Bartstoppeln zu sehen.
„Das war an einem guten Tag“, sprach Tsuru. Alayna schaute nach oben und sah, wie sich Tsuru über das Geländer der Treppe lehnte. „Dein Vater hat es mir nach unserer Reise geschenkt. Er ist ein beeindruckender Mensch.“
„‘tschuldige, ich wollte nicht…“, entschuldigte sich Alayna und stand auf, als wäre sie gerade dabei erwischt worden, sich durch die Privatsphäre eines anderen zu wühlen.
„Schon gut“, lachte Tsuru und kam die Treppe herunter. „Ich nehme an, ihr wollt euch verabschieden, so wie es dein Bruder und Eimi vor einer Weile gemacht haben?“
Alayna nickte.
„Die Vorbereitungen für die Reise sind bald fertig“, erklärte Kioku.
„Ginta hätte das auch ohne zu zögern gemacht“, erzählte Tsuru und lief auf einen der großen Tische in der Mitte zu und schnappte sich ein Spielzeug, das sie kreiert hatte. „Menschen helfen, meine ich.“
Da war wieder dieses merkwürdige Gefühl, wenn andere Leute etwas über ihren Vater erzählten. Auf der einen Seite war es sehr aufregend, so viele Dinge über ihren Vater herauszufinden. Jedoch drückte ihr auch etwas auf die Brust, das sich so ähnlich wie Schuld anfühlte, denn sie wusste eigentlich nichts über ihren Vater.
„Weißt du“, sprach Tsuru jetzt direkt zu Alayna, „dein Vater hat mich nie so angesehen wie die anderen. Er sah nicht das kleine Monster, das etwas Absonderliches konnte. Er sah einfach nur mich.“ Tsuru musste etwas kichern. „Ginta hat mich vor einem schrecklichen Leben bewahrt und dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Ich muss mich an dieser Stelle bei euch entschuldigen, dass ich euch da mitreingezogen habe, dieser ganzen Sache mit dem Labor, das tut mir unendlich leid. Ich hätte euch niemals in diese gefährliche Situation bringen sollen.“
„Wir haben Glück, dass das am Ende so gut gelaufen ist“, beschwichtigte Kioku sie und setzte sich an den Tisch dazu. Als sie und Tsuru von dem goldgelben Licht der Lampen angestrahlt wurden, sahen die jungen Frauen in Alaynas Augen unglaublich stark aus. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich richtig klein im Vergleich zu den beiden, die schon so viel hatten durchmachen müssen. Aber sie fühlte sich auch stark, denn sie konnte sich immer auf ihre neuen Freundinnen verlassen.
„Wir haben so vielen Menschen geholfen“, sprach Alayna. „Aber unsere Aufgabe ist noch nicht beendet. Wie ist diese Stadt der Ärzte so?“
Kioku und Tsuru zuckten mit ihren Schultern. „Ich war noch nie dort“, antwortete Tsuru knapp. „Sayoko hat mir erzählt, was ihr alles vorhabt. Bist du nervös, Kioku?“
Sie zögerte einen Moment, bevor sie antwortete und rieb sich mit ihrer Hand den Hals. Unbemerkt griff sie mit der anderen nach ihrer Narbe. „Etwas.“
Alayna setzte sich neben sie und griff nach ihrer Hand und hielt sie ganz fest, so wie Kioku das bei ihr gestern getan hatte. „Wir finden Antworten auf deine Fragen.“
„Ihr werdet alle eure Antworten bekommen, so wie ich meine bekam“, erklärte Tsuru und wandte sich für einen kurzen Moment ab. Eine bedrückende Stille breitete sich in dem Raum aus. Dann griff Alayna nach Tsurus Hand. Sie drehte sich wieder zurück, setzte sich an den Tisch und gemeinsam hielten sie Hände und sahen sich an. Alayna spürte die Trauer, die Angst und die Sorgen und auch in ihr kam ein beklemmendes Gefühl hoch. Sie unterdrückte den Drang zu weinen.
Dann durchbrach Tsuru die Stille und lud die Mädchen auf etwas zu trinken ein. „Kûosa wartet schon geduldig auf dich“, erklärte Tsuru und führte sie zurück ins Anwesen. „Er möchte sich auch von dir verabschieden.“
Kioku kicherte und Alayna grinste nervös.

Es dauerte eine Weile, bis sich Alayna aus Kûosas Armen befreien konnte. Der Hasenbär stürmte überglücklich zu Alayna, die sich nach dem gemeinsamen Tee mit Tsuru dazu entschied, sich auf eine Umarmung mit Kûosa einzulassen. Schluchzend umarmte der Bär sie und hob sie in die Höhe, sodass sie mit den Beinen zappelte. Er schien keinen glücklichen Eindruck zu machen, als sie sich gemeinsam auf den Weg zu den Kutschen machten. Dort angekommen, drückte auch Tsuru die beiden zum Abschied.
Auf dem Vorplatz des Anwesens standen nun alle Kutschen bereit. Die Schutztruppler halfen den Personen in die Wagen, die so schwach oder verletzt waren, dass sie es nicht allein konnten. In jeder Kutsche saßen dann jeweils drei Schutztruppler dabei. Alayna sah, wie sich Suna gerade von Eimi und Takeru verabschiedete und in den Wagen stieg. Sayoko stand nicht weit entfernt neben Nal, wohl um noch einige finale Sachen zu klären. Als die Mädchen von Eimi und Takeru bemerkt wurden, kamen sie direkt auf sie zu.
„Es ist so weit“, sprach Kioku an die Jungs gewandt. „Ich nehme an, ihr lasst euch nicht mehr umstimmen?“
Takeru sah bedrückt zu Boden und schüttelte den Kopf. Eimi sah ihr zwar direkt in die Augen, deutete aber auch eine Verneinung an.
„Ich weiß, dass ich Papa finden werde“, erklärte Tak und blickte seine Schwester an. „Ich werde dann ganz schnell nachkommen.“
„Versprecht ihr, dass wir uns dort wiedertreffen werden?“, wollte Kioku wissen.
„Klar“, antwortete Eimi.
„Lasst uns nicht warten“, sagte Alayna in einem vorwurfsvollen Ton.
„Wir werden uns beeilen.“
Alayna kam dieses Gespräch unglaublich merkwürdig vor. Es war, als gäbe es gerade nichts anderes, als diese vier Personen. All das, was um sie herum geschah, nahm sie nicht wahr. Und wieder wurde ihr Körper von einem mächtigen Gefühl paralysiert, was die Zeit noch umso langsamer ablaufen ließ. Mal wieder war es Kioku, die zuerst das Wort ergriff.
„Passt bitte auf euch auf. Es ist so gefährlich dort draußen. Personen wie wir tendieren dazu, Gefahr magisch anzuziehen.“
Eimi gab einen kurzen Lacher von sich. „Keine geheimen Labors mehr, versprochen“, entgegnete er und kratzte sich unbewusst an seinem Verband.
„Wenn ihr irgendetwas herausgefunden habt, holt uns aus Yofu-Shiti ab“, forderte sie.
„Das werden wir“, versprach Takeru. „Ich wünsche, dass du eine Antwort findest, Kioku.“
Wie Takeru das sagte, spürte Alayna, dass er gerade sehr ehrlich war. Trotzdem verriet seine Körperhaltung, dass er unglaublich unsicher war, Angst hatte und sich eigentlich nicht von der Gruppe trennen wollte. Takerus Augen hatten immer schon vor Abenteuerlust und einer Leidenschaft gebrannt, die Alayna nie verstanden hatte. Jedoch in diesem Augenblick, dem Zeitpunkt einer Trennung, die sie so noch nie gehabt hatten, wirkten seine Augen sehr traurig und sorgenvoll. Es war, als wüsste Alayna ganz klar, was ihr Bruder fühlte, konnte aber keinen dieser Gedanken in Worte verwandeln. Sie schluckte. Es kamen keine Worte über ihre Lippen. Sie sagte nicht, dass sie unglaubliche Angst hatte, sie sprach nicht über ihre Sorgen, sie sprach nicht über den Egoismus, den sie in ihrem Bruder sah und auch nicht über diese schwere Ungewissheit, die sich wie eine dichte Decke über jeden hier legte und sie beinahe zu ersticken drohte. Diese Unfähigkeit zu reden machte die Situation nur schwerer und auch die anderen sprachen nicht. Ein Moment der Stille kehrte ein, in dem sich alle ansahen und es nicht über sich brachten, etwas Aufbauendes zu sagen.
Alayna sah, wie Eimis Hand sich kurz bewegte, er jedoch seine Hand schnell wieder einzog. Dieses Bild brannte sich in ihren Kopf und sollte sie für eine Weile nicht mehr loslassen.
„Wir fahren jetzt, steigt bitte ein“, hörte sie dumpf einen der Schutztruppler sagen, der den Mädchen die Tür aufhielt.
Dann passierte es, ohne dass noch jemand was sagte. Kioku hob ihre Hand zum Abschied und so taten es die Jungs. Alayna und sie stiegen ein. Bevor die Tür geschlossen wurde, kam Sayoko noch kurz herein und drückte zunächst Kioku und dann Alayna.
„Schenk ihnen Vertrauen, es wird alles gut“, flüsterte Sayoko in ihr Ohr. Dann wurde die Tür geschlossen und Alayna sah zu, wie sie sich von ihrem Bruder, Eimi, Sayoko und dem Anwesen entfernten. Kioku grinste und schien nun voller Vorfreude zu sein, endlich den Antworten, die sie schon so lange suchte, näher zu kommen. Dann, als das Anwesen hinter dem Wald verschwand, fing Alayna unglaublich an zu weinen.

