KKZ 2 – Kapitel 36 – 42

Kapitel 36 – Der Kristall
Kapitel 37 – Die schmerzhaften Lücken
Kapitel 38 – Das Schicksal des Untergrunds
Kapitel 39 – Die Kriegserklärung
Kapitel 40 – Mit voller Kraft
Kapitel 41 – Der geheime Rat
Kapitel 42 – Verloren


Kapitel 36 – Der Kristall

 Das Geräusch einer sich bewegenden Zudecke fiel Eimi als erstes auf, als er an diesem Morgen aufwachte. Er öffnete seine Augen und gähnte noch einmal. Dann rieb er sich den Nacken, der etwas schmerzte, da er diese Nacht auf einer Couch geschlafen hatte, die ihm etwas zu kurz war. Als er sich zum Zimmer drehte, sah er Takeru, der sich gerade noch tiefer in seine Decke kuschelte. Nach dem Vorfall des gestrigen Tages hatte es für Eimi Sinn gemacht, dass Takeru im Bett schlafen durfte. Am schlimmsten hatte es wohl Ea getroffen, der unter dem Fenster auf dem Boden mit nur einer leichten Decke schlief, aber dies war allemal besser, als in einem Wald auf dem kalten Boden zu schlafen. Leise richtete Eimi sich auf und starrte aus dem Fenster. Liegend konnte er nur den Himmel sehen, an dem gerade zwei Reiher emporstiegen. Dann, wie aus dem Nichts, fielen ihm die Worte des alten Mannes ein, als dieser ihnen in der letzten Nacht nur wenige von Takerus Fragen hatte beantworten können. Die Worte „dass jedes Tier in unserem Land Teil eines großen Ganzen ist, ein Kreislauf, der wichtig für die ganze Umwelt ist“ wiederholten sich immer und immer wieder in seinem Kopf. Ihm war schon klar, dass Tiere geschlachtet wurden, um aus ihnen Fleisch zu produzieren, manche Tiere wurden in der Landwirtschaft als Nutztiere gebraucht, Pferde zogen Kutschen und manche Leute besaßen Haustiere. Komischerweise musste er sich gerade Tsuru vorstellen, die an einem Feld stand und Kûosa dabei beobachtete, wie er Feldarbeit verrichtete. Er kicherte und dachte weiter über den Kreislauf nach, den Gaza erwähnt hatte. Eimi wusste, dass es eine Nahrungskette gab und üblicherweise kleine Tiere von großen gefressen wurden. Aber wie auch immer das mit der Umwelt der Menschen zu tun hatte, war ihm momentan noch nicht ganz klar; er hatte noch nie darüber nachgedacht.
Leise stand Eimi auf, zog sich seine Hose an und ging hinunter in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Gerade, als er das Zimmer verließ, vernahm er wieder das Geräusch der sich bewegenden Decke und ein Knarzen der Bodendielen. Er nahm die Treppe nach unten und entdeckte in der Küche das Mädchen, das gerade dabei war, Frühstück zu machen. Es deckte den Tisch für fünf Personen, kochte Eier und bereitete Brot und Butter vor. Außerdem stellte es einen Krug mit Wasser, einen Krug mit Saft und eine Kanne Kaffee bereit. Eimi stellte sich vor die Spüle und wollte sich gerade, wie Gaza in der letzten Nacht, aus einem der Hängeschränke ein Glas herausholen, als Pruzina dies bemerkte.
„Ich habe auch Frühstück für euch vorbereitet“, sprach sie mit einer etwas schüchternen Stimme.
Eimi hielt für einen Moment inne und sah das Mädchen an, das wie am Tag zuvor seine grünen Haare zu zwei Zöpfen geflochten hatte. „Danke“, meinte er und überlegte, was er sagen wollte. Vielleicht hatte es eine Antwort auf seine Frage, die er sich gerade noch stellte. „Dein Großvater meinte gestern zu mir, dass die Menschen nicht verstehen, dass die Tiere wichtig für die Umwelt sind. Was meinte er damit?“
Leicht erschrocken hob Pruzina ihre Augenbrauen. Es schien, als hätte sie nicht erwartet, so früh am Morgen schon solch eine Frage gestellt zu bekommen. „Sie stirbt“, antwortete sie zunächst kurz und wartete Eimis Reaktion ab. „Ist dir nicht klar, dass ohne die Tiere die Natur sterben wird?“
„Bitte versteh mich nicht falsch“, antwortete Eimi und stellte das Glas ab, das er noch in der Hand hielt, „aber mir ist schon klar, dass es so etwas, wie eine Nahrungskette gibt. Aber nehmen wir zum Beispiel an, die Reiher existieren nicht mehr. Das hätte doch keine Auswirkungen?“
„Doch, dies hätte Auswirkungen“, entgegnete Pruzina und platzierte die Teller auf dem Tisch. „Die Reiher fliegen immer in die warmen Gegenden und kontrollieren in verschiedenen Jahreszeiten an verschiedenen Orten die Population von den Tieren, die sie fressen. Die Ausscheidungen der Tiere sind Dünger für Pflanzen, welche die Nahrung von anderen Tieren sind. Der Kreislauf, der sich dadurch ergibt, wenn wir das Beispiel bis zum letzten Lebewesen zurückverfolgen würden, ist riesig und beeinflusst am Ende auch unser Leben als Menschen.“
„Die Natur schafft sich ihre eigene, perfekte Symbiose“, beendete Gaza die Erklärung seiner Enkelin, als er gerade die Treppe herunter in die Küche kam. Eimi sah den alten Mann aufmerksam an, als dieser sich auf direktem Wege zum Esstisch begab, seiner Enkelin einen Kuss auf die Stirn gab und sich an den Platz setzte, wo die Kaffeekanne stand. Er nahm zunächst einen Schluck seines schwarzen Kaffees und blickte prüfend nach draußen, als ob er sich sorgte, dass es den Reihern schlecht gehen könnte. „Die Menschheit ist im Begriff, diese perfekte Symbiose zu zerstören. Sie roden Wälder, schlachten Tiere ab und bauen immer größere Städte. Der Müll, der durch diesen Prozess entsteht, verseucht aber dutzende Hektar von Natur und zerstört dabei den natürlichen Lebensraum von diversen Lebewesen. Den Menschen ist das egal.“
Eimi dachte über das nach, was Gaza gerade gesagt hatte. Es klang so verbittert und traurig, wie er sprach. Irgendetwas Schlimmes musste in der Vergangenheit des alten Mannes passiert sein. Dann fiel ihm auf, dass nur für fünf Personen gedeckt worden war. Wo waren die Eltern des Mädchens?
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Takeru und Ea die Treppe herunterkamen. Mit einem Glitzern in den Augen ging Ea schnurstracks auf den Frühstückstisch zu und setzte sich. Takeru sah noch etwas verschlafen aus, seine Haare waren noch unordentlicher als sonst. Gähnend begrüßte er Eimi und blickte auf den Tisch, an dem schon der alte Mann und Ea saßen.
„Ich habe auch für euch gedeckt. Bitte esst etwas“, lud Pruzina ein, am Frühstück teilzunehmen. Fragend sah Takeru Eimi an, der bestätigend nickte. Also setzte sich auch Takeru an den Tisch und Eimi tat es ihm gleich. Auch Pruzina setzte sich und sie fingen an zu frühstücken. Eimi verstand nun besser, dass der Erhalt der Natur wichtig für alle Lebewesen auf dem Planeten wichtig war. Unweigerlich musste er an Sayoko denken, deren politisches Engagement er überaus großartig fand. Jedoch hatte sie in ihren Gesprächen nie etwas in Bezug auf die Natur oder die Tierwelt erwähnt. „Warum wird das nicht mehr in der Politik zum Thema gemacht? Hier auf Ruterion habt ihr doch ein ausgeklügeltes politisches System entwickelt.“
Gaza setzte seine Kaffeetasse etwas zu fest auf dem Tisch ab, sodass der Knall und die überschwappende Flüssigkeit alle am Tisch erschreckten. Es war plötzlich still, sogar die Reiher hatten für einen kurzen Moment aufgehört, Geräusche von sich zu geben. Eimi spürte die Anspannung und Wut, die in Gaza brodelten. Der alte Mann versuchte, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren, aber Eimi sah seine wahren Gefühle.
Damit er nicht zu laut redete, räusperte sich Gaza, bevor er sprach. „Die Politik kümmert es einen feuchten Dreck, was hier im Land passiert. Die interessieren sich doch nur für wirtschaftliche Einigungen, die Vereinheitlichung der Bürokratie und sorgen für einen oberflächlichen Frieden. Ob dadurch die Natur zerstört wird, ist denen doch egal!“
Eimi durchdrang plötzlich ein unangenehmes Gefühl. Es fühlte sich fast so an wie damals, als er die Frau aus dem Zug nicht hatte retten konnte. Er spürte, dass etwas nicht richtig war. Dieser Schmerz, den dieser Mann empfinden musste, war schon lange da. Plötzlich fing er an, die Worte, die Sayoko gesagt hatte, zu hinterfragen. Er wollte es zwar nicht zugeben, aber irgendwie himmelte er sie an. Sie war wie ein Vorbild, das sich für das Gute einsetzte und versuchte, Menschen zu helfen. Aber anscheinend lief das System doch nicht so perfekt, wie es geklungen hatte.
„Versucht doch einmal, euch an die Abgeordneten eures Bereiches zu wenden, sie werden euch sicher zuhören“, antwortete Eimi nach etwas Überlegen darauf. Er war überzeugt, dass es möglich war, mit den Politikern zu kommunizieren, so wie er es auch mit Sayoko getan hatte.
„Ihr verlasst das Gelände nach dem Frühstück“, erwiderte Gaza darauf kühl und stand auf einmal auf, ohne weitere Worte zu diesem Thema zu verlieren. Er verließ die Küche durch eine Tür, die zum Feld führte und knallte diese dabei zu.
Ea und Takeru saßen wie versteinert mit erhobenen Augenbrauen am Tisch. Ganz langsam schob sich Ea den Rest des Brotes, den er in der Hand hatte, noch in den Mund. Abwechselnd sahen die beiden erst Eimi und dann die geschlossene Tür an.
„Verzeiht Großvater. Unsere Familie hat versucht etwas zu ändern. Sehr oft“, erklärte Pruzina, die einen Schluck Wasser nahm. „Wir haben für den Versuch, etwas zu verändern, einen Preis gezahlt, den niemand zahlen sollte.“
Eimi hatte eine düstere Vorahnung, traute sich in dem Moment aber nicht, etwas zu sagen. Er fühlte Mitleid gegenüber Gaza, obwohl er die Umstände nur vermutete.
„Was meinst du damit?“, hakte Takeru plötzlich nach, der seine Neugierde nicht in Zaum halten konnte.
„Meine Eltern waren auf einer Demonstration, um für die Rechte der Tiere zu kämpfen. Es war zunächst eine friedliche Demonstration, jedoch passierte plötzlich etwas Schlimmes. Die Unruhe, die zunächst aufkam, entwickelte sich schnell in eine Massenpanik. Leute haben angefangen, andere mit Waffen zu bedrohen und griffen an. In dieser Panik sind viele Leute verletzt worden. Einige starben auch – wie meine Eltern.“
Eimi schluckte, seine Befürchtung bewahrheitete sich. Er verstand die Wut, die Gaza spüren musste. Er hatte einen Preis dafür gezahlt, etwas verändern zu wollen. Nun waren ihm die Hände gebunden.
„Ich war damals sehr klein, ich kann mich eigentlich kaum an diese Zeit erinnern“, erklärte Pruzina und nahm wieder einen kleinen Schluck vom Wasser. Dann blickte sie nach draußen. „Mein Großvater hat mich seither großgezogen. Meine Mutter war seine Tochter. Heute kümmern wir uns um die Reiher, die sonst von niemanden beschützt werden. Wir füttern sie und helfen manchmal auch beim Schlüpfen der Küken.“
„Das tut mir sehr leid für dich“, meinte Takeru und sah Eimi fragend an. „Aber es ist schön, dass ihr euch um die Tiere kümmert.“
„Danke, ihr müsst kein Mitleid haben. Ich kenne nichts anderes“, sagte Pruzina und sah aus dem Fenster. „Ich genieße es zu sehen, dass die Vögel jedes Jahr vorbeikommen und dass es ihnen gut geht. Ich würde euch ja gerne herumführen, aber ich glaube, Großvater möchte das nicht.“
„Bitte, richte ihm aus, dass es mir leidtut, dass ich ihn so wütend gemacht habe“, bat Eimi und stand auf. „Ich danke dir, dass du für uns ein Frühstück vorbereitet hast, aber ich möchte deinem Großvater nicht weiter auf die Nerven gehen.“
„Er wird es verstehen, so wie ihr es jetzt versteht. Manchmal ist er einfach ein alter Griesgram“, kicherte Pruzina.
„Tak, Ea, wir sollten uns aufmachen, wir haben noch ein Ziel zu erreichen“, riet Eimi und ging nach oben, um seine Sachen zu packen. Nachdem die beiden anderen das Frühstück beendet hatte, taten sie es Eimi gleich.