 


Kapitel 34 – Die Farm der Reiher


Ein kleiner Stein schlug gegen ein Fenster. Es war kaum zu hören, da ein starker Wind in der Umgebung alles bewegte. Die Knospen, die noch keine Blätter waren, brachten zwar kein Rauschen zustande, jedoch war ein Knarzen der großen Äste zu hören, die im Wind mitschaukelten. Der Wind drückte gegen die Hauswand und von irgendwo hörte man lose Fensterläden, die in einem unregelmäßigen Rhythmus immer wieder gegen ihr Fenster schlugen.
Da war es wieder. Ein weiterer Stein traf das Fenster. Im Zimmer kroch jemand unter seiner Decke hervor, setzte sich auf und kratzte sich am Kinn. Gähnend stand er auf, zog seine Boxershorts zurecht und ging zum Fenster, gerade als ein dritter Kiesel Aufmerksamkeit forderte.
Eimi öffnete das Fenster und sah gähnend hinaus. Kalte Luft strömte auf einmal durch den ganzen Raum und schob die dicke, verbrauchte Luft der Nacht beiseite. Nicht weit vom Fenster entfernt saß jemand auf einem dicken Ast und winkte Eimi zu und er dachte daran, dass die zwei Tage nun vergangen waren. Er ignorierte die Person, die dort draußen saß und wandte sich Takeru zu, der in seinem Bett, eingewickelt in seiner Decke, sein Kopfkissen umarmend, tief und fest schlief. Als Eimi nähertrat, bemerkte er, dass seine Augen sich unter seinen Lidern bewegten. Er musste träumen.
„Tak, es ist Zeit“, sprach Eimi leise und berührte ihn sanft an der Schulter. Statt jedoch aufzuwachen, gab Takeru einen kurzen Schnarcher von sich und drehte sich um. Eimi packte ihn nun fester und versuchte ihn wachzurütteln.
„Wie machen deine Eltern das nur immer“, seufzte Eimi, als er Takeru nicht wachbekam. Am Fenster erschien zur selben Zeit ein Schatten, welcher in das Zimmer kam.
„Bekommst ihn nicht wach, was?“, kicherte eine pubertäre Stimme. Ea Noacks war gekommen, um die Freunde für die bevorstehende Reise abzuholen. Er sah dabei aus wie ein 15-jähriger Junge, der trotzdem die gleichen schwarzen Klamotten und das gleiche schwarze Stirnband wie sonst trug.
Eimi schüttelte den Kopf, woraufhin Ea Takeru an den Füßen packte und mit seinen Fingerspitzen kitzelte. Kurz darauf schreckte Takeru verschlafen hoch und machte dabei einen so merkwürdigen Gesichtsausdruck, dass Ea einen Lachanfall bekam.
„Das macht jetzt schon Spaß!“, kicherte Eimi wieder.
„Was, was ist denn los?“, fragte Takeru verwundert und fühlte mit seinen Händen die Umgebung ab, als ob er etwas suchte.
„Er ist da“, erklärte Eimi und wandte sich zu seinem Bett um, um seine Sachen zu packen. Ihm schien es klar zu sein, dass die Reise sofort beginnen musste. Eimi wollte den Beginn der neuen Reise vorsichtig beginnen und Ea so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten. Irgendetwas in ihm zügelte seine riesige Neugier und riet ihn zur Vorsicht.
„Ihr seid dabei, nehme ich an?“, fragte Ea neugierig und setzte sich auf einen Stuhl. Dabei lehnte er sich nah in Richtung von Takerus Bett und beobachtete ganz genau, wie er aus seinem Bett ausstieg, sich einmal durch die Haare fuhr und seine Unterhose zurecht zog. Ein eiskalter Schauer fuhr Takeru durch den Rücken und er wusste nicht, ob das durch den starken Luftzug des offenen Fensters kam oder davon, dass Ea ihn beobachtete.
„Wir sind dabei“, antwortete er und sah Eimi an. „Was passiert jetzt?“
Eimi, der dabei war, sich seine Hose und sein Shirt anzuziehen, hielt kurz inne und blickte Ea an. Dieser schreckte hoch, als hätte er nicht erwartet, dass er antworten müsse und stand ebenfalls auf.
„Wir laufen los, würde ich sagen“, grinste Ea, streckte sich und verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf. „Jetzt wäre gut.“
„Warum ausgerechnet jetzt?“, erwiderte Takeru. „Es ist mitten in der Nacht.“
„Nun ja, der Morgen bricht bald an, ich mag die Morgensonne“, erklärte Ea und betrachtete dabei seine imaginäre Armbanduhr. „Außerdem habe ich euch genau zwei Tage gegeben, euch zu entscheiden. Es ist Zeit.“
„Also meintest du mit zwei Tagen genau achtundvierzig Stunden“, erkannte Eimi und seufzte leicht.
„Dass du das so genau nimmst, wusste ich nicht“, murmelte Takeru. Ea grinste nur.
Danach kehrte eine Ruhe ein, welche nur durch die Geräusche des Packens und des Wetters unterbrochen wurde. Takeru, der etwas fror, machte das Fenster wieder zu und packte danach auch seine Sachen. Er zog sich an, hängte den Kompass um seinen Hals und versicherte sich, dass das Tagebuch gut verstaut war. Es sollte weder jemand mitbekommen, dass er dieses Buch hatte, noch sollte es durch äußere Einflüsse wie schlechtes Wetter kaputt gehen. Die Vorräte, die sie von Sayoko und Tsuru bekommen hatten, wurden auch sorgfältig eingepackt. Eimi hatte einen Umschlag mit Geld tief in seine Tasche gesteckt. Er schnallte sich das Schwert um und zog seinen Poncho wieder an. Die Müdigkeit war beiden Jungs ins Gesicht geschrieben. Ea hingegen wirkte fröhlich, begnügt und fit.
Es dauerte keine lange Zeit, bis alles gepackt war und die Jungs losziehen konnten. Leise öffnete Takeru die Tür, um sich nicht bemerkbar zu machen und schlich mit Ea nach draußen. Eimi blieb noch für einen kurzen Moment zurück und legte ein Blatt Papier auf den Tisch im Zimmer. Er ging zur Tür, sah sich noch einmal um, nickte sich selbst bestätigend zu und schloss den Raum hinter sich. Die Suche nach Takerus Vater konnte nun weitergehen.

Es stimmte. Die Morgensonne war grandios. Die hellen, goldenen Lichtstrahlen, die sich durch die Zweige der Bäume drückten, warfen amorphe Muster auf den dunklen Boden. Die Feuchtigkeit der Nacht verschwand schnell durch den starken Wind, der immer noch wehte. Der Wind pfiff durch den Wald, den es nun zu durchqueren galt. Takeru wunderte es, dass Ea nicht noch einmal nach dem Kompass fragte, als sie sich allmählich von Sayokos Anwesen und aus Prûo entfernten. Die Eindrücke, die Takeru in den letzten Tagen von dieser Stadt gesammelt hatte, lagen mehr als schwer in seinem Magen.
Eimi ging das genauso. Es beeindruckte ihn unglaublich, dass Sayoko mitunter eine Organisation gegründet hatte, die für die Sicherheit eines ganzen Kontinents zuständig war. Wenn diese Reise beendet war und Takerus und Alaynas Vater gefunden war, nahm er sich vor, dieses Konzept mit nach Hause zu nehmen. Es dauerte kein ganzes Jahr mehr, bis er achtzehn Jahre alt sein würde. Es wäre dann an der Zeit, seine Zukunft neu zu planen. Er liebte das Waisenhaus und die Arbeit darin, aber mittlerweile schien ihm die Welt zu Hause so klein. Er könnte, so wie Sayoko es tat, etwas für seine ganze Nation tun. Eimi wusste auch, dass Krau und Ensei seine Arbeit irgendwann übernehmen könnten. Es war schwer, nicht in Traurigkeit zu verfallen, als er so an seine Freunde und Familie dachte.
Ea führte die Gruppe an. Es wurde erst wenig gesprochen, was wahrscheinlich daran lag, dass Eimi und Takeru immer noch sehr müde waren. Ab und an klappte Takeru im Gehen das Tagebuch auf, um zu überprüfen, was darin stand; er fand jedoch keine weiteren Einträge. Der Kompass reagierte auch nicht und so konnten sie sich nur auf Ea verlassen, der wohl die richtige Richtung kannte.
Es verging einige Zeit, bis Eimi eine Pause vorschlug, als die Sonne schon recht hoch am Himmel stand. Er setzte sich auf einer Wiese am Waldrand auf einen Stein und holte tief Luft.
„Ich habe total die Zeit aus den Augen verloren“, meinte Takeru und schaute sich um. Es war noch nicht ganz Frühling, aber einige der Bäume und Büsche hatten schon kleine Blätter. Dann holte er etwas zu essen aus seiner Tasche. Als er Ea einen Apfel reichte, machte dieser einen großen Satz nach hinten.
„Widerlich! Weg damit!“, schrie Ea, fuchtelte wild mit den Armen und rannte dabei im Kreis.
Eimi betrachtete den verrückten Jungen und verzog dabei seine Augenbrauen. Im Blickaustausch mit Takeru bemerkte er, dass auch er keine Ahnung davon hatte, was gerade geschah.
„Möchtest du etwas anderes haben?“, fragte Takeru und packte einen Apfel wieder ein. Den anderen warf er Eimi zu.
„Alles außer das! Dieses Ungetüm an Frucht kommt mir nicht nahe. Ekelhaft, dieses Zeugs“, verteidigte sich Ea und hörte nicht auf, mit seinen Armen zu rudern.
Schnell kramte Takeru etwas anderes heraus und warf Ea ein kleines Sandwich zu. „Besser?“
Ea nickte.
„Wenn wir schon so zusammensitzen“, fing Takeru an, biss von seinem Apfel ab und sah Ea dabei zu, wie er angewidert sein Gesicht zu einer Grimasse verzog, „kannst du mir ja einige Fragen beantworten. Wieso kannst du den Kompass verwenden?“
„Wenn du geduldig bist, wirst du es bald erfahren“, antwortete Ea kühl.
„Wer ist die Person, zu der wir gehen?“
„Ein alter Freund“, sprach Ea und blickte verträumt in den Himmel.
„Wie kann er uns helfen, meinen Vater zu finden?“
„Er ist der eigentliche Besitzer des Kompasses. Mit dem Kompass natürlich.“
„Warum weißt du, wie das Schwert funktioniert?“, hakte Eimi ein, der ebenso neugierig war, wie sein Freund.
„Es ist meins, Dummerchen.“
„Warum willst du es nicht haben?“ Eimi schluckte den letzten Bissen seines Apfels herunter und holte das Schwert hervor. „Wenn es deins ist, dann willst du es doch sicher wiederhaben?“
„Nö“, antwortete Ea knapp und grinste. Er lehnte es ab, Eimi das Schwert abzunehmen. „So ist’s viel spannender.“
„Wir haben gerade keine Chance, unsere Fragen ordentlich beantwortet zu bekommen?“ Eimi schien verzweifelt. Takeru beobachtete den Pinkhaarigen genau, doch dieser zuckte nur mit seinen Schultern und grinste wieder.
„Tak“, sprach Eimi und wandte sich zu seinem Freund. „Ich habe mir überlegt, dass wir während der Reise weiterhin zusammen trainieren könnten. Wir sollten weiterhin körperlich und geistig trainieren, da wir nicht wissen, was auf uns zu kommt, findest du nicht?“
„Klar, voll gern!“, freute sich Takeru und legte seine Tasche ab. „Lass uns doch gleich nochmal eine Meditation machen und später etwas Fitness?“
Auch Eimi legte seine Sachen ab und zusammen mit Takeru setzte er sich auf die kalte Wiese.
„Also wie üblich?“, schlug Eimi vor. Dann machten beide einen Schneidersitz, platzierten ihre Hände auf den Knien und schlossen ihre Augen. Der erste Versuch, sich zu konzentrieren, wurde jedoch von Ea gestört, der die beiden unterbrach, als er neugierig um sie herumlief.
„Hey, was macht ihr da? Hey? Was soll das?“, fragte er immer wieder. Eimi versuchte zunächst, ihn mit einer Handbewegung wegzuwinken, als er jedoch nicht aufhörte, Fragen zu stellen, erklärte Eimi ihm, wieso sie meditierten. Ea zuckte nur wieder mit den Schultern, kommentierte es nicht und setzte sich auch dazu.

Da war wieder diese Dunkelheit, die Takeru umgab, als er schon längst ein Gefühl für Zeit verloren hatte. Die Ruhe, die um ihn herum herrschte, half ihm, sich komplett auf sich selbst zu konzentrieren. Er suchte wieder nach dem einen Licht, das ihm helfen sollte, einerseits sich selbst zu finden und andererseits Fähigkeiten zu entwickeln. Doch die Suche schien vergebens.
Irgendwann kamen ihm einige Bilder seiner Familie in den Sinn. Er sah, wie seine Mutter ihn weckte, wie sein Vater ihr aus der Zeitung vorlas oder wie Alayna ihm einen dieser „Lass mich doch in Ruhe“-Blicke zuwarf, die er so sehr an ihr hasste. Er sah, wie sein Zuhause abbrannte, wie Alayna nicht mehr im Hotelzimmer war und wie Ryoma, dessen Gesicht er aufgrund des riesigen Feuers, welches aus dem Labor kam, nicht ordentlich sehen konnte, ihn anschrie. Zwei Bilder brannten sich besonders stark in die Finsternis. Das eine war sein Vater, der im Wald verschwand und das andere war seine Schwester, die in die Kutsche stieg und wegfuhr.
Eine unglaubliche Wut brannte ihn ihm auf, wie das Feuer, das sein Zuhause zerstört hatte. Er spürte es brennen, die Hitze, die Gefahr, es überkam ihn einfach, von der einen auf die andere Sekunde. Takeru verlor die Kontrolle. Erst gab es eine kleine Stimme, die versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen. Diese Stimme kam ihm bekannt vor; er konnte sie jedoch nicht zuordnen. Schwarze, finstere Flammen umschlungen und umgaben ihn und raubten ihm den Atem. Es blieb ihm nichts mehr anderes übrig, als sich dieser Wut zu ergeben. Er ließ sich fallen und die Flammen verwandelten sich in einen Wirbelsturm, der so dick und schwarz war, dass er nichts mehr sehen konnte.

Plötzlich wurde er wach und jemand stand über ihm. Eimi schüttelte ihn wach und erst dumpf, dann jedoch klarer war zu hören, ob alles gut sei.
Takeru setzte sich auf und sah verwirrt um sich herum. „Was ist passiert?“
„Wir haben eine Weile meditiert, ich war etwas früher fertig als du, habe dich aber nicht stören wollen. Plötzlich bist du einfach umgekippt und hast merkwürdig gezappelt. Alles in Ordnung?“ Eimi hielt Takeru an seiner Schulter, sodass er nicht noch einmal umkippen konnte.
„Ich … Ich denke schon“, murmelte Takeru und sah sich um. Sie waren immer noch am selben Ort. Die Bilder, die er gerade gesehen hatte, wurden immer unklarer, wie als würde ein Sandsturm durch seine Gedanken fegen. Eimi gab ihm noch einmal etwas zu trinken und zu essen und ließ ihm Zeit, sich etwas zu erholen. Nach einer Weile stand er auf und als Eimi noch einmal überprüfte, ob es ihm gut ging, lief die Gruppe weiter.
Sie redeten kaum, nicht über die Erfahrungen der Meditation, noch über die Fragen, die sie Ea stellen wollten. Die Ereignisse der letzten Zeit drückten auf die Stimmung. Wäre Kioku da gewesen, hätte sie durch eine Unterhaltung die Stimmung aufgelockert. Doch sie war nicht da.
Ea lief immer sehr zielstrebig voraus und blickte kaum nach hinten. Eimi schien es fast, als ob der sehr ausgeflippte Charakter von Ea seinen Tribut kostete: eine merkwürdige, in sich gefangene Stille. Irgendwie ergab es für Eimi auch Sinn, dass jemand, der seine Gestalt verändern konnte und wahrscheinlich noch etliche andere Geheimnisse in sich trug, keine Fragen über Alltägliches stellen wollte. Nun musste er an Alayna denken, die nicht nur mehr Komfort auf ihrer Reise hatte, sondern auch Kioku bei sich hatte, die immer half, die Stimmung wieder zu heben.

Als es bald Abend war und Eimi sich vollends versichert hatet, dass Takeru fit war, schlug er vor, einige sportliche Übungen zu machen. Sie hatten eine weite Strecke hinter sich gelegt und wollten ein Lager aufschlagen, als Eimi ihm diesen Vorschlag machte. Takeru freute sich darauf und gemeinsam bereiteten sie zunächst ihr Lager am Waldrand vor und stimmten sich auf ein paar Übungen ein. Ea verneinte die Fitnessübungen und lehnte sich an einen Baum, um eine Pause zu machen.
Nach ein paar Dehnungen machten die Jungs Hampelmänner, Sit-Ups, Liegestütze und weitere Übungen, welche die verschiedensten Muskeln des Körpers beanspruchten. Takeru fühlte an einigen Stellen an seinem Körper plötzlich Muskeln, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass sie dort existierten. Eimi forderte viel von seinem Freund. Es war anstrengend.
Der Abschluss der Übungen sollte dann ein Wettrennen sein.
„Siehst du dort, am Ende des Waldes die Lichtung?“, zeigte Eimi ihm mit dem Finger. Zwischen den Bäumen in der Ferne sah er ein orangenes Leuchten der untergehenden Sonne. „Wer zuerst dort ist. Und … Los!“
Auf sein Zeichen rannten die beiden Jungs los. Sie wichen den Bäumen aus, sprangen über entwurzelte Stämme und dicke, aus dem Boden herausragende Wurzeln und versuchten, sich gegenseitig abzuhängen. Der schnaufende Takeru bemerkte aber, dass Eimi genauso schnell war wie er.
„Wenn du mich gewinnen lässt, weil du nett bist, merk ich das!“, brüllte Takeru und gab noch einmal Vollgas. Auch Eimi zog an und nahm an Geschwindigkeit auf. Am Ende des Waldes wurde das orangene Leuchten der untergehenden Sonne immer stärker. Die beiden Jungs kamen ihrem Ziel immer und immer näher. Als sie dann einen Blick auf die Lichtung werfen konnten, sahen sie den Schatten einer Person, auf einem riesigen Feld stehen.
Die Person drehte sich schlagartig um und schrie die beiden an, anzuhalten. Doch die Jungs konnten nicht schnell genug reagieren, als im nächsten Augenblick über den Wipfeln der Bäume, welche die Lichtung umgaben, ein riesiger schwarzer Schatten hereinbrach. Eimi brachte es zustande, stehen zu bleiben und seine Arme schützend über seinen Kopf zu werfen, als der Schatten über sie hereinbrach. Takeru stolperte und fiel zu Boden. Für den kurzen Augenblick, in dem er sich in der Luft befand, erstarrte sein Körper und seine Sicht wurde eng und tunnelartig. Die dunkle Welle an Tieren, die über den Himmel über sie herzog, erinnerte Takeru an die schwarzen Flammen, die während seiner Meditation seinen Geist eingenommen hatte. Dann landete er bewusstlos am Boden.