Erst, als die drei Jungs wieder unterwegs waren, konnte Eimi sich entspannen. Nachdem sie ihre Sachen gepackt hatten, sich mehrmals bei Pruzina bedankt hatten, waren sie losgelaufen und hatten das Gelände der Farm hinter sich gelassen, wie es sich Gaza gewünscht hatte.
Eine Sache hatte Eimi jedoch zurückgelassen – das bedingungslose Vertrauen zu Sayoko. War das, was sie gesagt hatte, doch nicht das ultimativ Gute gewesen? Gab es in ihrem System Lücken, welche Menschen wie Gaza und Pruzina etwa aus den Augen verloren? Als die drei durch einen kleinen Wald zu einem Gebiet von hügeligen Feldern kamen, auf denen vereinzelt kleine Grüppchen von Bäumen standen, dachte Eimi weiter über das Geschehene nach. Hatten Pruzinas Eltern mit ihrem Leben bezahlt, ohne, dass sich am System etwas geändert hatte? Es schien Eimi nachvollziehbar, dass Gaza durch den extremen Verlust noch bitterer geworden war. Aber etwas fühlte sich daran falsch an. Hatte Pruzina nicht gemeint, dass jemand angefangen hatte, mit Waffen zu drohen? Vielleicht war der Fehler in dem System, dass manche Veränderung mit Gewalt erzwingen wollten.
„Ich sehe das übrigens anders“, meldete sich Ea zu Wort, der während dem Gehen immer mal wieder aus dem Nichts heraus gelacht hatte, aber eigentlich sonst ungewohnt still geblieben war. „Ich meine, die Natur holt sich schon selbst das zurück, was sie braucht. Egal, ob Menschen sich daran beteiligen oder nicht.“
„Wie meinst du das?“, hakte Takeru neugierig nach und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf.
„Nun ja, was meinst du, wieso es so etwas wie Naturkatastrophen gibt? Es gibt Dürren, Fluten, Wirbelstürme und Blizzards. Außerdem wachsen auch in der Stadt Pflanzen und ebenso leben wilde Tiere dort. Aus alten, verlassenen Hütten wachsen Bäume, uralte Städte zerfallen und werden wieder eins mit der Natur. Der Kreislauf wird nicht durch Menschen gestört.“
„Mh, irgendwie sinnig“, murmelte Takeru. Es schien, als hätte er keine wirkliche Meinung darüber.
„Aber es ist doch keine Frage, ob die Natur dazu fähig ist oder nicht. Die Frage ist, welche Rolle wir als Menschen in diesem Kreislauf einnehmen. Es stimmt schon, dass wir einen massiven Einfluss auf die Natur haben. Gaza hatte recht mit dem, dass wir alles manipulieren. Vor Hunderten von Jahren haben die Menschen noch naturverbundener gelebt und ihre Umgebung noch mehr geachtet.“
Ea schüttelte den Kopf, als würde er an dieser Aussage stark zweifeln, ließ Eimi aber weitersprechen.
„Wir haben eine Verantwortung, die Ressourcen so zu verwenden, sodass wir in diesem Kreislauf gemeinsam mit den Tieren und der Natur leben können. Sonst zerstören wir uns selbst früher oder später noch.“
„Und was würdest du deiner Meinung nach ändern wollen? Alle Menschen dazu zwingen, gleich zu handeln?“, wunderte sich Ea, während er einen Finger in seine Nase steckte.
Bevor Eimi antwortete, hielt er einen Moment inne und hinterfragte seine eigene Meinung. Wenn jeder Mensch die gleiche Meinung darüber hätte, wäre die ganze Sache tatsächlich einfacher zu ändern. Aber war es richtig, die Menschen zu dieser Meinung zu zwingen? Wenn nicht, würde sich dann überhaupt jemals etwas ändern? „Das System muss sich verbessern“, gab er zur Antwort.
„Das klingt fast so, als würdest du gern Politiker werden, Eimi“, sagte Takeru. Dann erspähte er in der Ferne ein paar Hütten, die hinter einem Hügel erschienen. „Seht!“
Ea sah prüfend in den Himmel und dann sah er sich noch ein paar Mal um. „Das könnte unser Ziel sein.“