Mit einem tosenden Schnattern und Flattern landeten um die Jungs herum eine unzählbare Menge an Reihern, die alle wie bei einer einstudierten Aufführung nacheinander auf der Wiese landeten, ruhmreich mit ihren Schnäbeln klapperten, ihre Flügel zur Entspannung auf- und zuschlugen und dann zur Ruhe kamen. Die Welle an Vögeln schien kein Ende zu nehmen und einige der Tiere landeten zwischen den beiden.
Eimi sah die Person, die vorher auf dem Feld gestanden hatte, auf sie zulaufen. Es stellte sich heraus, dass es ein Mädchen war, dessen langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten waren, die es seitlich trug und hinten zusammengebunden hatte. Es trug eine Brille und eine schwarze Strickjacke über seiner ärmellosen hellen Bluse. Als es zwischen den Reihern hervorkam, streichelte es einige davon und nickte anderen bestätigend zu. Dann fixierte es Eimi mit einem strengen Blick.
„Was auch immer ihr hier macht, ihr müsst gehen!“, forderte das Mädchen und stellte sich direkt vor ihn.
„Pruzina!“, hörten sie eine männliche, tiefe Stimme aus der Ferne rufen. Das Schnattern und Flattern der Vögel war nicht laut genug, diese Stimme zu übertönen.
„Großvater, hier ist jemand!“, rief sie zurück und streckte ihren Arm nach oben. Die Reiher waren teilweise mit ihren ausgestreckten Flügeln und Hälsen um einiges größer als das Mädchen.
Die ganze Lichtung war nun voller Reiher. Es gab keinen freien Platz mehr. Im Gegenlicht der untergehenden Sonne machte Eimi einen großen Schatten aus, der sich auf die Gruppe zubewegte. Wie sich herausstellte, war es der Großvater des Mädchens.
„Ich muss euch bitten zu gehen“, sprach der Mann ohne Begrüßung. Er hatte kurze grauweiße Haare und einen Vollbart. Er trug ein weißes Hemd und eine braune Cordweste. Sein Blick wirkte durch die Falten in seinem Gesicht sehr streng. „Das hier ist ein Schutzgebiet für die Reiher und ihr müsst unverzüglich das Gelände verlassen.“
„Entschuldigen Sie“, sprach Eimi. „Wir haben dort im Wald unser Lager aufgeschlagen und wussten nicht, dass das hier ein Schutzgebiet ist. Wir werden gehen.“
„Ich befürchte, ihr müsst euer Lager abbrechen und woanders hinziehen. Der Wald, dessen Teiche und Sümpfe gehören ebenfalls zum Schutzgebiet der Reiher.“
„Wo hört das Schutzgebiet denn auf?“, hakte Eimi neugierig nach und sah sich noch einmal um.
Der Mann hielt für einen kurzen Moment inne, verlor dabei aber in keiner Sekunde den Eindruck von Strenge. Eimi sah sich um und versuchte zwischen den Reihern Takeru zu entdecken.
„Tak?“, fragte er und der Großvater und das Mädchen sahen ihn verwirrt an.
„Da war doch gerade noch ein Junge“, sprach Pruzina. Nervös sahen sie und Eimi sich um. Es war aber der Großvater, der auf einen kleinen Kreis an Reihern zeigte, deren Mitte frei war. Vorsichtig bewegte er sich dorthin und entdeckte den bewusstlosen Takeru neben sich.
„Nicht schon wieder“, murmelte Eimi, bevor er versuchte Takeru wach zu schütteln und sich auf die Unterlippe biss. Das Mädchen sah ihren Großvater, der sich, ohne zu zögern, hinkniete, Takeru hochhob und ihn ins Haus brachte. „Bringt all eure Sachen“, waren seine Worte zu Eimi.

Es war irgendwann in der Nacht, als Takeru allmählich wach wurde. Während der ganzen Zeit, die er bewusstlos gewesen war, hatte er gar nichts bemerkt und geträumt. Sich den Kopf haltend, als hätte er Kopfschmerzen, setzte er sich auf und tastete um sich. Er musste erst einige Male blinzeln, um zu erkennen, wo er sich befand. Er saß auf einem Bett in einem kleinen Raum, in dem sich außer einem kleinen Sofa, auf dem Ea schnarchend schlief, und einem massiven Holzschrank nichts befand. Um sich noch etwas besser zu orientieren, warf er einen Blick aus dem kleinen Fenster neben ihm, durch das das Licht des Mondes schwach fiel. Es war gekippt und er konnte die Reiher hören, wie sie leise mit ihren Flügeln schlugen oder mit ihren Schnäbeln klapperten. Was war nur passiert?
Er wandte sich zurück zum Raum und entschied sich, aufzustehen. Als er die Decke von sich weglegte, bemerkte er, dass er noch seine Kleidung anhatte. Er tastete sich ab, beginnend mit den Knien und hielt bei seiner Brust inne. Ein erleichtertes Seufzen entglitt ihm, als er merkte, dass der Kompass noch da war. Er holte ihn unter seiner Kleidung hervor und hielt ihn fest in der Hand. Er war kühl und fühlte sich irgendwie schwer an. Dann erinnerte er sich an die Sachen, die am Tag passiert waren. Das Training mit Eimi, die Meditation und dann die schwarzen Flammen. Irgendetwas passierte mit ihm. Jedoch schob er diese Gedanken schnell beiseite, um an seinen Vater zu denken, der verschwunden war. Takeru fragte sich, was er in so einer Situation tun würde, nach all den Geschichten, die er von seinem Vater nun schon gehört hatte. Würde er alles in Bewegung setzen, um auch seinen Vater zu finden, obwohl Takeru wusste, dass er seinen Vater sehr früh verloren hatte?
Takeru merkte, dass er müde war, jedoch auch hungrig. Er wollte gerade aufstehen, als er Eimi entdeckte, der vor seinem Bett auf dem Boden schlief. Fast wäre er auf ihn draufgetreten. Mit seinem großen Zeh stupste er seinem Freund ins Gesicht.
„Psst, Eimi“, flüsterte er, denn er wollte Ea nicht aufwecken. „Hey, Eimi.“
Eimi zuckte zusammen, richtete sich dann aber auf. „Was ist los?“, murmelte er vor sich hin und Takeru legte seinen Zeigefinger auf seine Lippen, um ihm zu signalisieren, still zu sein.
„Oh, du bist wach“, flüsterte nun auch Eimi. „Komm mit.“
Eimi stand auf, kratzte sich müde am Oberschenkel und führte Takeru aus dem Raum heraus. Sie befanden sich im ersten Stock einer größeren Holzhütte. An den Wänden hingen alte Familienphotos in schwarz-weiß. Ab und an hing auch eine Kinderzeichnung von Reihern dazwischen. Die Holzdielen knarzten beim Gehen. Als sie die Treppe nach unten nahmen, befanden sie sich in einer relativ großen Wohnküche. Auf einem Tresen befand sich ein kleiner abgedeckter Teller und ein großes Glas Wasser.
„Gaza hat es für dich vorbereitet, für den Fall, dass du wach wirst“, erklärte Eimi. Takeru sah ihn erst verwundert an, fragte jedoch nicht. Er setzte sich auf einen Hocker an den Tresen und Eimi setzte sich dazu. Es war ein großes Sandwich unter dem Tuch und Takeru fing an, genüsslich zu essen.
„Du bist ohnmächtig geworden“, erklärte Eimi und überlegte kurz, wie er weitererklären konnte. „Gaza und seine Enkelin Pruzina leben hier auf dieser Farm, auf der zu dieser Jahreszeit viele Reiher leben. Als du ohnmächtig geworden bist, hat Gaza dich in sein Haus gebracht, während ich mit Ea das Lager im Wald abgebrochen habe. Gaza hat uns angeboten, für eine Nacht hier zu bleiben, damit wir uns darum kümmern können, dass es dir besser geht. Ich habe es übertrieben.“ Eimi seufzte und fuhr sich einmal durch das Haar. „Ich hätte nicht so viel von dir verlangen sollen. Wir sind sehr lange gelaufen, dann noch das mit der Meditation und dem körperlichen Training. Ich hätte wissen müssen, wann Schluss ist.“
Während Takeru weiter aß, konnte Eimi nicht sagen, dass er eine Angst spürte, nicht stark genug zu sein. Aber auch Takeru, der den Worten Eimis gut zuhörte, verheimlichte Eimi, was er wirklich während der Meditation gesehen hatte. Takeru spürte etwas in sich, das er noch nicht beschreiben oder zuordnen konnte.
Für einen Moment waren beide still und lauschten den Geräuschen, die von draußen kamen.
„Ist gut“, sagte Takeru endlich, als er fertig gegessen hatte. „Ich habe es ja schließlich auch übertrieben.“
Er griff nach dem Kompass an seiner Brust.
„Fühlst du dich wieder besser?“, hakte Eimi nach, der sich noch nicht ganz sicher war, ob nun wirklich alles geklärt war.
Takeru nickte und zeigte grinsend auf den leeren Teller. „Das hat schon mal geholfen.“
Ein plötzliches Knarzen ließ die Jungs aufmerksam werden. Gaza, der alte Mann, kam die Treppen herunter, blieb am Ende dieser für einen Moment stehen und nickte den beiden Jungs zu, die im Halbdunkeln am Tresen saßen. Er schaltete das Licht einer kleinen Lampe an und füllte sich am Waschbecken ein Glas Wasser.
„Herzlichen Dank für das alles hier“, bedankte sich Takeru beim Alten.
„Keine Ursache“, brummte der alte Mann, leerte das Glas und setzte es etwas zu hart wieder auf der Arbeitsfläche ab. „Wenn ihr geht, passt bitte darauf auf, dass ihr den Reihern nicht zu nahe kommt.“
Eimi nickte, was Takeru etwas verunsicherte. „Entschuldigen Sie, was hat es mit den Reihern auf sich? Das sind etwas sehr ungewöhnliche Farmtiere, nicht wahr?“, fragte Takeru ganz neugierig nach und suchte sich Bestätigung von seinem Freund.
Gaza stützte sich auf die Arbeitsfläche am Waschbecken und wandte sich nicht zu den Jungs. Stattdessen starrte er hinaus in die Nacht. Es wirkte, als würde er mehr mit sich selbst sprechen, anstatt mit den beiden. „Diese Tiere kommen zweimal im Jahr in diese Region, um sich zu paaren, ihre Jungen aufzuziehen und weiter in den Süden zu fliegen. Meine Enkelin und ich sind die einzigen Menschen in der Region, die sich für den Schutz dieser Tiere einsetzen.“
„Aber das sind doch ganz schön viele Tiere, wie beschützen Sie diese?“, hakte Takeru nach, der das ganze Konzept der Farm noch nicht ganz verstanden hatte.
Gaza ballte die Faust. Eimi konnte nur schwach die Spiegelung seines Gesichts im Fenster sehen, jedoch wusste er, dass in der Vergangenheit des Alten schlimme Dinge passiert sein mussten.
„Sie wurden gejagt“, sprach Gaza. „Die Menschen haben nie verstanden, dass jedes Tier in unserem Land Teil eines großen Ganzen ist, ein Kreislauf, der wichtig für die ganze Umwelt ist.“
Als Takeru für die nächste Frage ansetzte, hob Gaza seine Hand und unterbrach ihn. „Es ist sehr spät, ihr solltet wieder ins Bett gehen, sonst weckt ihr noch wen auf.“
Dann wandte er sich der Treppe zu, ohne noch einmal die Jungs anzuschauen und verschwand nach oben. Die beiden wartetem noch einen Augenblick ab, dann sprach Eimi: „Wir sollten wirklich ins Bett gehen, uns noch etwas ausruhen. Ea meinte, dass wir bald schon die Stelle erreichen könnten, die wir suchen. Dafür sollten wir fit sein.“
„Ist gut“, stimmte Takeru zu. Bald den Ort finden zu können, an dem er vielleicht einen Hinweis auf seinen Vater bekam, machte ihn glücklich und ließ ihn für einen Moment das merkwürdige Gefühl in seinem Bauch vergessen, welches er seit der Meditation hatte. Eimi und Takeru gingen nach oben und legten sich wieder schlafen.


Kapitel 35 – Heilungsprozess

Was ihr gleich als erstes auffiel, waren die kleinen, hellgrünen Blätter an den Bäumen, die sich langsam aus ihren Knospen befreiten. Es lag nun kein Schnee mehr auf dem Boden und den Pflanzen war es warm genug, wieder zu wachsen. Ab und an sah sie am Wegrand noch einige Schneeglöckchen, welche das Ende des Winters ankündigten.
Als zweites fiel ihr Blick auf Kioku, die, ihren Kopf an die Fensterscheibe der Kutsche gelehnt, in die Ferne starrte. Sie saß in der Kutsche nicht in Fahrtrichtung, also musste sie all das betrachten, was Alayna selbst einige Momente zuvor schon gesehen hatte. Es schien ihr, als würde Kioku in ihre unbekannte Vergangenheit schauen und nach Antworten suchen. Sie selbst sah auf das, was auf sie in der Zukunft wartete. Diese unbekannte Schwere bereitete ihr Magenschmerzen. Was musste sie noch opfern, um wieder ein normales Leben zu führen? War es möglich, überhaupt wieder ein normales Leben führen zu können? Je länger ihre Reise wurde, desto mehr wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung über das hatte, was in der Welt wirklich passierte.
Und da kam wieder das Gefühl, dass sie ihre Mutter im Stich gelassen hatte. Ganz verschwommen sah sie ein Bild ihrer Mutter vor sich, die irgendetwas tat. Sie mochte es selbst kaum zugeben, aber ihr war der Alltag als etwas so Gewöhnliches vorgekommen, dass sie sich kein klares Bild machen konnte, was ihre Mutter darin überhaupt für eine Rolle hatte. Natürlich war sie immer mit leckeren Essen versorgt worden und ihre mutter hatte auch die Wäsche gewaschen, aber es fühlte sich an, als würde ein Teil fehlen. Als sie noch sehr jung gewesen war, hatte ihre Mutter oft mit ihr gespielt oder etwas mit ihr unternommen. Aber wo war ihre Mutter nun? Oder hatte sie sich selbst schon vor einiger Zeit von ihrer Familie abgekapselt, weil sie jemand Eigenständiges sein wollte?
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als die Kutsche plötzlich halt machten. Es dauerte nur einen kurzen Moment, um zu erkennen, dass sie sich vor einem riesigen Stadttor befanden. Plötzlich fuhr die Kutsche wieder an und sie kamen in die Stadt hinein.
„Wir sind da“, sprach Kioku und sah sich ganz genau die Stadt an. Alayna nickte und warf auch einen Blick nach draußen. Sie fuhren die Hauptstraße hinauf ins Zentrum der Stadt. Entlang dieser befanden sich etliche riesige Gebäude, Einkaufsläden, Krankenhäuser, Schulen, Universitätsgebäude, Forschungseinrichtungen und weitere öffentliche Einrichtungen. Alles wirkte sehr sauber und prunkvoll. Selbst die Massen an Menschen, die von einem Ort zum nächsten wuselten, wirkten alle kultiviert und freundlich. Diese Stadt lud einen regelrecht dazu ein, hierher zu kommen, zu studieren, sich gesund pflegen zu lassen oder einfach nur eine schöne Stadtbesichtigung zu machen. Vor einem großen, weißen Steingebäude, dessen Eingang von großen Säulen beschützt war, standen einige Ärzte und Helfer bereit. Jeder dieser Ärzte trug Unterlagen mit sich herum und die Helfer hatten schon rollbare Betten und Rollstühle bereitgestellt. Diese Aufreihung an Leuten wirkte komisch auf Alayna. Noch nie hatte sie so eine große Ansammlung an Ärzten gesehen wie hier.
Mit einem weiteren Ruck blieben die Kutschen stehen, sie hörte einige Hufe nervös klappern und ein oder zwei Pferde wiehern. Zunächst stiegen die Schutztruppler von den Kutschen und erklärten den Passagieren, dass sie noch einen kurzen Moment warten sollten, bis sie aussteigen durften. Alayna blickte aus dem Fenster und sah Nal, der auf einen Arzt zuging, der eine Robe statt eines Kittels anhatte. Er schien wohl der Chef zu sein. Alayna hörte das Gespräch nicht, aber es schien, als würde Nal ihm einiges erklären. Nal wies dann auf den ersten Wagen und einer der Ärzte, die in der Reihe ganz vorne standen, gingen auf den Wagen zu und halfen den Leuten aus der Kutsche. Es schien, als würde jeder Arzt eine kleine Gruppe von Leuten bekommen, die sie behandeln sollten. Die Helfer unterstützten die Schutztruppler damit, die Älteren und Schwächeren in Rollstühle zu setzen. Nacheinander begaben sich kleinere Gruppen in das Gebäude.
„Was passiert nun?“, fragte Kioku den Schutztruppler, der vor ihrem Wagen stand.
„Die Patienten werden nun verschiedenen Fachärzten zugeteilt. Wenn Sie bitte noch warten würden, bis ich sie herauslasse“, antwortete dieser und drehte sich wieder um, um auf sein Zeichen zu warten.
Es blieb den beiden also nichts anderes übrig, als kurz zu warten.
„Endlich kann den Leuten geholfen werden“, meinte Kioku und sah dabei aus dem Fenster. Alayna bemerkte, dass Kioku gemischte Gefühle haben musste. Sie selbst fühlte Freude für die Patienten, denen endlich wirklich geholfen werden konnte. Dennoch verließ sie dieses Gefühl der Unsicherheit nicht, sondern klammerte sich nun noch enger an sie heran. Kioku nahm, ohne ihren Blick zu ihr zu wenden, Alaynas Hand und hielt sie fest. Es schien, als trüge nicht nur sie die Unsicherheit mit sich herum. Vielleicht war es endlich an der Zeit für Kioku, sich zu erinnern. Wie schlimm es nur sein musste, so isoliert zu sein und nicht zu wissen, wer man war. Für diesen einen kurzen Moment war es ruhig und Alayna sah ein Bild ihrer Familie vor ihrem inneren Auge. Vielleicht war ihr nicht klar, wer sie selbst war.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sich die Tür auf einmal öffnete. Der Schutztruppler half den jungen Frauen aus dem Wagen heraus. Alayna streckte sich kurz und sah sich um. Sie sah einige der Patienten, die ebenfalls ausgestiegen waren, die gerade mit einem Arzt redeten. Anderswo halfen Leute einer alten Frau in einen Rollstuhl. Die Sonne schien und die Luft roch nach Frühling.
„Ihr müsst Kioku und Alayna sein?“, sprach sie eine Frau mit langen blonden Haaren an, die einen langen weißen Kittel trug. Sie trug ein Klemmbrett mit sich herum. Alayna erkannte sofort, dass sie Ärztin sein musste.
„Ja sind wir“, antwortete Kioku etwas überrascht. Alayna sah in dem Klemmbrett einen aufgerissenen Briefumschlag.
„Ihr dürft mit mir mitkommen. Wir behandeln eine kleine Gruppe von Patienten in meiner Praxis“, erklärte sie und lief los. Wie es schien, sollten sie ihr folgen. Unsicher warf Alayna einen Blick zu Nal, der ihr zunickte und kurz zum Abschied die Hand hob.
„Es scheint, als hätten wir keine Wahl“, meinte Kioku. Also folgten sie der blonden Frau. Sie lief zu einer Gruppe von fünf Leuten zu, bei denen Suna stand. Als Alayna auf ihn zukam, wurde sein Lächeln zu einem breiten Grinsen.  