Kurz bevor sie die Gruppe von Hütten erreichten, bemerkte Eimi, dass Takeru plötzlich schneller lief. Sein Blick wirkte unglaublich fokussiert. Vielleicht waren sie wirklich gleich einen Schritt näher, etwas über den Aufenthaltshort von Takerus Vater herauszufinden. Die Gedanken, die Eimi den ganzen Tag schon beschäftigten, waren für einen kurzen Augenblick beiseite gerückt worden.
Ein lauwarmer Wind wehte und einige kleine Blumen waren bald so weit, blühen zu können. Es war bemerkenswert wärmer geworden. Der Frühling kam im Norden wohl etwas früher, als in seiner Heimatstadt Hakata.
Als Dorf konnte man den Bereich, den die Drei nun betraten, nicht bezeichnen. An diesem Platz befanden sich acht Hütten, die sehr zusammenhangslos irgendwo erbaut worden waren. Sie bildeten weder eine Linie, noch einen Kreis oder eine andere Form. Der Baustil der Hütten war relativ gleich. Große, dunkle Holzstämme bildeten aufeinandergestapelt die Wände der Hütten, die nur in der Eingangstür Fenster besaßen. Beim Versuch, in eine der Hütten hineinzuschauen, wurden Eimi und Takeru leider enttäuscht, da es zum einen in den Hütten sehr dunkel war und an den Fenstern Vorhänge hingen, die die Sicht verdeckten. Die Hütten waren sehr klein, die Fläche darin musste weniger als vierzig Quadratmeter betragen. Voller Aufregung ging Takeru an jede der Türen und klopfte. Als er keine Antwort bekam, versuchte er die Türen zu öffnen, was vergebens war. Die Hütten waren zugesperrt.
Eimi sah sich eine Hütte genau an und verlor für einen Moment Ea und Takeru aus dem Auge. Was war das für ein Ort? Wohnte hier jemand? Es wirkte so unglaublich verlassen. Aber warum verließ jemand sein Haus und sperrte es dann noch zu? Sollte hier wirklich jemand sein, der etwas über Takerus Vater wusste? Eimi war sich nicht sicher, ob daran etwas Wahres sein konnte. Langsam fing er an, an Ea zu zweifeln. Was, wenn das doch nur ein Trick war, sie hierherzulocken, weit weg von Kioku und Alayna? Panisch drehte er sich um und bemerkte, dass Takeru und Ea verschwunden waren.
„Tak? Wo bist du?!“, rief er in der Hoffnung, eine Antwort zu bekommen. Aber es kam keine. Schnell lief er um die Häuser herum und bemerkte hinter dem letzten Haus im Norden einen Friedhof. Er entdeckte, dass Takeru und Ea dort standen und eilte dorthin. Der Friedhof war klein. Es befanden sich in einem umzäunten Bereich nur ein paar Gräber. Jedoch erstaunte es Eimi, was sich in der Mitte des Friedhofes befand: ein menschengroßer Kristall, der durch die Verwitterung der Natur schon vor einiger Zeit seine strahlende, weiße Farbe hatte einbüßen müssen. Der milchige, fast graue Kristall hatte eine amorphe Form und hier und da dunkle Flecken. Eimi berührte den Kristall neugierig und bemerkte, dass dieser einige feine Risse hatte und an manchen Stellen sehr rau war.
„Was ist das?“, wunderte sich Takeru und bestaunte den Kristall von jeder Seite.
„Ein Kristall“, meinte Eimi knapp. „Aber wie kommt dieser hier her?“
„Meinst du, das ist ein Grabstein für jemand Verstorbenen?“, vermutete Takeru und stellte fest, dass der Boden um den Kristall sehr eben war. Es schien, als wäre unter dem Kristall kein Grab.
„Selbst, wenn das so sein sollte, wie hat man diesen Kristall hier hergebracht?“, fragte Eimi in die Runde. Das Mineral hatte etwas Wunderschönes und Mystisches an sich.
„Gib her!“, brüllte Ea wie aus heiterem Himmel und stürzte sich auf Takeru, der erschrocken zusammenzuckte. Doch blitzschnell hielt Ea ihn fest und wirkte dabei plötzlich manisch und aggressiv. Er zerrte an ihm, während Takeru rief, dass Ea ihn in Ruhe lassen sollte. Ea griff über die Öffnung am Hals ins Shirt und zog den Kompass, den Takeru mit sich trug, heraus. Dann zerrte er an der Kette, sodass Takeru schon von allein den Kompass auszog, damit es nicht so schmerzte. Eimi war für einen kurzen Moment erst schockiert, vielleicht stellte sich nun auch diese Vorahnung, die er eben noch gehabt hatte, als richtig heraus. Er befürchtete eine Eskalation, also griff er nach Eas Arm, um ihn aufzuhalten. Takeru plumpste dabei auf den Boden. Eimis Griff löste sich aber wieder schnell, nachdem er merkte, dass Eas Körper plötzlich sehr heiß geworden war.
„Was soll der Scheiß!?“, brüllte Eimi ihn an.
„Du hättest ja auch fragen können“, meinte Takeru verärgert und rieb sich den Hals. „Gib das wieder her!“
„Er ist hier!“, jubelte Ea begeistert und tanzte einmal um den Kristall. „Ich weiß es, ich weiß es!“
Anschließend klappte er den Kompass auf und starrte auf den Zeiger, der sich nicht bewegte. Sein Blick zeigte Anspannung, aber auch Freude. „Komm heraus, komm endlich heraus!“
Eimi half Takeru hoch, der daraufhin den Dreck von den Klamotten abklopfte.
„Alles okay?“, fragte Eimi seinen Freund.
Takeru nickte, dann wandten sich beide Ea wieder zu, der plötzlich stehen geblieben war. Gierig leckte er seine Lippen ab, als könnte er es gerade kaum noch erwarten, etwas zu essen zu bekommen. Was meinte er damit, dass er herauskommen sollte? Er meinte doch nicht etwa jemand, der hier tot auf dem Friedhof lag?
„Du meinst den, der mir hilft, meinen Vater zu finden?“, fragte Takeru erzürnt, zeigte aber auch Neugierde. Eimi war die ganze Situation unklar. Was zur Hölle tat Ea da?
Dann, ohne auf die beiden zu reagieren, hob Ea den Kompass nach oben und hüpfte dabei etwas in die Luft. Er versuchte dies an mehreren Stellen des Friedhofs, was die Jungs noch mehr verwirrte.
„Lass den Scheiß“, meinte Takeru sehr ernst, „hier ist doch niemand.“
„Das auf einem Friedhof zu machen, ist schon ziemlich unangebracht“, versuchte Eimi Ea davon zu überzeugen, damit aufzuhören.
Ea sprang wieder in die Luft und plötzlich – es schien eigentlich unmöglich – hing der Kompass inmitten der Luft und gab ein leises Klickgeräusch von sich. Mit beiden Händen umklammernd hielt Ea den Kompass fest und schwebte über einen halben Meter vom Boden in der Luft. Eimi zweifelte in diesem Moment darüber, ob er heute Morgen wirklich aufgewacht war, oder ob das nicht doch eher ein Traum sein musste. Mit aller Kraft drehte Ea den Kompass nun und ein weiteres Klicken verriet den Jungs, dass sich nun etwas veränderte. Es knarzte plötzlich, als würde sich eine schwere, alte Tür öffnen. Tatsächlich öffnete sich etwas, das keine echte Tür zu sein schien; jedoch bemerkte Eimi, nachdem sich dieses Etwas schon zur Hälfte geöffnet hatte, dass sich in einer Art schwebenden, gläsernen Türrahmen ein Viereck öffnete, welches dahinter einen Raum beinhaltete.
„Endlich, nach über viertausend Jahren!“, rief Ea fröhlich und grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Laan, mein Freund!“
Im nächsten Moment beobachteten Takeru und Eimi, wie eine Faust, um die ein hellgrünes rechteckiges Gitter leuchtete, aus diesem Raum schnellte und Ea zu Boden schlug. Er prallte so stark auf dem Untergrund auf, dass sein Körper, einige Steinchen und Gräser durch die Kraft des Aufpralls wieder nach oben schwebten. Danach ging alles sehr rasch. Aus diesem schwebenden Raum glitt ein Körper, der sich vollends auf Ea stürzte und ihn wieder in den Boden drückte. Als diese Person den Raum verließ, verschwand jener und der Kompass fiel fast geräuschlos zu Boden. Eine Staubwolke stieg auf und Ea konnte zwischen dem Dreck, der durch die Luft wirbelte, einen jungen Mann mit grünen Haaren erkennen, der ihn und Takeru mit seinen grünen Augen fixierte. Eimi erkannte, dass sein Gesicht von drei violetten Linien durchzogen war. Waren das etwa Tattoos? Für einen kurzen Moment blitzte ebenfalls eine violette Linie in den Augen des Mannes auf und er packte Ea. Diesmal hob er Eas Körper mit Leichtigkeit in die Luft, wobei Eimi nicht das Gefühl hatte, dass der Mann den Körper Eas wirklich berührte. Mit einer Faust, die immer noch von diesem leuchtenden Gitter umhüllt war, schlug er Ea so fest in den Magen, dass dieser etliche Meter in die Luft geschleudert wurde. Erst jetzt ballte Takeru seine Fäuste, als er allmählich die Gefahr, die von diesem Mann ausging, realisierte. Auch Eimi zückte das Schwert und begab sich in Verteidigungsposition. Während Takeru verzweifelt dem Kampf zusah und wahrscheinlich erkannte, dass dieser Mann nicht den Anschein machte, als würde er helfen, seinen Vater zu finden, hatte Eimi ein ganz anderes Gefühl. Irgendetwas an diesem Mann wirkte nicht so, als wäre er böse gesinnt. In dem Augenblick, als Ea in der Luft zu schweben schien, konnte Eimi den Kerl genauer betrachten. Seine Haare waren kurz, jedoch hatte er die Haare an seiner Stirn zu einem Mittelscheitel gekämmt. Er trug ein beiges Oberteil mit Kragen, jedoch ohne Ärmel. Seine muskulösen Arme wirkten durchtrainiert. Um seinen Hals hing eine Kette mit einer Feder daran; auf dem Oberteil hing eine magentafarbene Brosche, die einen perlmuttartigen Glanz hatte. Über seiner grauen Stoffhose trug er einen kurzen Rock aus einem grünen Stoff, der mit einem violetten Stoffgürtel befestigt war. Sein Gesichtsausdruck war zwar angespannt, aber eigentlich hätte Eimi die Gesichtszüge des Mannes eher als ruhig, entspannt und freundlich beschrieben.
Endlich reagierte auch Ea, der sich in der Luft um sich selbst drehte und sich somit richtig positionierte. Seine Hände pulsierten, als sie sich langsam in Lava verwandelten. Dann stürzte er sich hinab auf den Kerl und wollte ihm eine verpassen. Kurz, bevor Ea ihn jedoch berühren konnte, streckte dieser seine Hand aus und ließ Ea für einen Moment schweben.
„Na na, begrüßt man so einen alten Freund?“, kicherte Ea, der das Ganze wohl eher als Spaß verstand. „Laan, wir können doch darüber reden.“
„Wo ist sie?“, antwortete der Mann, der allem Anschein nach Laan hieß.
„Ich bin auf der Suche“, erklärte Ea kurz und wurde dann von Laan direkt ins Gesicht geschlagen, wodurch er wieder in die Lüfte geschleudert wurde. Diesmal sah Eimi ebenfalls keine einzige, echte Berührung. Kurz darauf sprang Laan ebenfalls in die Luft, wobei es eher so wirkte, als würde er fliegen. Einige Meter über dem Boden tauschten die beiden einige Schläge und Tritte aus, was aber kaum einen Effekt auf den anderen hatte.
Eimi wandte sich nun zu Takeru, der dem Ganzen sehr konzentriert zuschaute.
„Tak, was auch immer hier passiert …“, setzte Eimi an, bemerkte aber, dass er von Takeru keine Gegenreaktion bekam. Dieser starrte auf den Kampf und murmelte immer wieder „wir müssen Papa finden“ vor sich hin. Eimi berührte ihn nun an der Schulter, aber Takerus starrer Blick änderte sich nicht.
Immer wieder wurde einer der beiden Kämpfenden auf den Boden geworfen, was ständig neuen Dreck und Staub aufwirbelte. Nun stand Eimi da und wusste nicht, was er tun sollte. Seine Gefühle waren so gegensätzlich, dass auch er paralysiert dastand und abwartete, was passierte. Takeru war nicht ansprechbar, was ihm starke Sorgen bereitete, Ea war in einem Kampf verwickelt, bei dem Eimi anscheinend nicht helfen konnte und Laan wirkte aber nicht wie ein Feind. Was hatte das alles damit zu tun, dass sie Takerus Vater finden konnten? Was für eine Rolle hatte er überhaupt dabei, wenn er wohl nichts tun konnte? Er sah einfach zu, wie Eas Hände ständig die Form änderten; erst wurden sie wieder zu Stein, dann waren sie plötzlich flüssig wie Wasser und im nächsten Moment hart und glänzend wie Stahl. Laan parierte jeden Schlag gekonnte und schleuderte Ea durch die Luft, als wäre er ein Watteball. Dann blickte er auf Takeru, der am ganzen Körper zitterte. Nein, es durfte nicht passieren, dass er wieder ohnmächtig wurde. Nicht noch einmal.
„Ich finde sie! Mit deiner Hilfe!“, rief Ea plötzlich, als wollte er, dass Takeru und Eimi mithörten.
„Wir wollten sie beschützen! Du hast es versprochen!“, brüllte Laan und hatte dabei einen unglaublich traurigen Gesichtsausdruck.
„Warum bist du dann einfach verschwunden!?“, warf Ea ihm vor. Eimi hatte keine Ahnung, um was es hier überhaupt ging. „Ich habe tausende Jahre gewartet! TAUSENDE!“
„Wann ist sie!?“, fragte Laan wütend. Diese Frage kam Eimi sehr merkwürdig vor. Wie konnte man fragen, wann jemand war?
„Sie ist jetzt! Ich weiß es, ich weiß es!“, beschwichtigte Ea und hielt seine Hände, die sich wieder zu normalen Händen verwandelten, beschützend vor seine Brust.
„Dann finden wir sie!“, forderte Laan. Im nächsten Moment streckte er eine Hand neben sich aus und eine weitere, gläserne Tür öffnete sich, hinter der ein ähnlicher Raum war, wie vor einer Weile. Mit der anderen Hand packte er Ea am Kragen und zerrte ihn mit hinein. Eimi erkannte, kurz bevor die beiden hinter der durchsichtig werdenden Tür im Nichts verschwanden, dass Ea ihn mit seinem Blick fixierte, grinste und zum Abschied winkte.
Dann waren sie verschwunden.
Als sich die Staubwolken wieder legten, der gleiche hellgraue Himmel bewegungslos wie ein Vorhang über der Welt lag, als wäre gerade nichts passiert und der Kristall inmitten des Friedhofs wie ein Mahnmal des gerade Geschehenen still dastand, spürte Eimi ein Beben im Boden. Diese Vibration war erst schwach und wurde immer intensiver. Er merkte kleine Luftwellen rhythmisch am Boden entlangwehen, wie als hätte man einen Stein in einen ruhigen Teich geworfen. Dann plötzlich erkannte er, dass die Luftwellen aus einem schwarzen Leuchten bestanden und endlich wandte er sich zur Quelle dieser merkwürdigen Energie.
Nicht weit vom Kristall entfernt sah er seinen Freund, vor Schmerz in die Knie gezwungen, die Fäuste geballt, in die Leere starrend. Tränen liefen ihm über die Wangen und sein leerer Blick war gen Himmel gerichtet, dort, wo gerade noch Ea und Laan hätten sein sollen, nun aber verschwunden waren. Wiederholend murmelte er: „Wir müssen Papa finden.“
Eimi richtete sich auf, die schwarze Energie, die aus Takeru zu kommen schien, wurde immer intensiver. Kleine Steinchen schwebten vom Boden und flogen in Eimis Richtung. Ab und zu wurde er von einem dieser getroffen. Er warf das Schwert zu Boden und wollte ihm näherkommen, jedoch wurde auf einmal die Energie noch stärker. Als schwarze Flammen aus Takerus Körper emporstiegen, war die Druckwelle so stark, dass Eimi ihn nicht berühren konnte.
„Tak, alles wird gut!“, rief er gegen das Vibrieren der Luft, das kein Lärm war, aber ein unangenehmes Gefühl im Kopf auslöste. „Wir finden deinen Papa!“
Eimi kämpfte gegen die Energie an und stemmte sich richtig gegen die Wand aus Luft und Dreck, um voranzukommen. „Hör mich doch!“, rief er mehrmals, doch Takeru reagierte nicht. Zähneknirschend verzog er sein Gesicht zu einem wütenden Ausdruck. Irgendwie musste Eimi seinem Freund doch helfen, aber wie nur? Wie konnte er den Zorn, der gerade aus Takeru herausbrach, nur aufhalten?
„Wir finden ihn!“, brüllte Eimi mit aller Kraft, doch die Energie explodierte förmlich aus Takeru heraus und riss einige Grabsteine um. Während Eimi einige Meter von Takeru weggeschleudert wurde, bekam der Kristall erst einige Risse und zerbröckelte dann in große Einzelteile auf den Boden.
Genau in dieser Sekunde sah Eimi einen Schatten auf Takeru zurennen, der ihn daraufhin niederschlug. Mit einem Mal hörte die Druckwelle auf, als Takeru bewusstlos auf den Boden fiel. Ein weiterer Schatten stand auf einmal neben seinem Freund. Als Eimi sich aufrichtete, erkannte er zwei Männer, die verachtungsvoll und traurig abwechselnd auf Takeru und den zerbrochenen Kristall blickten. An ihren Jacken hing ein kleiner Pin aus Metall, das wie folgt aussah:


Kapitel 37 – Die schmerzhaften Lücken

„Nicht schon wieder“, waren die Worte, die in Kiokus Kopf wie ein Echo hallten. Sie torkelte durch einen Park in Yofu-Shiti und nahm alle Menschen um sich herum wie schwarze Schatten wahr. Einige dieser Schatten kamen auf sie zu, andere wichen aus. Eine dumpfe Stimme, deren Worte nicht zu verstehen waren, sprach zu ihr und die dazugehörige Person nahm sie an dem Arm und half ihr, sich auf eine Bank zu setzen. Kioku spürte eine Wasserflasche in ihrer Hand, nahm aber keinen Schluck davon. Ihre Konzentration war auf die Bilder gerichtet, die sie vor ihrem inneren Auge sah. Diese schrecklichen schmerzhaften Lücken, die sie schon so lange zu schließen versucht hatte.
Die Bilder wirbelten um sie herum wie ein Wirbelsturm und ließen dabei ein Chaos zurück. Immer wieder sah sie das Meer, ein Boot, Männer in dunklen Gewändern, hörte das Wort „Blau“ und nun auch diesen Mann mit dem Zopf und dem Bart. Sie hatte diesen Mann noch nie zuvor in ihrem Leben getroffen, doch erschien er ihr so vertraut. Woher kam diese Vertrautheit? Sie stand auf und torkelte weiter, ignorierte dabei die Schatten, die sich immer noch um sie herumbewegten und kam dann an einem kleinen Teich an. Plötzlich hatte sie das starke Verlangen sich etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Es war so schmerzhaft, dieser Bilder zu sehen, von denen sie einfach keine Ahnung hatte, was sie eigentlich bedeuteten. Sie kniete sich in die feuchte Erde am Rand des Teiches und stieß mit ihren Händen ins eiskalte Wasser. Es war zwar nicht mehr ganz Winter und hier im Norden war es schon viel wärmer als auf dem Kontinent Ueruto, jedoch war das Wasser so kalt, dass es wehtat. Sie freute sich, als die Eiseskälte ihren Arm hinaufkroch, es lenkte sie etwas von ihren Gedanken ab. Sie schaufelte sich etwas Wasser mit ihren Handflächen auf und spritzte es sich ins Gesicht. Dass dabei etwas Erde mitkam, störte sie keineswegs. Alles, alles würde sie dafür geben, diese Bilder wieder aus ihrem Kopf zu bekommen.  Immer und immer wieder spritzte sie sich das Wasser ins Gesicht.
Als ihre Sicht nun wieder etwas klarer wurde, erblickte sie in der Spiegelung des mit Schlamm aufgewirbelten dreckigen Wassers eine Frau, die ihr ganz ähnlich sah, welche durch die entstandenen Wellen älter als sie schien.
„Ich weiß, tief in meinem Herzen, dass sie noch irgendwo sind“, sprach zu ihr eine vertraute Stimme. Es schien, als würde sie einen Monolog mit sich selbst führen.
„Waren wir deswegen so lange unterwegs?“
„Wir mussten sie suchen. Ich hätte das sonst nie verkraftet.“
„Aber wir haben Papa und die anderen nie gefunden.“
„Wir hätten sie aber finden können. Wir hätten sie finden müssen.“
„Mama, mein ganzes Leben lang sind wir Geistern hinterhergejagt!“ Kiokus Stimme wurde immer wütender.
„Es sind aber keine Geister, Aoko! Irgendwer ist noch da draußen und wartet auf uns!“
Kioku wurde für einen Moment schwarz vor Augen und sie ließ sich ins feuchte Gras fallen. Dieser Zustand dauerte nur kurz an und sie sah diese Frau von eben vor sich stehen und plötzlich fallen.

„Mama!“, schrie Kioku und schreckte auf. Gerade als sie ihren Arm hinausstreckte, um dieser Frau vor dem Sturz zu helfen, berührte sie aus Versehen eine Person. Ein Mann mit blauen Haaren nahm ihre Hand, lachte und half ihr auf. Ein Arm war mit einem Verband umwickelt. Als sie erst ihn und dann um sich herumblickte, war sie total verwirrt. Sie rieb sich ihren Kopf an der Stelle mit der Narbe, als hätte sie Kopfschmerzen.
„Was machst du denn hier?“, lächelte der Mann sie an und wischte ihr etwas Dreck vom Ärmel der Jacke. Sie wich erschrocken zurück. Was passierte hier gerade?
„Wo sind die anderen?“, fragte der Mann wieder und schaute sich dabei um, als würde er nach wem suchen.
„Mama“, murmelte Kioku und sah sich auch um.
„Du suchst deine Mutter? Hast du sie endlich gefunden?“, freute sich der Mann. Kioku jedoch schaute ihn konzentriert und ernst an.
„Entschuldigen Sie, wer sind Sie?“, hakte sie nach und ging los, nach ihrer Mutter zu suchen und rief immer wieder nach „Mutter“.
„Kioku, ist alles in Ordnung bei dir?“, erkundigte sich der Mann, der die Situation äußerst merkwürdig fand.
„Wer ist Kioku?“, hakte sie nach, ohne ihren suchenden Blick von der Umgebung abzuwenden. „Mutter, wo bist du?“
Der Mann ging nun einen Schritt schneller und hielt Kioku an ihrer Schulter fest und drehte sie zu sich um. Er hielt sie fest, weil er Angst hatte, dass etwas Merkwürdiges mit ihr passiert war.
„Kioku, warte“, hielt der Mann sie auf, „ich bin’s, Anon. Erkennst du mich nicht?“
Kioku verzog verwundert ihr Gesicht, sah Anon genauer an und schüttelte ihren Kopf. „Es tut mir wirklich leid, aber wer auch immer Sie sind, ich habe Sie noch nie getroffen.“
„Kannst du dich nicht erinnern?“, fragte Anon besorgt. „Wir haben uns schon einmal getroffen, Kioku.“
„Es tut mir wirklich leid. Ich weiß leider auch nicht, wen Sie mit Kioku meinen. Mein Name ist Aoko und … und ich suche meine Mutter. Sie war gerade noch hier.“ Wieder löste sie sich von Anons Griff und schaute sich besorgt um.
„Du bist nicht Aoko. Du bist Kioku, wir kennen uns“, versuchte Anon sie zu erinnern. Doch diesmal reagierte sie nicht auf ihn und suchte weiter nach ihrer Mutter. Gerade war sie dabei, den Park zu verlassen.
„Irgendetwas muss passiert sein“, sprach Anon zu sich selbst. Dann fasst er den Entschluss, Kioku zu folgen, solange, bis er wusste, was Besseres zu tun war. „Tak, Alayna und Eimi müssten doch irgendwo in der Nähe sein? Oh weh, Ryoma wird darüber nicht gerade erfreut sein. Ich muss mir etwas überlegen.“

Alayna wurde die Tür geöffnet von einem Jungen, der ungefähr so alt und groß war wie Eimi. Seine Haut war etwas dunkler als ihre. Seine braunen Haare waren an der Seite sehr kurz, oben hatte er leicht lockiges Haar.
„Hallo Kai, hallo Shio“, begrüßte Ama seine Kinder.
Kai hatte die gleichen Gesichtszüge wie Ama, jedoch die strahlend blauen Augen seiner Mutter Oto. Er hatte ein kleines, blondes Mädchen auf dem Rücken, das so aussah, als würde es noch nicht zur Schule gehen. Es hatte ein breites Grinsen im Gesicht, welches von lockigen, zerzausten Haaren umrahmt war. Kai wirkte ganz überrascht, als Alayna vor ihm stand. Jedoch war es Shio, die zuerst sprach.
„Papa, wer ist das?“, hakte sie ganz neugierig nach.
„Das ist Alayna“, erklärte er und führte Alayna hinein. Der Flur war schmal. Direkt neben dem Eingang befand sich ein Kleiderschrank, der in die Wand eingelassen war. Da wurden Jacken und Schuhe aufbewahrt. Auf der linken Seite führte eine Treppe ins obere Stockwerk. Eine kleine Lampe spendete etwas Licht, wodurch man sich die Bilder und Photographien anschauen konnte, die ordentlich in Glasrahmen an der Wand hingen. Alayna konnte einige Kinder- und Familienphotos entdecken. Ebenso befanden sich in den Rahmen Photos von Leuten, die sie nicht erkannte und gezeichnete Kinderbilder. Durch den Flur kamen sie in die Wohnküche. Der Bereich der Küche war groß. In der Mitte des Bereichs befand sich eine Kochinsel, über der etliche Küchenutensilien an einem von der Decke hängenden Rahmen befestigt waren. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Esstisch für acht Personen, auf dem Momentan einige Zeitschriften lagen. In einem kleinen Blumentopf blühte eine schöne gelbe Blume. Schließlich war auf der rechten Seite des Raumes eine Couchecke mit einem kleinen Tisch und ein riesiges Bücherregal. Durch eine Glastür konnte man in den Garten, der hinter dem Haus lag, gelangen.
„Naoru und Toru sind oben?“, erkundigte sich Ama bei seinem Sohn.
„Ja, soll ich sie holen?“, antwortete Kai und ging los, seine Geschwister zu holen, als sein Vater ihm zunickte.
„Papa, spielen wir was?“, bat die kleine Shio und tänzelte um ihren Vater herum. Dieser jedoch legte seine Hand auf ihren Kopf und schüttelte den Kopf.
„Wir müssen Alayna hier einen großen Gefallen tun.“
„Einen Gefallen?“, wunderte sich Shio und sah sich Alayna ganz genau an. Alayna fühlte sich irgendwie unwohl, als Shio sie von oben bis unten unter die Lupe nahm.
„Eine Freundin von ihr hat sich in der Stadt verlaufen und wir gehen sie jetzt suchen.“
„Woah!“, strahlte Shio und stemmte dabei ihre Fäuste in die Hüfte. „Ich werde sie finden!“
Kurz darauf kam Kai mit seinen weiteren Geschwistern ins Wohnzimmer. Kai war der Älteste der Truppe und Alayna ging davon aus, dass er in Eimis Alter sein musste. Von der Körpergröße her musste die Zweitälteste dann das Mädchen sein, das seine schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Es stellte sich mit dem Namen Naoru vor. Naoru wirkte etwas jünger als Alayna selbst. Ein Junge, der auch schwarze, kurze Haare hatte, stellte sich als Toru vor. Alayna bemerkte, dass er ein Pflaster auf der Nase trug und sah wieder zu Ama und bemerkte die Narbe, die sich über seine Nase und Wangen zog. Ob Toru sich wie sein Vater verletzt hatte? Mit Kai und Shio waren nun alle vier Kinder anwesend.
„Also, Kinder, hört mal zu“, fing Ama seine Ansprache an. „Wir suchen die Freundin von Alayna. Sie hat sich sehr wahrscheinlich in der Stadt verlaufen. Ich suche mit Shio und Toru den östlichen Teil der Stadt ab. Kai, du gehst mit Naoru und Alayna durch den westlichen Teil. Wir treffen uns bitte bei Mama in der Praxis, spätestens in vier Stunden, verstanden?“
Die Kinder stimmten der Sache zu und die kleinen machten sich daran, ihre Jacken und Schuhe anzuziehen, während Kai und Naoru schnell in ihre Schuhe schlüpften, sich eine Jacke überwarfen und mit Alayna schon einmal voraus gingen.