„Schön, dass ihr mit uns mitkommt!“, freute er sich und wirkte plötzlich unsicher. „Ihr kommt doch mit uns mit?“
Alayna nickte. Dann betrachtete sie die Frau, die noch eine kurze Notiz auf ihrem Klemmbrett machte. Dann wandte sie sich den Patienten zu. „Mein Name ist Dr. Oto Enshû. Ich werde Sie alle in meiner kleinen Praxis behandeln. Diese ist auf der gegenüberliegenden Straße. Ich schätze, es wird kein Problem sein, dass wir uns da zu Fuß hinbewegen?“
Alayna sah in die Gruppe. Ein älterer Mann saß in einem Rollstuhl, der von einer Patientin geschoben wurde, die einen relativ fitten Eindruck machte. Die anderen Patienten sahen auch so aus, als hätten sie kein Problem, zu Fuß zu laufen. Dr. Enshû lächelte und machte den Anfang. Die Patienten folgten ihr langsam.
Als die Gruppe die Straße überquerte, öffnete die Doktorin eine größere Glastür. Der Eingang war ebenerdig, sodass der Mann im Rollstuhl mit Leichtigkeit hineinkam. Der Eingangsbereich ihrer Praxis war ein großer, hoher Raum, der durch mehrere kleine Lampen beleuchtet war. Die weißen Wände und die weißen Möbel machten einen sterilen Eindruck. In den Ecken des Raumes befanden sich in Tontöpfen große Zimmerpflanzen. In der Mitte des Raumes stand sich ein weißer Tresen. Dahinter war sich ein großes Regal mit etlichen Büchern und Ordnern. Am Tresen saß eine junge Frau, die wahrscheinlich die Rezeptionistin war. Links und rechts des Tresens gingen zwei Gänge nach hinten.
Als Dr. Enshû ihr Klemmbrett auf dem Tresen ablegte und etwas ihrer Rezeptionistin zuflüsterte, sahen sich die Patienten ebenfalls um. Auf der linken Seite des Raumes befanden sich einige Stühle und kleine Tische zu einer Gruppe zusammengestellt. Einige Zeitschriften, die wie wild auf den Tischen verstreut waren, zeigten, dass dies der Wartebereich sein musste. Auf der rechten Seite des Raumes befanden sich drei große, geschlossene Schränke.
Als sich die Ärztin umdrehte und die Patienten anlächelte, machte sie einen unglaublich starken und selbstbewussten Eindruck auf Alayna. Sie sprach nun zu den Patienten: „Sie können versichert sein, dass Ihnen in dieser Praxis Ihre Leiden genommen werden. Unsere Praxis ist nicht nur auf konventionelle Methoden angewiesen, sondern verwendet auch speziellere Methoden, welche auf die verschiedensten Krankheiten und Symptome angewendet werden können. Herr Snathaid, der Spezialist für Medizin der Schutztruppe, hat mir für jeden von Ihnen ein persönliches Profil zukommen lassen. Aufgrund dieser Profile konnte ich Ihnen eine individuelle Behandlungsmethode zuweisen, welche Ihnen ein leidfreies Leben ermöglichen wird. Ich werde Ihnen jeweils nun meine persönlichen Assistenten vorstellen. Bitte lassen Sie uns sofort wissen, falls Ihnen etwas unwohl ist oder Sie sich nicht gut fühlen.“
Wie als wäre dies ein Stichwort gewesen, kamen aus dem Gang nun vier junge Assistenzärzte, welche von der Doktorin jeweils einen Patienten bekamen, die sie nacheinander in einen der hinteren Räume brachten. Das ging so lange, bis nur noch die Doktorin selbst, Suna, Kioku und Alayna im Raum waren.
„Du bist jemand ganz Besonderes“, sprach die Doktorin Suna an und berührte ihn dabei an der Schulter. Alayna bemerkte, wie der Gesichtsausdruck der Ärztin sich minimal änderte, als sie ihre Hand wieder wegzog. Sie wollte höflich sein, konnte aber ihre Überraschung nicht ganz perfekt verstecken. Suna schien es auch bemerkt zu haben und sah unsicher zu Boden. Er sagte kein Wort und sein Lächeln war ebenfalls verschwunden.
„Verzeih mir“, sprach sie in einer ganz ruhigen Stimme, „ich wollte nicht unhöflich sein. Herr Snathaid hat dich mir zugewiesen, weil er sicher ist, dass ich dir helfen kann. Das wird aber nur funktionieren, wenn du selbst daran glaubst, dass man dir helfen kann. Also habe keine Angst und schenke mir etwas vertrauen. Ich werde dir beweisen, dass alles gut wird.“
Unsicher sah er zunächst Dr. Enshû an und danach blickte er Alayna an, als würde er irgendeine Reaktion erwarten. Sie schreckte kurz auf und wurde schnell nervös, dann nickte sie ihm zu und machte ein Gesicht, als wäre sie ebenfalls sehr unsicher.
„Darf ich euch zunächst auf einen Tee einladen? Oder trinkt jemand gerne Kaffee?“, lud sie die anderen ein und ging voraus. Stumm folgten Kioku, Alayna und Suna ihr. Sie gingen den Gang entlang und sahen, wie sich die Assistenzärzte in verschiedenen Räumen schon um die anderen Patienten kümmerten. Meistens befanden sich Schränke voller Medizin und medizinischer Geräte, ein Schreibtisch und eine Liege darin. Den anderen Patienten wurden frische Patientenroben angelegt, schon Blut abgenommen oder sie wurden über ihren Zustand ausgefragt.
Die Doktorin führte die kleine Gruppe jedoch in einen Raum, der ganz anders aufgebaut war. Lange Vorhänge hingen am großen Fenster in diesem Raum. Im Gegensatz zu den anderen Räumen hingen die Lampen hier nicht von der Decke, sondern waren in sie eingelassen. Es waren viele, sehr kleine Leuchten, die trotzdem viel Licht erzeugten. Ein Schreibtisch stand ganz in der Ecke des Raumes neben einer kleinen, weißen Kommode, die geschlossen war. Gegenüberliegend waren sich an der Wand ein kleiner Tisch und ein paar Stühle zu sehen. Das Besondere in dem Raum waren zwei Badewannen, die in der Mitte des Raumes in den Boden eingelassen waren.
Zunächst lud die Doktorin die Freunde ein, am Tisch Platz zu nehmen. Sie selbst holte von ihrem Schreibtisch den rollbaren Stuhl und setzte sich dazu. Einen kurzen Moment später kam die Rezeptionistin in den Raum und stellte ein Tablett mit Tee und Tassen auf dem Tisch ab. Die Ärztin bedankte sich und füllte die Tassen mit heißem Tee.
„Bedient euch“, lud sie die drei ein und setzte sich, ihren Tee trinkend, auf den Stuhl.
Einerseits war Alayna beruhigt, dass die Patienten des Labors nun sicher verteilt waren und sie sich keine Sorgen mehr darum machen musste. Nun, da diese Frage beantwortet war, kam ihr eine neue: Was sollte sie jetzt tun?
Wäre sie doch lieber mit ihrem Bruder gegangen? Sie wollte doch den Patienten helfen, jedoch konnte sie eigentlich nichts beitragen. Was hatte sie sich nur eingebildet? Doch bevor sie diese Gedanken weiterspinnen konnte, bemerkte sie, dass Suna, der neben ihr saß, versuchte, unbemerkt näher zu ihr zu rutschen. Seine Hände versteckte er in den Ärmeln seines großen Pullovers, den er von irgendwem der Schutztruppe bekommen haben musste. Sie bemerkte, dass ihm ein Schweißtropfen an der Schläfe hinab an sein Kinn hinabfloss. Ein weiterer Schweißtropfen sah aus wie eine kleine goldene Perle. Sie spürte, obwohl sie immer noch etwas von ihm entfernt saß, dass plötzlich eine unglaubliche Wärme von ihm ausging. Es schien ihm nicht gut zu gehen.
„Bevor wir anfangen, Suna, möchte ich, dass du mir etwas von dir erzählst“, bat die Doktorin höflich. Sie nahm danach einen Schluck und schien sich alle Zeit der Welt zu lassen. Konnte sie nicht sehen, dass es ihm jetzt gerade nicht gut ging? Alayna wurde immer nervöser. Suna sah erst fragend zu Alayna und sie wunderte sich, warum er so unsicher schien.
„Alayna und die Schutztruppe haben mich aus dem Labor befreit“, sprach er und machte eine kurze Pause. Er strich mit seiner Hand eine Haarsträhne hinter sein Ohr. Nur Alayna bemerkte, dass er dabei zitterte. „Die Ärzte haben mir Heilung versprochen, aber es stellte sich heraus, dass sie all die Patienten missbraucht hatten.“
Die Doktorin lehnte sich vor, nahm einen Schluck ihres Tees und betrachtete Suna ganz genau. „Jetzt erzähle mir etwas von dir“, betonte sie, als würde sie alles andere schon wissen.
„Ich komme aus einem kleinen Dorf im Westen“, erklärte er und vergrub seine Hände weiter in den Ärmeln des Pullovers. Bald mussten sie ausgeleiert sein.
„Was machst du gern für Sachen?“, hakte Dr. Enshû neugierig nach.
„Ich …“, überlegte Suna, als hätte das, was ihm einmal wichtig gewesen war, schon vor langer Zeit seinen Wert verloren. Alayna konnte sich nicht ausmalen, was er mit dieser Krankheit für ein Leben gelebt haben musste. „Ich habe gern Sachen aus Holz geschnitzt“, fiel ihm ein.
„Was für Sachen denn?“, hakte Kioku grinsend ein. Sie wurde langsam neugierig auf das, was Suna so mochte.