Kioku schlenderte mittlerweile durch einen kleinen Teil der Stadt, in der es viele verschiedene Läden gab. Der Geruch von diversen Imbissen weckte ganz merkwürdige Gefühle in ihr. Keiner der Gerüche kam ihr irgendwie bekannt vor und als sie die Stände noch genauer betrachtete, hatte sie auch nicht das Gefühl, dass sie jemals solche Gerichte gegessen hatte.
„Verzeihung“, sprach sie eine ältere Dame an. „Wo bin ich hier eigentlich?“
„Ach, mein Schätzchen“, antwortete die Dame, die ihren Wintermantel dick um sich herumgeschlungen hatte, ohne dabei vorwurfsvoll zu klingen. „Du bist in Yofu-Shiti. Hast du das am Eingang nicht gesehen?“
„Mh“, murmelte Kioku und ging weiter. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hier überhaupt hergekommen war. Aber vielleicht war das auch gar nicht so wichtig, denn das Gefühl, dass ihre Mutter hier sein musste, war unglaublich stark. Also lief sie einfach weiter. Langsam, als die Eindrücke dieser neuen, fremden Stadt nicht weniger wurden, bekam sie langsam Kopfschmerzen. Sie merkte auch, dass ihr Sichtfeld sich tunnelartig verengte. Kioku konnte sich einfach nicht konzentrieren.
Vor allem auch deswegen nicht, weil ihr immer noch dieser merkwürdige Mann mit den blauen Haaren und dem Trenchcoat hinterherlief, als würde er sie verfolgen. Sie sah, dass er irgendetwas in sich hineinmurmelte. Es musste doch möglich sein, ihn irgendwie abzuhängen. Also machte sich Kioku daran, in eine große Menschenmasse an einem Platz einzutauchen. Sie ging dabei auch leicht geduckt und hielt Ausschau nach kleinen Gassen, in denen sie verschwinden konnte. Immer wieder sah sie sich dabei nervös um, um zu sehen, ob der Mann immer noch hinter ihr her war. Dieser schien sich etwas panischer umzuschauen, es musste also funktionieren.
Dann nahm sie die Chance wahr und rannte schnell durch eine kleine Gasse, sah sich wieder dabei um und bemerkte eine Mülltonne nicht, über die sie schmerzhaft stolperte und zu Boden fiel. Die feuchten Pflastersteine waren kalt. Ihre Kopfschmerzen wurden schlagartig intensiver und schlimmer.
„Hast du dich verletzt?“, sprach der Mann im Trenchcoat, der plötzlich über ihr stand und ihr eine helfende Hand anbot.
„Wer zur Hölle sind Sie!?“, entgegnete Kioku etwas patzig. „Lassen Sie mich in Ruhe!“
Anon machte einen Schritt zurück und hob dabei seine Hände abwehrend. Ihr fiel wieder auf, dass eine Hand komplett verbunden war. Ihre Kopfschmerzen waren an ihrer Stirn noch viel schlimmer und vorsichtig tastete sie sich diese ab.
„Aoko, richtig?“, hakte er vorsichtig nach. „Entschuldige wegen vorhin, aber da habe ich dich wohl mit einer Freundin verwechselt. Ich weiß, wo deine Mutter ist.“
„Oh, wirklich?“ Kioku wurde neugierig. „Dann entschuldigen Sie bitte die Unhöflichkeit von mir.“
Kioku stand auf und klopfte sich den Dreck von der Jacke.
„Lass mich dir doch bitte noch einmal ordentlich vorstellen. Das vorhin tut mir wirklich leid. Ich heiße Anon Tedium und ich weiß, wo deine Mutter steckt.“
„Das freut mich sehr zu hören. Du bist ein Freund von meiner Mutter? Sie kennt so viele Menschen, manche von denen sind mir aber nicht ganz geheuer.“
„Wie meinst du das?“, hakte Anon neugierig nach. Er wollte wohl mehr über „Aoko“ erfahren. Dass er eigentlich gar nicht wusste, wo ihre Mutter war, verheimlichte er erst einmal. Er musste irgendwie herausfinden, wie er diese Situation unter Kontrolle bringen konnte.
„Manche wirken so, als würden sie etwas Finsteres vorhaben. Aber du scheinst ja ganz nett zu sein. Wo ist Mutter denn?“
„Sie ist gerade am Rande der Stadt und wartet auf dich. Soll ich dich dorthin führen?“
„Ja, gerne, ich weiß nämlich ehrlich gesagt gar nicht, wo ich gerade bin“, antwortete Kioku und sah sich um. Es wirkte fast so, als hätte sie von der einen auf die andere Sekunde ihren Charakter komplett verändert. Anon beobachtete sie beim Gehen und bemerkte, dass die Art und Weise, wie sie sich umsah und wie sie ihre Hände bewegte, sich komplett von der eigentlichen Kioku unterschied.
„Was machst du mit deiner Mutter in der Stadt?“, hakte Anon nach. Er hielt es für eine gute Idee, mehr über die Mutter herauszufinden.
„Weißt du, wir sind wie Vagabunden. Wir reisen durch das Land auf der Suche nach etwas. Mutter ist nicht mehr so fit, deswegen ist die Reise sehr schwer für uns.“
„Wow, das muss ziemlich anstrengend für dich sein. Wie macht ihr das? Ihr braucht doch Geld zum Reisen.“
„Mutter verwaltet das Geld. Sie hat mir nie verraten, wie sie an das Geld kommt. Sie meint immer, dass das nicht meine Sorge sein solle.“
„Und was ist das, was ihr sucht?“ Anon war ziemlich neugierig über das, was Kioku erzählte.
„Unsere Familie. Seit ich denken kann, bin ich mit Mutter alleine. Aber sie sprach immer von der Familie, die wir haben. Meinen Vater und meine Geschwister habe ich nie kennengelernt.“
„Das ist ja ganz schön traurig“, meinte Anon, der nicht ganz wusste, was er sonst antworten sollte.
„Was machen Sie denn in der Stadt?“, hakte Kioku neugierig nach.
„Mh, weißt du. Ich sammle gern Antiquitäten. In dieser großen Stadt gibt es einen berühmten Markt, da wollte ich eigentlich hingehen.“
„Was meinen Sie mit ‚eigentlich‘?“, wunderte sich Kioku und kratzte sich dabei wieder an der Stirn. Ihre Kopfschmerzen waren immer noch da, aber sie waren plötzlich nicht mehr so intensiv.
„Nun, ich habe jetzt etwas gefunden, was mich ein wenig stutzig macht. Da wollte ich einfach einmal nachforschen. Es interessiert mich einfach etwas mehr; der Markt kann warten“, antwortete Anon nervös, der seine Hände tief in die Taschen seines Trenchcoats vergrub.
Dann liefen sie eine Weile, ohne etwas zu sagen.

„Du bist DIE Alayna?“, hakte Naoru neugierig nach. Amas älteste Tochter trug einen Rock und Strümpfe; über ihrem Rollkragenpullover trug sie eine Winterjacke. Sie wirkte auf Alayna wie ein glückliches Mädchen. Die schwarzen Haare hatte sie von ihrem Vater geerbt, aber ihr Gesicht strahlte die gleiche Wärme und Freundlichkeit wie ihre Mutter Oto aus.
„Was meinst du damit?“, fragte Alayna verwirrt.
„Mama und Papa haben diesen Brief bekommen“, erklärte Naoru und gestikulierte dabei merkwürdig mit ihren Händen. „Ich habe sie vielleicht etwas belauscht.“
Alayna war der Überzeugung, dass sie den Brief meinte, den Jumon an alle Freunde ihres Vaters geschickt hatte. „Hast du auch mitbekommen, was in dem Brief stand?“
„Nein, leider nicht“, entschuldigte sich Naoru und zog ihre Augenbrauen hoch. „Aber Mama und Papa haben dann eine ziemlich lange Diskussion geführt.“
„Das wusste ich gar nicht“, meldete sich Kai auch einmal zu Wort und kratzte sich dabei am Kinn. „Warum hast du mir das früher nicht schon gesagt?“
„Weil ich dachte, dass es dich nicht interessiert“, antwortete seine kleine Schwester und wandte sich wieder zu Alayna. „Wo ist eigentlich dein Bruder?“
Kai machte auch neugierige Augen. „Du hast einen Bruder?“
„Du kriegst aber auch gar nichts mit, Kai. Kommt davon, wenn du ständig arbeiten und nie zu Hause bist.“
„Irgendwie muss ich mir das Studium doch finanzieren“, entgegnete er vorwurfsvoll.
„Takeru ist gerade nicht bei mir. Er dachte, er muss sein eigenes Abenteuer erleben“, erklärte Alayna kurz und seufzte. Der Gedanke daran, dass Takeru und Eimi gerade nicht da waren, schmerzte. Nun war auch Kioku verschwunden und sie wusste nicht, wie sie mit dieser Situation richtig umgehen sollte. Deswegen versuchte sie ihre Gefühle irgendwie in sich einzusperren und nicht zu viele Gedanken darüber zu verschwenden. Nur Kai schien das bemerkt zu haben und berührte seine Schwester an der Schulter, um ihr zu signalisieren, dass sie darüber keine weiteren Fragen stellen sollte.
„Deine Freundin, Kioku, wie ist sie so?“, hakte Kai nach, um die Konzentration auf das Wesentliche zu lenken.
„Kioku ist ein toller Mensch“, erklärte Alayna und fing wieder an, sich in der Gegend richtig gut umzusehen. „Sie weiß leider nicht, wer sie ist und manchmal, da hat sie eine Art Anfall. Dann geht es ihr ganz schlecht und deswegen müssen wir sie schnell finden. Wer weiß, was alles passieren kann.“
„Mama kann ihr bestimmt helfen, sich besser zu fühlen. Mama ist eine hervorragende Ärztin, musst du wissen“, erklärte Naoru grinsend. Alayna merkte, dass sie sehr stolz auf ihre Familie war.
„Eigentlich hatten wir diese Idee, dass wir nach Yofu-Shiti kommen und einen Arzt finden, der sich auf Amnesie spezialisiert hat.“
„Da wollte dein Bruder euch nicht helfen?“, hakte Naoru nach. Sie verstand nicht, dass man als Familie nicht zusammenhielt würde und fragte deswegen nochmal nach. „Dann kann er Kioku ja nicht so leiden, oder?“
„Doch, doch“, wehrte Alayna diesen Vorwurf ab. „Er kann sie sogar sehr gut leiden. Nur kam ihm da wohl etwas anderes, Wichtigeres dazwischen.“
„Aber was ist wichtiger, als eurer Freundin zu helfen?“
„Naoru, bitte. Das geht uns nichts an“, entgegnete Kai und sah sie eindringlich an. Alayna konnte schon nachvollziehen, dass sie das so sehr interessierte. Es war ja eigentlich gar nicht so kompliziert, wie es gerade schien.
„Ist schon gut“, meinte Alayna und hörte nicht auf, die Gegend nach ihrer Freundin abzusuchen. „Er sucht unseren Vater.“
„Das versteh ich jetzt nicht ganz“, sagte Naoru und zog ihre Augenbrauen nach oben. Sie stellte ihre Fragen so schnell, dass man ihr fast nicht folgen konnte. „Du hilfst deiner Freundin, aber euer Vater ist auch verschwunden? Und was ist mit eurer Mutter? Wie kommst du mit dem Stress überhaupt klar?“
„Naoru, es reicht“, warnte Kai sie bestimmt. „Das geht dich alles nichts an. Du bist mal wieder viel zu neugierig.“
„Das liegt daran, dass Mama und Papa immer so geheimnistuerisch sind!“, wehrte sich Naoru, die sich schon fast in Rage geredet hatte. „Ich bin kein Kind mehr! Ich will doch auch nur einmal ein Teil von dem sein, was ihr immer macht. Ich habe es satt, die Kleine zu sein, Kai.“
„Aber es geht verdammt nochmal nicht um dich!“, brüllte Kai nun und es schien, als blieben die Leute in der Umgebung für einen Moment stehen. Einige Köpfe wandten sich in die Richtung der Drei. Ein Hund fing an zu bellen, ein Kind in einem Kinderwagen fing an zu weinen. Als sich die Stille vollends wieder löste und die Leute wieder das machten, was sie machten, hörten Kai und Naoru ein Schluchzen.
Alayna sackte zusammen und auf dem kalten Boden sitzend fing sie an, schrecklich zu weinen.
„Es ist nur“, erklärte sie mit einer zitternden, schwachen Stimme. Ab und an musste sie nach Luft schnappen. „Papa ist einfach verschwunden, Mama redet nicht mit uns, aus was für einem Grund auch immer. Tak und Eimi denken, sie können den Aufenthaltsort von Papa finden. Kioku hat immer wieder diese Anfälle und dann, dann sind da diese Leute. All diese Leute brauchen Hilfe. Ihnen wird so viel Leid zugefügt von dieser merkwürdigen Organisation. Ich will doch einfach nur wieder ein normales Leben haben, zur Schule gehen, mich mit meinen Freunden treffen und von alldem nichts mehr wissen …“
„Alayna, entschuldige“, bat Naoru um Verzeihung und kniete sich zu ihr. Kai tat ihr das gleich und legte dabei noch seine Hand auf Alaynas Schulter, um sie etwas zu beruhigen.
„Aber ich fühle mich so verantwortlich für alles. Wie können das die ganzen Menschen um uns herum ignorieren, dass es anderen schlecht geht? Warum sehen sie das nicht? Warum hören sie nichts?“
Kai und Naoru sahen sich besorgt an. Für einen Moment wussten sie nicht, was sie darauf antworten sollten.