„Meistens kleine Tierfiguren: Hunde, Katzen, Stiere. So etwas eben“, beschrieb er. Alayna musste grinsen. Irgendwie erinnerte sie das an die tausend Zeichnungen, die Takeru immer angefertigt hatte. Sein ganzes Zimmer hatte immer voller wilder Konstruktionen, Gemälden, Zeichnungen und Kritzeleien gehangen. Sie lächelte und bemerkte, dass Suna plötzlich auch lächelte. Sunas Blick fixierte sich auf Alayna, dann erzählte er weiter.
„Einmal habe ich ein richtig großes Stück Holz gefunden, das nach einem Sturm von einem Baum abgebrochen war. Ich habe das mit nach Hause geschleppt, was nicht so leicht war und tagelang an einem schlafenden Hund geschnitzt. Mama war so stolz darauf, dass sie diese Figur vor die Haustür legte. Sie meinte, dass diese Figur unsere Familie beschützen würde.“ Er grinste und schien plötzlich fröhlich darüber, dass Alayna das so freute. Sie selbst fand so kreative Talente faszinierend, da sie selbst in sich keine Talente sah oder sich dies zumindest einredete.
„Ich werde dir nun verraten, wie wir deine Behandlung anfangen“, sprach die Doktorin und lehnte sich leicht zurück. Mit einer Hand wies sie auf die Badewannen in der Mitte des Raumes. „Du siehst diese Badewannen, richtig?“
Suna nickte. Die Freude, die er beim Erzählen gehabt hatte, wich langsam wieder und sein Blick wurde ernst. Konzentriert achtete Alayna genau auf alles, was passierte.
„Ich habe eine spezielle Methode gelernt, welche meiner Erfahrung nach bei dir funktionieren wird. Dazu legst du dich gleich einmal in die Badewanne. Während du dort drin liegst, möchte ich, dass du dich komplett entspannst. Ich weiß, dass das leicht gesagt ist, aber ich möchte, dass du das versuchst.“
Suna nickte. Dann sah er fragend Kioku und Alayna an. Er hatte gerade niemanden aus seiner Familie hier, da war es naheliegend, dass er etwas Bestätigung bei den anwesenden Personen suchte. Da kam Alayna wieder der Gedanke, den sie vor einer Weile nicht zu Ende hatte denken können. Vielleicht konnte sie zwar jetzt keine große Rolle mehr spielen, weil alle Patienten versorgt waren, aber für Suna hier konnte sie vielleicht noch eine Hilfe sein. Jetzt konnte sie der Doktorin zustimmen, die ganze Sache abnicken und Suna würde ihr blind vertrauen und sich behandeln lassen. Aber irgendwie verließ sie das Gefühl nicht, dass in Suna eine große Neugier steckte, die er sich nicht traute, selbst zu stillen. Also blieb ihr nur eine Sache in dieser Situation, sie musste mehr als nur beistehen.
„Und was passiert dann?“, hakte sie nach. Sie musste einfach alles wissen. „Wie hält ein Bad in Wasser Suna davon ab, sich in Gold zu verwandeln?“
Auf einmal fühlte sie sich so mutig. Sie hatte schon so oft in der letzten Zeit mit Erwachsenen so mutig gesprochen, sie angesprochen und Sachen erfahren, die sie wissen musste. Doch in diesem Moment fühlte sich alles ganz anders an. Das Gefühl, Suna hier helfen zu können, erfüllte sie mit Glück. Vielleicht hatte sie zuvor zu viel von sich selbst verlangt und merkte erst jetzt, dass die kleinen Dinge auch etwas bewirken konnten.
Die forsche Neugier schien die Doktorin zu beeindrucken. Vorsichtig stellte sie die Teekanne vom Stövchen, sodass ein kleines Teelicht zu sehen war, welche die Kanne bis eben noch warm gehalten hatte. Suna und Alayna verzogen beide ihre Augenbrauen, weil sie nicht wussten, auf was die Doktorin hinauswollte.  Als sie dann ihre Hand direkt in die Flamme des Teelichts hielt, wollte Alayna „Stopp“ rufen, aber es war zu spät zu reagieren. Schmerzverzerrt riss Dr. Enshû ihre Hand zurück und präsentierte den Freunden eine dicke Brandblase auf der Handfläche. Kioku und Suna öffneten beide erstaunt ihre Münder, weil sie sich immer noch keinen Reim darauf machen konnten, was das bedeutete. Dann stand die Doktorin auf und begab sich zum Waschbecken. Sie streckte ihre verletzte Hand aus und hielt sie über die Badewanne.
„Ich weiß, dass das vielleicht ein wenig zu viel war“, kicherte sich und hielt sich die andere Hand kurz vor ihren Mund. „Aber damit ihr wirklich versteht, was das für eine Methode ist, möchte ich euch das am besten demonstrieren. Ihr müsst wissen, dass es etliche, uralte Techniken gab, mit denen Menschen in der Vergangenheit andere geheilt haben. Verschiedenste uralte Stämme und Ureinwohner haben schon vor tausenden von Jahren Heilmethoden entdeckt, die heute leider in Vergessenheit geraten sind. Die heutige Medizin konzentriert sich zu viel auf die neuen, technischen Errungenschaften, die – meiner Meinung nach trotzdem notwendig sind – aber in manchen Bereichen nicht funktionieren. Ich hatte es satt, dass Menschen sterben, weil sich die Technik nicht schnell genug entwickelt.“
Alayna, Kioku und Suna zerriss es fast vor Neugier. Wann würde die Doktorin endlich mit ihrer Ansprache aufhören und demonstrieren, was sie meinte?
„Ich habe da eine ganz spezielle Methode entdeckt, die funktioniert“, erklärte sie mit einer Faszination, welche auch von einem kleinen Mädchen hätte sein können, das gerade ein Tier entdeckte, das es noch nicht kannte. „Ich zeige es euch einfach.“
Die Hand immer noch über die Badewanne ausgestreckt, passierte zunächst nichts. Doch dann, im Licht des Raumes fast nicht zu erkennen, fing das Wasser an zu leuchten. Nur ganz leicht glomm ein unscharfes Licht aus der Wanne. Dann im nächsten Augenblick bewegte sich die Wasseroberfläche, erst ganz schwach und dann immer stärker. In gleichmäßigen Wellen tanzte die Oberfläche, schwappte aber nicht über das im Boden eingelassene Becken aus. Dann stieg eine kleine Wassersäule, entgegen der Schwerkraft, zur verletzten Hand hinauf, umschloss diese Hand für eine Weile und platschte dann von der einen auf die andere Sekunde leblos zurück ins Wasser. Einige Wassertropfen spritzten in jede Richtung einmal ab und hinterließen winzige Pfützen, die mit dem normalen Auge kaum zu sehen waren. Stolz streckte die Doktorin ihre Hand den Freunden entgegen, welche feststellten, dass sie die Blase, die sie gerade noch hatte, verschwunden war. „Das Geheimnis ist schlicht und ergreifend Wasser.“
Alayna erinnerte das so stark an das Gespräch, welches sie mit Jumon gehabt hatte. Viele Menschen hatten versteckte Fähigkeiten, welche erst geweckt werden mussten und dann trainiert werden konnten. Es schien, als wäre die Fähigkeit der Doktorin, das Wasser zu kontrollieren und damit Menschen zu heilen. Beeindruckt davon, lächelte Alayna. Kioku war ebenfalls sichtlich erstaunt. Suna konnte wieder entspannen, allein deswegen, weil Alayna nun sicherer schien, dass die Methode, um Suna zu heilen, funktionieren könnte.
„Vertraust du mir, dass es funktioniert?“, hakte die Doktorin nach.
„Ja“, antwortete Suna.
„Gut, weil dieses Vertrauen ganz wichtig ist, damit deine Behandlung erfolgreich sein wird“, erklärte sie. Dann ging sie zur Tür und dimmte das Licht. Die hellen Strahler, welche in der Decke des Zimmers eingelassen waren, verdunkelten. Dafür leuchteten viele, sehr kleine Lichter, die man so nicht wahrnahm, aus der Decke. Als Dr. Enshû die schweren Vorhänge an den Fenstern zuzog und der Raum dunkler wurde, konnte man sehen, dass die kleinen Leuchten an der Decke wie der Sternenhimmel wirkten.
„Dann kann uns nichts mehr aufhalten anzufangen, richtig, Suna?“, fragte sie und grinste dabei. „Wenn du dich bitte entkleiden könntest und dich in die Badewanne legst?“
„Entkleiden?“, schluckte Suna. Alayna konnte durch die spärliche Beleuchtung sehen, dass er hochrot anlief.
„Die Unterhose darfst du gerne anlassen“, meinte die Doktorin.
„Könnt ihr … Könnt ihr vielleicht wegschauen?“, stotterte Suna nervös und stand auf. Alayna spürte eine weitere Wärmewelle, die von dem Jungen ausging. Dann ging er zum Becken.
„Natürlich“, antwortete Kioku grinsend und wandte sich vom Becken ab. Auch Alayna drehte sich um und hörte, wie er zunächst seine Schuhe auszog, die Socken und die Hose beiseite legte und wie er sich den Pullover abnahm. Mit seinem rechten Fuß ging er zuerst in die Wanne. Er bekam etwas Gänsehaut, weil das Wasser kälter war, als er erwartet hatte. Er feuchtete erst seine Beine etwas an und setzte sich dann langsam ins Wasser.