Plötzlich sah Kioku am Ende der Straße jemanden in einem schwarzen Mantel in eine Gasse einbiegen. Wie durch einen merkwürdigen Automatismus ausgelöst, fing sie an zu laufen.
„Da ist ein Freund von meiner Mutter“, murmelte sie immer und immer wieder. „Mutter …“
Anon bemerkte erst gar nicht, dass Kioku schneller lief, aber als er es bemerkte, hetzte er ihr hinterher. „Hey, warte!“, rief er und wedelte dabei wild mit den Armen.
Kioku bemerkte nicht, dass sie mittlerweile rannte. Es war schwer, mit ihren starken Kopfschmerzen durch die Menschenmenge zu navigieren; immer wieder blieb sie an Leuten hängen und rempelte sie an. Voller Zorn riefen diese Leute Kioku etwas hinterher, was nur als sehr dumpfer, leiser Ton bei ihr kaum wahrnehmbar ankam. Die Straße führte rechts um eine Kurve. Der Mann mit dem Mantel war jedoch links in eine Gasse gebogen, also tat sie ihm das gleich. Die Gasse war sehr eng und führte zwischen zwei großen Wohngebäuden aus Backstein schnurgerade zu einem Platz. Kioku entdeckte diesen Mann in der Gasse nicht, drehte sich noch einmal um, um sicherzugehen, dass sie nicht an ihm vorbeigelaufen war.
„Hey, nicht so schnell!“, rief Anon, der gerade um die Ecke gebogen war und nun auch in der Gasse stand. „Sicher, dass da keine Verwechslung vorliegt?“
Kioku blieb stehen und fixierte Anon mit ihrem Blick. „Nein“, war das Einzige, was sie zu sagen hatte. Dann wandte sie sich wieder in die Richtung, in der sie vermutete, dass der Mann gegangen war und sprintete los.
„Warte!“, schrie Anon und rannte ihr hinterher.
Die Gasse war lang und man musste einigen Mülltonnen und liegengelassenen Sachen ausweichen. Doch Kiokus Blick war auf das Ziel gerichtet. Sie war der festen Überzeugung, dass ihre Mutter hier sein musste, denn da war doch dieser Mann, den ihre Mutter kannte. Die Kopfschmerzen wurden nun wieder stärker. Die Gebäude auf der linken und rechten Seite waren groß und das Tageslicht fiel kaum in die Gasse. Nur das Licht, das den Platz am Ende der Gasse erleuchtete, strahlte wie ein ferner Punkt als Einziger Licht aus. Die Kopfschmerzen verursachten eine Art Tunnelblick, der durch die Enge der Gasse nur verstärkt wurde. Die Geräusche stumpften ab, jedoch wusste Kioku, dass sie sich nur ganz stark auf dieses Ziel fixieren musste, damit sie ihre Mutter finden würde. Das Ende der Gasse kam immer näher und mittlerweile hatte Kioku eine wahnsinnige Geschwindigkeit aufgenommen.
„Sie muss da sein“, hechelte sie in totaler Selbstüberzeugung. „Mutter!“
Das Licht wurde immer stärker und blendete Kioku, trotzdem verlor sie keine Geschwindigkeit. Gerade, als sie aus der Gasse auf den Platz heraustreten wollte, trat ein großer Schatten von rechts kommend vor die Gasse und sie konnte nicht mehr abbremsen.
„Mutter!“ Der Moment, bevor sie mit dem Schatten zusammenstieß, verlief wie in Zeitlupe.
„Papa!“, rief ein kleiner Junge, der zu dem Schatten gehörte.
„Papi!“, rief ein kleines Mädchen, dem Kioku gerade noch so ausweichen konnte, als sie ihr Gleichgewicht verlor.
„Mutter!“, rief Kioku wieder, die gegen den großen Schatten stieß und überrascht war, wie hart der Aufprall war. Die Energie des Zusammenstoßens war so intensiv, dass sie sich und den Schatten zu Boden warf und auf ihm landete. Kurz darauf erschien auch Anon am Ende der Gasse und betrachtete, was passiert war.
„Autsch“, brummte Ama, der sich als der große Schatten herausstellte. Er half sich und Kioku hoch. „Scheint so, als hätten wir dich gefunden.“
Er klopfte vorsichtig den Dreck von Kiokus Jacke und stützte sie dabei etwas.
„Toru, Shio, ist alles in Ordnung bei euch?“, fragte er nach und war beruhigt, als er sah, dass es seinen Kindern gut ging.
Bevor Anon Ama begrüßen konnte, stieß Kioku sich von Ama ab und starrte ihn zitternd an. Mittlerweile lief ihr Schweiß über das Gesicht und einige ihrer Haare klebten auf ihrer Haut. Trotz des starken Zitterns bewegten sich ihre Augen, die auf Ama fixiert waren, nicht.  
„Shio, Shio, Shio, Shio, Shio, …”, wiederholte sie immer wieder, wie in Trance. „Shio, Shio, Shio, …“
„Du bist Kioku?“, hakte Ama nach, der besorgt eine Hand auf ihre Schulter setzte, um sie zu beruhigen.
„Ist das die Frau, die wir suchen, Papa?“, hakte Toru nach. Amas jüngerer Sohn stand neben seiner Schwester, um sie zu beschützen.
„Papi, wir haben sie gefunden!“, grinste Shio und beobachtete Kioku genau.
„Ja, das ist sie“, antwortete Anon, da Kioku gerade nichts anderes als Shios Namen vor sich her murmelte. „Anscheinend aber auch nicht.“
„Was meinst du?“, fragte Ama. „Schön dich wiederzusehen, Anon.“
„Hallo, Ama. Ist eine Weile her, nicht? Pass auf, ich habe Kioku vorhin in der Gegend getroffen. Aber sie scheint sich nicht zu erinnern, wer ich bin“, erklärte Anon und kratzte sich dabei grübelnd am Kinn.
„Ihr habt euch schon einmal getroffen?“
„Ja, vor einer Weile, als sie und die Kinder von Ueruto herübergeflogen sind.“
Kioku murmelte wieder und wieder den Namen. Vorsichtig ging Toru mit seiner Schwester einen Schritt zurück. „Papa, das ist gruselig“, sagte er und sorgte sich um seine Schwester.
„Es ist bestimmt alles gut“, beschwichtigte er seine Kinder. „Ihr müsst keine Angst haben.“
Kioku zitterte plötzlich viel stärker, als vorher.
„Shio, Shio ist hier! Das ist meine Mutter! Wo ist Mutter? Wo bist du?“, sie löste sich von Ama und drehte sich umher. Ihre Hände hielt sie wie einen Trichter um ihren Mund, um noch lauter rufen zu können. „Wo bist du!?“
„Papi, aber ich bin doch hier“, sagte Shio und verstand nicht so recht, was gerade passierte.
„Alles ist gut“, beruhigte er seine Tochter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Es gibt auch andere Leute, die so heißen wie du.“
„Sie ist nicht sie selbst“, sprach Anon besorgt. „Sie spricht die ganze Zeit davon, ihre Mutter zu finden.“
„Mich überrascht nur eines“, stutzte Ama. „Meine Mutter hieß Shio. Deswegen habe ich meine Tochter nach ihr benannt.“
„Was bedeutet das?“, fragte Anon, aber bekam keine Antwort darauf, denn in dieser Sekunde ertönte in der ganzen Stadt eine Notfallsirene. Der laute Ton der Sirene war dafür gedacht, die Stadt vor einer Katastrophe zu warnen und gerade, als dieser Ton einsetzte, sackte Kioku bewusstlos in sich zusammen. Die kleine Shio schrie ängstlich auf und Toru wusste nichts besseres, als seine kleine Schwester fest an sich zu drücken. Anon reagierte blitzschnell und stürmte zu Kioku. Kurz bevor sie auf den Boden fiel, schnellten seine Bänder unter seinem Trenchcoat hervor und fingen sie auf. Er checkte, was mit ihr los war und stellte fest, dass sie noch atmete. „Sie scheint bewusstlos zu sein“, erklärte er. „Was passiert hier?“
„Die Sirene wurde für Unwetterkatastrophen eingerichtet“, erklärte Ama und nahm Shio auf den Arm, die schrecklich weinte. Seine freie Hand streichelte Torus Kopf, der ebenfalls einen sehr eingeschüchterten Eindruck machte. „Das Wetter ist ganz normal, also muss etwas anderes passiert sein.“
„Was machen wir jetzt?“, sorgte sich Anon, wickelte einige seiner Bänder um Kiokus Körper und nahm sie Huckepack. „Ich würde mich gerne darum kümmern, aber wir sollten erst Kioku versorgen.“
„Ich sollte die Kinder nach Hause bringen. Zumindest bringen wir sie zu Oto. Sie kann Kioku ärztlich versorgen und auf die Kinder aufpassen, dann schauen wir nach, was hier passiert.“
„Beeilen wir uns.“
So wie nun alle Menschen der Umgebung in Gebäude oder nach Hause eilten, weil sie diese Situation ebenso wenig wie Ama und Anon verstanden, machten sich die zwei Männer mit den Kindern und der bewusstlosen Kioku ebenso auf den Weg. Ama musste auf dem Weg darüber nachdenken, inwieweit es ein Zufall war, dass Kiokus Mutter ebenso wie seine Shio hieß.

In einem anderen Teil der Stadt, welcher sich ziemlich nah an einem der Stadttore befand, mussten Alaynas Tränen schnell versiegen. „Was soll das?“
„Das sind die Notfallsirenen. Was auch immer passiert, wir sollten uns in Sicherheit bringen.“
„Aber wir müssen Kioku finden! Sie wird keine Ahnung haben, was sie tun soll.“
Kai sah Alaynas Blick und merkte, dass er nichts dagegen sagen konnte. „Du hast Recht.“
„Ich will euch nicht widersprechen, aber …“, wandte Naoru ein und zeigte mit ihrem zitternden Finger auf das Stadttor, das in diesem Moment geöffnet wurde. „Wer sind diese Leute?“
Alayna stand auf und sah wie Kai und Naoru auch eine Horde an bewaffneten Leuten in schwarzen Klamotten in die Stadt hineintreten. Allen voran war ein Mann, der deswegen besonders hervortrat, weil er keine schwarzen Klamotten trug, sondern einen weißen Arztkittel. Neben ihm lief ein kleinerer, muskulöser Mann, der Alayna sehr bekannt vorkam. Es war der Mann, vor dem sie in Funtraprolis geflohen war, als er sie wegen dem Tagebuch festgehalten hatte.
„Das ist ungut“, murmelte sie und wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde.