„Brr“, machte er. „Ist kälter, als ich dachte.“
„Verzeih“, antwortete Dr. Enshû und kicherte. „Jeder ist immer überrascht, dass es so kalt ist.“
Über die Antwort der Doktorin wunderte sich Alayna. Warum konnte sie dann nicht einfach warmes Wasser in das Becken einlassen? Dann klang es so, als würde Suna komplett im Wasser liegen und Alayna traute sich, wieder zu schauen und sie bemerkte, dass Suna so in der Wanne lag, dass er die jungen Frauen nicht sehen konnte. Die Doktorin schlug ihre Ärmel zweimal um und stellte sich seitlich neben die Wanne.
„Früher wurde diese Technik in Flüssen oder Seen vollzogen. Um die Nähe zur Natur zu zeigen, beheizen wir das Becken nicht. Suna, ich möchte, dass du zwei Sachen tust. Zum einen denkst du an die Schnitzereien, die du so gerne gemacht hast und zum anderen möchte ich, dass du dich einfach entspannst. Du liegst ganz ruhig, atmest gleichmäßig und schließt die Augen. Denke einfach an diese ganz schöne Sache.“
„Kann ich auch an eine andere schöne Sache denken?“, fragte er. Es war Alayna ein Rätsel, an was er dachte. Vielleicht würde sie es später erfahren.
„Natürlich“, grinste die Doktorin und sah Alayna und Kioku dabei an. „Los geht’s.“
Sie hob beide ihrer Arme und spreizte ihre Hände. Die Handflächen zeigten dabei auf das Wasser und Alayna entdeckte, dass sie einen goldenen Ring an ihrem Ringfinger trug. Im nächsten Moment fing das Wasser wieder an im gleichmäßigen Rhythmus zu tanzen. Es umschloss Sunas Körper und auch Sunas Kopf. Sie war erst erschrocken, aber als sie merkte, dass die Doktorin sie mit einem Blick ansah, der „es ist alles in Ordnung“ bedeuten sollte, war sie beruhigt. Es schien, als könnte Suna trotzdem atmen. Ganz leicht hob Sunas Körper, immer noch mit Wasser umschlossen, von dem Becken ab. Das Wasser bildete unter ihm eine kleine Säule, welche ihn schweben ließ. Jetzt, wo der Raum verdunkelter war, konnten die Mädchen das Leuchten des Wassers nun viel besser erkennen.
Außerdem entdeckte Alayna verschiedene Narben und Verletzungen, die Suna an seinen Schultern, auf seinem Rücken und den Armen besaß. Es waren dunkelrote Flecken und teilweise offene Wunden, die zahlreich und zufällig über seinen Körper verteilt schienen. Sie beobachtete ebenfalls, wie seine Muskeln zuckten und sich regten. Verschiedene Wellen von Krämpfen gingen durch seinen Körper und immer wieder verzog er das Gesicht schmerzhaft.
„Denke weiterhin an deine schöne Sache“, sprach die Doktorin ganz leise und konzentrierte sich weiter auf die Behandlung.
Die Krämpfe wurden nun immer schlimmer und immer wieder sah Alayna einen goldenen Glanz auf seinem Körper. Einmal trat aus einer seiner Wunden ein kleiner goldener Fluss, welcher sich schnell zu kleinen Goldkugeln zusammenklumpte und von seinem Körper tropfte. Die Kugeln schwebten langsam das Wasser hinab und sammelten sich unten im Becken. Die Körperoberfläche von Suna bewegte sich nun merkwürdig. Alayna war sichtlich beeindruckt von der Heilungsmethode und was mit Suna passierte, dass sie für einen kurzen Moment nicht wahrnahm, wie Kioku ihre Hand nahm und wie hypnotisiert in die Leere starrte. Das Leuchten des Wassers, das den Körper des Jungen umgab, wurde plötzlich intensiver und Kiokus Griff stärker. Erst als Alayna darauf reagierte, erkannte sie, dass Kiokus Blick ins Nirgendwo gerichtet war.
„Alles in Ordnung?“, flüsterte sie und löste sich von Kiokus starkem Griff.
„Ich glaube, ich erinnere mich an etwas“, flüsterte Kioku zurück. „Ich muss … Ich muss wohin.“
Doch bevor Alayna herausfinden konnte, an was sich Kioku erinnerte, stand diese schon auf und verließ den Raum. Für einen kurzen Moment war Alayna so verwundert, dass sie sich nicht bewegen konnte. Dann jedoch schaffte sie es aufzustehen und Kioku hinterherzulaufen. Sie bewegte sich schnell und sah nur, wie Kioku an der Ausgangstür mit einem Mann zusammenstieß, der groß war und eine dunklere Hautfarbe hatte. Seine schwarzen Haare waren zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. Er hatte einen Vollbart und trug eine blaue Weste mit einem hellblauen Shirt darunter und eine braune Hose. Als er Kioku aufhalf, starrte sie ihn ganz konzentriert an. Der Mann entschuldigte sich und bevor Alayna etwas zu ihr sagen konnte, stürmte sie aus dem Gebäude. Alayna rannte ihrer Freundin hinterher und stand vor dem großen Gebäude und sah sich um, doch Kioku war wie auf einmal verschwunden.
„Geht es deiner Freundin gut?“, sprach sie der Mann an, der sich den Nacken massierte. Er war um einiges größer als Alayna und machte einen starken, jedoch aber auch einen sehr ruhigen und lieben Eindruck.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie uns sah sich weiter um, in der Hoffnung, dass Kioku auf dem Absatz kehrt machte und sofort wieder zurückkam.
„Ich werde dir gleich beim Suchen helfen, wenn du möchtest“, bot er an und wandte sich in Richtung Eingang zurück. „Jedoch muss ich vorher etwas mit meiner Frau besprechen. Bist du hier Patientin?“
Alayna schüttelte den Kopf. Dann folgte sie dem Mann zurück ins Gebäude. Ohne ihn etwas zu fragen, folgte sie ihm zurück ins Zimmer, in dem Dr. Enshû gerade Suna heilte. Mittlerweile hatte die Behandlung aufgehört und Suna trocknete sich gerade mit einem großen Handtuch ab. Dr. Enshû saß an ihrem Schreibtisch und machte sich einige Notizen. Alayna wunderte sich, dass die Behandlung schon fertig war und Suna schien das zu bemerken.
„Dr. Enshû meinte, dass wir mehrere kürzere Behandlungen machen müssten, als Anfang meines Heilungsprozesses“, erklärte er und grinste Alayna an. Dann bemerkte er, dass er nur in Unterwäsche vor ihr stand und lief wieder hochrot an. Dann versteckte er sich hinter dem Handtuch und versuchte es so aussehen zu lassen, als würde er sich weiterhin abtrocknen.
Dann fiel Alaynas Aufmerksamkeit Dr. Enshû zu, die freudestrahlend den Mann begrüßte, ihm in die Arme fiel und ihn küsste. Dann wurde ihr klar, als sie sich an den goldenen Ring an ihrem Finger erinnerte, dass dieser Mann wohl ihr Ehegatte sein musste.
„Gegen wann kommen denn die Kinder?“, hakte der Mann bei seiner Frau nach und Alayna sah, wie Dr. Enshû auf sie deutete und grinste.
„Darf ich dir vorstellen, das ist Gintas Tochter Alayna“, erklärte die Doktorin. Grinsend ging der Mann auf Alayna zu und schüttelte ihr die Hand.
„Du warst so klein, als wir dich das letzte Mal gesehen haben. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht, aber ich bin Ama“, lachte er. „Unser Kai musste damals wie alt gewesen sein? Zwei Jahre, schätze ich. Du siehst aus wie dein Vater.“ Er wandte sich zu seiner Frau. „Hättest du doch gesagt, dass sie schon da sind. Dann hätte ich sie gerade eben ganz anders begrüßt.“
Oto zuckte nur mit den Schultern und bemerkte dann, dass jemand fehlte. „Wo ist denn Kioku hin?“, wunderte sie sich.
„Sie hat gerade gemeint, dass sie sich an etwas erinnert“, erklärte Alayna und sah besorgt zur Tür. „Ich sollte ihr am besten hinterher.“
„Was meinst du mit erinnern?“, hakte Oto nach und Suna, der sich allmählich seine Klamotten wieder anzog, verzog auch fragend seine Augenbrauen.
„Sie“, setzte Alayna an und überlegte kurz, wie sie das am besten erklären konnte. „Eigentlich bin ich mit ihr hierherkommen, um nicht nur den Patienten des Laborvorfalls zu helfen, sondern auch um einen Arzt zu finden, der ihr mit ihrer Amnesie helfen kann.“
„Sie erinnert sich nicht mehr daran, wer sie ist?“, fragte Oto besorgt und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Alayna nickte bestätigend.
„Sie hatte sich schon einmal an etwas erinnert und ist verschwunden und das endete nicht so gut“, erklärte sie und erinnerte sich an den Vorfall in Vernezye. „Ich kann sie jetzt nicht allein lassen.“ Alayna wandte sich wieder zur Tür und wollte gehen.
„Ich werde dir auf jeden Fall helfen“, schlug Ama vor. „Ich kenne die Stadt mittlerweile wie meine Westentasche.“
„Frag doch die Kinder, ob sie auch mithelfen wollen“, schlug Oto vor. „Ich habe hier leider noch einiges zu erledigen und muss Suna zeigen, wo er schlafen wird. Wenn du sie gefunden hast, kommt doch einfach nach Hause, ja? Alayna und Kioku können dann im Gästezimmer übernachten.“
Ama nickte und führte Alayna, die sich noch kurz von Suna verabschiedete, der nun einen ganz geknickten Eindruck machte, nach draußen.
„Wir holen erst die Kinder von zu Hause ab, die helfen uns, deine Freundin zu suchen“, erklärte Ama und ging flott die Hauptstraße entlang, um sie zu ihrem Haus zu führen.
Alayna konnte es nicht fassen, dass Kioku schon wieder einfach verschwunden war. Sie spürte aber, dass diesmal etwas ganz anders war, als beim letzten Mal.