Kapitel 38 – Das Schicksal des Untergrunds

Es war ein leises, regelmäßiges Piepsen, das ihn langsam aus dem Schlaf holte. Es fiel ihm sehr schwer, die Augen zu öffnen, also tastete er erst einmal seine Umgebung ab. Der Untergrund, auf dem er lag, war kalt und er spürte, dass unter dem Stoff, auf dem er lag, Luft war. Seine Finger ertasteten Metallstangen, die den Stoff eines Feldbettes trugen. Unter seinem Kopf spürte er ein kleines Kissen. Irgendjemand musste ihn mit einer dünnen Decke zugedeckt haben. Als er seine Hand zum Gesicht bewegte, um sich die Augen zu reiben, bemerkte Takeru, dass etwas auf seinem Handrücken klebte und mit einem Kabel verbunden war. Das verwirrte ihn, also grub er seine linke Hand unter der Decke hervor und tastete damit seine rechte ab. Das klebende Ding riss er ab, der zwickende Schmerz, der dabei entstand, hielt nur kurz an.
Jetzt richtete er sich auf, rieb sich, wie er es vorhatte, die Augen und versuchte klar zu sehen. Dann bemerkte er einerseits, dass er seine Klamotten trug und andererseits, dass ihm außer Hunger und einem leichten Schwächegefühl anscheinend nichts fehlte. Der nächste Gedanke war daran gerichtet, wo er sich momentan befand. Der spärlich eingerichtete Raum, in dem er aufgewacht war, beinhaltete noch ein paar andere Betten, in denen jemand schlief. Er wollte zwar wissen, wo er sich befand, jedoch wollte er dafür keine fremden Personen aufwecken und stand leise auf. Ein Blick auf sein Feldbett löste eine Verunsicherung aus, da weder seine Tasche, noch sonst etwas anderes danebenstand. Wo waren das Tagebuch und der Kompass?!
Schnell und leise verließ er den Raum und fand sich in einer Art Korridor wieder, der ihn stark an die Kellergänge seiner Schule erinnerte. Dicke Rohre führten an der Decke entlang und die Wände waren aus grauem Beton. Langsam klärte sich der Nebel in seinem Kopf und er erinnerte sich an das Geschehnis des gestrigen Tages. Er wunderte sich, ob es wirklich gestern passiert war und ignorierte dabei die Enttäuschung, die er empfand.
Das Bild von Ea, der sich grinsend und winkend verabschiedet hatte, hatte sich in seine Erinnerungen gebrannt. Was auch immer dieser Laan für ein Problem hatte, er war nicht die versprochene Lösung, um Takerus Vater zu finden. Tatsächlich war er genau das Gegenteil gewesen, denn wegen ihm war nun auch Ea verschwunden, in den Takeru so viel Hoffnung gesetzt hatte. Jetzt musste er aber schnell das Tagebuch und den Kompass wiederfinden, das waren die einzigen Anhaltspunkte für den Aufenthaltsort seines Vaters, die noch geblieben waren. Aber wo genau befand er sich? Gerade erst noch waren sie doch auf dem Friedhof gewesen. Da es in diesem kellerartigen Gang nicht sehr viele Türen gab, die nicht abgeschlossen waren, blieb ihm nichts anderes übrig, als weiter geradeaus zu gehen und an jeder Tür zu ziehen, um zu überprüfen, ob sie aufging. Glück hatte er erst an einer großen Doppeltür, die sich schwer öffnen ließ.
Er betrat einen Raum, der ihn an einen Konferenzraum erinnerte. In der Mitte des Raumes befanden sich in einem großen Kreis aufgereiht Tische, die anscheinend so zusammengestellt worden waren, damit man konferenzartige Besprechungen führen konnte. An der gegenüberliegenden Wand hing eine große Weltkarte. Es war so eine, die er auch aus der Schule kannte. Jedoch waren einige Zettel und Bilder an die Karte gepinnt und einige Sachen waren mit Fäden verbunden. Auf der linken Seite war ein Bereich, der etwas tiefer lag als der Rest des Raumes. Wenige Stufen führten zu einer Gruppe von kleinen Tischen und wild zusammengestellten Sesseln, die alle so aussahen, als hätte man sie aus verlassenen Häusern gestohlen. In der Ecke dieses Bereichs standen große Bücherregale, in denen diverse Bücher und Gegenstände sortiert waren. Auf der rechten Seite des Raumes befanden sich einige Schreibtische, auf denen diverse Geräte standen. Einige Leute saßen entweder in den Sesseln oder an Schreibtischen. Takeru konnte nicht genau sagen, was die Leute machten, da seine Aufmerksamkeit schnell auf eine Person gerichtet wurde. Vor der Landkarte stand ein braunhaariger Mann, der seine Arme verschränkt hatte. Er trug eine braune Hose und Schuhe aus Leder. An seinem knielangen, schwarzen Mantel glänzten einige goldene Knöpfe. Auf Brusthöhe sah er einen Pin, der aus einem Linienmuster bestand und wohl die Buchstaben „VA“ symbolisierten. Instinktiv griff Takeru in seine eigene Hosentasche, um zu überprüfen, ob sich Sayokos Pin darin befand und erleichtert atmete er aus, als er diesen fand. Der Mann trug eine Brille und hatte einen Bart, der bis auf Oberlippe und Kinn getrimmt war. Dieser Mann fixierte Takeru mit seinem Blick und lief ohne zu zögern auf ihn zu.
Takeru erschreckte sich, wie schnell der Mann auf ihn zukam und ihn am Kragen seines Shirts packte und gegen die Wand drückte, sodass er sich gar nicht wehren konnte.
„Du hast es zerstört!“, brüllte ihn dieser Mann an, dessen wütender Blick jemand hätte umbringen können.
Takeru hob verteidigend seine Hände und versuchte seinen Kopf beiseite zu drehen. Der Griff des Mannes und der Druck gegen die Wand schmerzten unglaublich.
„Ich, ich habe nichts getan!“, verteidigte sich Takeru, der sich wirklich nicht mehr sicher war, was überhaupt passiert war. Nach dem Bild des sich verabschiedenden Ea konnte er sich an nichts mehr erinnern.
„Unser Andenken! Du hast es zerstört und dabei noch den ganzen Friedhof verwüstet!“, brüllte der Mann und hob seine andere Hand drohend zur Faust. „Wie konntest du nur, das ist das Einzige, was uns noch geblieben ist!“
Er holte aus, jedoch hielt ihn ein anderer Mann, der schnell dazu kam, davon ab, Takeru zu schlagen.
„Beruhige dich, Arec“, sagte der Mann in einem ruhigen Ton. Der andere Mann hatte kurze schwarze Haare an der Seite und etwas längere, leicht gewellte Haare oben auf seinem Kopf. Er hatte Bartstoppeln auf seiner Oberlippe und dunkle Augen, die einen unglaublich netten, beruhigenden Eindruck machten. „Du weißt, er hatte sich nicht unter Kontrolle.“
Arec ließ Takeru los, der daraufhin zu Boden sank. Er war immer noch nicht bei vollen Kräften.
„Shin, du weißt, was Requell für uns bedeutete!“, verteidigte sich Arec und wandte sich von Takeru ab, um sich zu beruhigen. Der Mann mit den schwarzen Haaren, der wohl Shin hieß, versuchte Arec zu beruhigen und legte seine Hand auf dessen Schulter.
„Natürlich, aber du kannst dem Kleinen doch keine Schuld geben, wenn er sich nicht einmal unter Kontrolle hatte. Er wird nicht einmal mehr wissen, was passiert ist“, erklärte Shin und hoffte, dass Arec sich wieder beruhigte. Arec würdigte Takeru keines Blickes.
„Wo bin ich hier? Was ist passiert?“, hakte Takeru nun nach.
Shin reichte ihm eine Hand und half Takeru hoch. Dann bot er ihm einen Stuhl am Konferenztisch an.
„Ich bin Shin von den Vastus Antishal“, stellte er sich vor und erklärte, was am gestrigen Tag passiert war. „… Arec und Lliam haben euch entdeckt, jedoch wurde der Friedhof ziemlich verwüstet, bevor die beiden euch aufhalten konnten. Wir haben dich dann direkt ins Krankenzimmer gebracht und uns um dich gekümmert, obwohl einige gegen diese Idee waren.“
Shin warf einen vorwurfsvollen Blick auf Arec. Dann zuckte er mit den Schultern. Shin wirkte wirklich wie ein sehr netter, junger Mann. Er konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein.
Takeru sackte etwas in sich zusammen und betrachtete seine Handflächen, die auf seinen Oberschenkeln lagen. War er wirklich imstande, so eine gewaltige Kraft freizusetzen? Das musste sehr viel Energie gewesen sein, um einen Kristall zu zerstören und massige Grabsteine umzuwerfen.
„Eimi!“, rief er plötzlich, als er über das nachdachte, was ihm gerade erzählt worden war. „Wo ist er?“
Shin zeigte nach oben. „Er ist draußen und sucht etwas für dich.“
Takeru stürmte aus dem Raum und Shin folgte ihm. Er rannte durch den Gang weiter und entdeckte eine Treppe, die nach oben führte. Die Treppe endete in einer der Holzhütten, die sich Takeru und Eimi angesehen hatten. Tak sah das verdunkelte Fenster und wusste, in welcher der Hütten er war. Er riss die Tür auf und fand sich draußen wieder. Es war wärmer als in den letzten Tagen und die Sonne schien kräftig. Nur einige flauschige Wolken zogen sorglos über den Himmel. Um sich noch einmal richtig zu orientieren, blickte er nach links und rechts und entdeckte dann den Friedhof, zu dem er lief.
In der Mitte des Friedhofs, wo bis vor kurzen noch ein riesiger Kristall gestanden hatte, saß Eimi im Dreck und wühlte sich durch Steinbrocken und Staub. Takeru sah, dass Eimi von oben bis unten verdreckt war. Seine Hände, oder mehr die Stellen, die nicht voller Erde waren, waren knallrot. Eimi musste da wohl schon eine Weile gesessen haben. Der Friedhof war total verwüstet. Einige der Grabsteine lagen nun flach auf dem Boden, von anderen fehlten einige Stücke. Als Takeru erblickte, was er angerichtet hatte, blieb ihm kurz der Atem stocken und nachdem er sich wieder gefasst hatte, wandte er sich zu Eimi.
„Eimi, was tust du hier?“, fragte Takeru besorgt. Eimi drehte sich zu seinem Freund und sah ihn grinsend an.
„Dir geht es gut“, sprach Eimi und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, sodass darauf ein Streifen Dreck übrig blieb.
„Mir wurde erzählt, was passiert ist. Es … Es tut mir so leid“, entschuldigte er sich und setzte sich neben Eimi.
Dicke Tränen liefen über seine Wangen. Die Wut, Trauer und Enttäuschung über das Geschehnis schnürte ihm die Kehle zu. „Ich hatte mich nicht unter Kontrolle und Ea … Ea ist einfach verschwunden!“
„Ich weiß“, sprach Eimi und legte eine Hand auf Takerus Schulter.
„Er war meine Hoffnung, Papa zu finden!“, erklärte Takeru nun lauter und fing an zu schluchzen. „Ich dachte, wir wären am Ziel, wir wären an dem Punkt, an dem wir endlich wissen, wo Papa ist!“
Eimi nickte verständnisvoll und wiederholte sein „Ich weiß“.
Takeru wischte sich mit seinem Arm einige der Tränen aus dem Gesicht, sie hörten aber nicht auf zu fließen. „Ich hatte mich nicht unter Kontrolle“, schluchzte er noch stärker. „Ich hoffe, ich habe dich nicht verletzt.“
Ein Kopfschütteln verriet, dass es Eimi gut ging. Mittlerweile erreichte Shin den Friedhof und sah aus einer gewissen Entfernung zu, was die Jungs dort machten. Ein weiterer Mann stand neben ihm. Er trug eine Fliegerbrille und eine grüne, schicke Jacke. Sein Blick verriet, dass er großes Mitleid für die Jungs empfand und selber traurig war.
„Ich habe Angst, Eimi“, gestand Takeru und blickte seinem Freund tief in die Augen. „Wenn wir Laan und Ea nicht haben, wenn wir den Kompass verlieren oder das Tagebuch nicht mehr haben, werden wir Papa niemals finden. Und wenn ich dann noch einmal die Kontrolle verliere, werde ich noch jemanden verletzen … Was passiert mit mir, Eimi?“
Für einen kurzen Moment antwortete Eimi nicht. Stattdessen drückte er Takeru fest an sich und nahm ihn in den Arm. Takeru brach dabei vollkommen in Tränen aus und nun liefen auch die ersten Tränen Eimis. Sie hatten beide keine Antwort auf all diese Fragen. Für einen Moment war es still auf dem Friedhof. Keiner sprach oder rührte sich. Es dauerte etwas, bis sich die Emotionen wieder beruhigen konnten. Dann löste sich Takeru von der Umarmung, nahm einen tiefen Atemzug und musste grinsen.
„Du bist von oben bis unten verdreckt“, stellte er fest und wischte etwas Dreck von Eimis Schulter. „Was machst du hier eigentlich?“
„Ich suche nach dem Kompass“, erklärte Eimi, stand auf und half auch Takeru aufzustehen. Selbst Eimi konnte sein Grinsen nicht unterdrücken. „Ich habe beobachtet, wie Ea im letzten Moment den Kompass hat fallen lassen. Er muss hier irgendwo sein.“
„Meint ihr das Ding hier?“, meldete sich der Mann mit der Fliegerbrille aus der Ferne zu Wort. Er hielt den Kompass hoch und ließ ihn an seiner Kette baumeln.
Takeru und Eimi eilten zu den beiden Männern und ohne zu zögern, wurde der Kompass Takeru überreicht.
„Was ist das für ein Gegenstand?“, hakte Shin neugierig nach.
„Ich habe den hier liegen sehen“, sagte der Mann mit Fliegerbrille.
Die Jungs sahen sich fragend an. Mal wieder befanden sie sich in der Situation, Fremden ihre Lage zu erklären. Sie zögerten etwas.
„Warte mal, bist du Gintas Sohn?“, stellte der Mann mit der Fliegerbrille fest. „Du siehst aus wie er.“
Takeru nickte und beobachtete, wie Shins Gesichtsausdruck sich änderte.
„DER Ginta?“, fragte Shin und der Mann mit Fliegerbrille nickte. „Du bist der Sohn von Ginta, in den Riven so viel Hoffnung setzte? Der Ginta, der die Welt gerettet hat?“
„Es ist ein Wunder, dass das niemand auf der Welt mitbekommen hat“, seufzte der Mann mit der Fliegerbrille und stellte sich vor. „Ich bin Lliam, Lliam McScrew. Wir haben damals deinen Vater im Kampf gegen die Shal unterstützt.“
Er nahm Takerus Hand und schüttelte sie. Dann tat Shin das Gleiche.
„Ihr habt euch als Vastus Antishal vorgestellt. Was ist das?“, wunderte sich Eimi. „Und ihr kennt wirklich Taks Vater? Woher wissen wir, dass ihr nicht lügt?“
Lliam lachte laut los, was Takeru und Eimi verwirrte. „Das ist definitiv eine berechtigte Frage!“
Er ging einige Schritte auf den Friedhof zu und sah sich um. „Irgendwo muss er doch sein“, murmelte er vor sich hin. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, winkte er die Jungs zu sich herbei.
„Ihr müsst wissen“, erklärte Lliam, „dass dieser Friedhof ein Andenken sein soll an jene, die im Kampf zur Rettung der Welt ihr Leben ließen. Wir hatten Ginta, nachdem alles beendet war, ein Dankeschön hier gelassen. Damals fing er seine Reise an, um mehr über den Tod seiner Eltern herauszufinden. Die Verantwortung, die er übernahm, war größer als was ein einzelner Mann jemals hätte allein tragen können. Er wusste nie wirklich, warum seine Eltern in all das involviert waren, aber hiermit konnte er ihnen Frieden verschaffen.“
Lliam zeigte auf einen Grabstein, der auf dem Boden lag und in drei Teile zersprungen war. Die Aufschrift des Grabsteins sagte:


Maye und Dartel Sabekaze
Sie ließen ihr Leben im Kampf für Gerechtigkeit.


„Das ist für meine Großeltern?“, hakte Takeru nach. Er hatte seine Großeltern väterlicherseits nie kennengelernt. Oma und Opa waren für ihn immer die Eltern seiner Mutter gewesen.
Lliam nickte. Takeru war sich unsicher, was er über diese Situation denken sollte.
„Ginta war damals sehr dankbar, als wir das für ihn errichteten.“
„Hat dein Vater jemals über deine Großeltern gesprochen?“, fragte Eimi nach. Er hatte das Gefühl, dass die Vastus Antishal wirklich Freunde von Takerus Vater waren, so gut wie sie die Familie Sabekaze kannten.
„Papa hatte sie mal erwähnt. Ich habe auch einmal Photos in unserem Familienalbum gesehen. Aber er sprach nie wirklich über sie“, erklärte Takeru. Er hatte immer noch den Kompass in der Hand und hielt diesen nun fester in seiner Hand, unterbewusst daran glaubend, dass er ihm doch den richtigen Weg weisen konnte.
„Wir geben euch auch gerne eine Tour, um die Vastus Antishal besser kennenzulernen“, bot Shin an und kratzte sich dabei am Ohrläppchen. „Dann versteht ihr vielleicht besser, was das hier alles soll.“
Eimi und Takeru sahen sich an und nickten.
„Wenn ihr wirklich Freunde von Papa seid, dann würden wir euch gerne kennenlernen“, sprach Takeru. Lliam und Shin wandten sich schon zum Gehen, jedoch hielt Takeru noch inne. „Es tut mir wirklich leid, was hier passiert ist. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle und ich weiß gar nicht, was mit mir passiert ist. Ich weiß nicht, was dieser Ort für euch bedeutet, aber nachdem ich das hier gesehen habe, kann ich verstehen, warum er so wichtig ist.“
„Ist schon gut“, beschwichtigte ihn Lliam. „Es sind Steine. Einfach nur Steine.“
Lliam ging voraus. Shin blieb noch kurz stehen und sah sich alles ganz genau an.
„Ihr müsst wissen, dass die Mitglieder der Vastus Antishal alle im Laufe ihres Lebens etwas verloren haben, ihre Heimat, ihre Familie oder ihre Freunde. Der Kristall in der Mitte des Friedhofs war ein enger Freund der Gruppe. Er starb an einer seltenen Krankheit, bei dem sein Körper langsam kristallisierte.“
Den Jungs kam diese Krankheit merkwürdig bekannt vor und sie erinnerten sich an Suna, den Jungen aus dem Labor.
„Das heißt, dieser Kristall war der Freund?“, stellte Eimi erschrocken fest und beiden Jungs blieb kurz der Atem weg, als Shin nickte.
„Arec war deswegen so wütend, weil dieser Kristall auch das einzige Andenken ist, das von unserem Anführer Riven übrig blieb“, erzählte Shin weiter.
Eimi machte ein fragendes Gesicht. „Was meinst du damit?“
Shin grinste und deutete mit seiner Hand auf den Eingang der Zentrale. „Scheint so, als hätte die Tour offiziell begonnen.“
Die drei gingen zurück und Shin lief mit ihnen alle Räume ab und stellte ihnen einige Leute vor, während er erklärte, was es sich mit den Vastus Antishal auf sich hatte.
„Riven hat vor etlichen Jahren die Vastus Antishal gegründet. Angefangen hatte es mit sieben Mitgliedern, die sich zusammengeschlossen hatten, um über den Untergrund die Shal zu beobachten, zu infiltrieren und von innen und außen zu zerschlagen. Riven ist nach einem Kampf gestorben. Zumindest glauben wir das alle, bis auf Arec, der überzeugt ist, dass er einfach verschwunden ist. Dabei war es in dem Kampf, in dem er sich befunden hat, ziemlich eindeutig, dass er gestorben ist. Es gab zwei weitere Mitglieder, Kyrmoo und Ethal, die ebenfalls in einem Kampf umgekommen sind. Ethal war ein starker Kämpfer, aber auch ein lieber Typ. Er trägt daran schuld, dass ich den Vastus Antishal beigetreten bin. Mittlerweile übernehmen Arec und Lliam die Entscheidungen der Gruppe. Neben uns gibt es noch drei weitere Mitglieder, die im höheren Rang beschäftigt sind. Sie befinden sich aber zurzeit an einem anderen Standort. Außerdem werden wir von etlichen Informanten und Freunden unterstützt. Auf anderen Kontinenten befinden sich einige Rebellengruppen, die uns ebenfalls tatkräftig unter die Arme greifen. Vor allem hier auf Ruterion gibt es etliche Flüchtlinge, von überall auf der Welt, denen wir hier Unterstützung und Hilfe anbieten, damit diese Leute einen Neustart wagen können.“
„Das heißt, ihr arbeitet auch mit der Schutztruppe zusammen?“, hakte Eimi nach und beobachtete, als die Drei im Krankenzimmer ankamen, einige der Leute, die in den Betten lagen und miteinander sprachen. Jemand anderes brachte gerade etwas zu Essen herein und half denen, die selbst zu schwach waren, zu essen.
„Ihr müsst verstehen“, erklärte Shin weiter, „dass die Vastus Antishal eine Untergrund-Organisation ist, die sich manchmal nicht an die Gesetze des Landes hält.“
Es klang für Eimi fast so, als wären die Vastus Antishal eine Gruppe von Kriminellen.
„Es gibt einige Gesetze, die es Einwanderern zum Beispiel schwer machen, hier ein Leben zu führen, obwohl die Grenzen nach außen hin offen sind. Die Gesetze sind noch nicht ausgereift und teilweise betreten das Land Leute, die nichts anderes zu tun haben, als Kriminelles oder Schlimmeres. Die Politik fühlt sich eingeschüchtert, weswegen einige Maßnahmen in Kraft getreten sind, die mehr Schaden anrichten, als humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Ruterion ist keineswegs sicher.“
„Aber dafür wurde doch die Schutztruppe eingeführt?“, hakte Eimi nach, der sich noch keinen Reim darauf machen konnte, weswegen die Vastus Antishal und die Schutztruppe nicht zusammen arbeiteten. Takeru machte einen verzweifelten Gesichtsausdruck. Ihn interessierte das politische Gefüge recht wenig, lieber wollte er herausfinden, was diese Organisation mit seinem Vater zu tun hatte.
„Die Schutztruppe ist an Vorschriften gebunden, die einige Ermittlungen und Aktionen stark einschränken. Den Vastus Antishal war das schon immer recht egal. Denkt mal darüber nach, wie es denn Gesetzte geben kann, die verhindern, dass jemandem geholfen wird.“
Shin schien von den Taten der Vastus Antishal überzeugt zu sein. Eimi war sich nicht sicher, ob alles an dieser Organisation wirklich gut war. Erst hatte er die Schutztruppe kennengelernt und Sayokos System und war der starken Überzeugung, dass dies eine perfekte Lösung war. Aber das, was Shin gerade von sich gab, verunsicherte ihn stark. Zwar konnte er sich noch nicht ausmalen, was all diese Worte ganzheitlich bedeuteten, jedoch hatte er ein Bauchgefühl, das ihm verriet, dass einige Sachen auf diesem Kontinent noch nicht ganz ausgereift waren.
Schon bald waren sie wieder im großen Konferenzraum angelangt, den Takeru vorher schon gesehen hatte. Lliam und Arec saßen an einem der Tische und unterhielten sich. Dabei bemerkte Takeru, dass Lliam versuchte, seinen Freund aufzubauen, während Arec sehr niedergeschlagen wirkte.
Bevor die kleine Gruppe aber auf die Leiter der Vastus Antishal eingehen konnten, führte Shin die Jungs direkt an die Reihe der Tische mit den komischen Apparaten, die an der rechten Wand standen.
„Das hier – ich komme auf das Thema von gerade gerne später noch einmal zurück – ist mein ganzer Stolz!“, präsentierte Shin und stellte sich mit einem Grinsen vor die Apparate, bei denen mehrere Metallteile mit Drähten verbunden waren. Ein Mitglied der Vastus Antishal saß an einem der Apparate und schaute gelangweilt drein.
„Ich bin mittlerweile der Abteilungschef der Kommunikation. Wenn einer weiß, was auf der Welt passiert, dann bin ich das. Die verschiedenen Geräte sind mit mehreren Standorten auf der Welt verknüpft und ermöglichen uns eine rasant schnelle Kommunikation mit allen unseren Mitgliedern. Diese eins-zu-eins Verbindungen erschaffen ein Netzwerk, welches nur von uns verwendet werden kann. Dabei bedienen wir uns einer eigens entwickelten Sprache.“
Eimi und Takeru beobachteten verdutzt Shin und waren erstaunt von dessen plötzlichen Charakterwandel. Bisher hatte dieser Mann sehr liebenswert und höflich auf die beiden Jungs gewirkt. Seine Ruhe weckte ein angenehmes Gefühl bei den Jungs. Aber nun sahen sie Flammen in Shins Augen, die vor Begeisterung bis in den Himmel loderten. Er sprach viel schneller und man spürte seine Überzeugung.
Plötzlich ging eins der Geräte an. Ein Zeiger klopfte in unregelmäßigen Abständen auf eine weitere kleine Metallplatte und erzeugte dadurch ein klackendes Geräusch. Der Mitarbeiter nahm sich ein Stück Papier und einen Stift und notierte sich etwas in einer merkwürdigen Schrift darauf.
„Jetzt könnt ihr sehen, wie das Gerät funktioniert. Wir vermitteln unsere Nachrichten mit einer Abfolge aus verschieden langen Schlägen und codieren so unsere Nachricht. Diese Methode ist einzigartig und kann von keinem Außenstehenden geknackt werden. Mein Helfer hier ist eingeweiht und kann die Nachricht übersetzen.“
Als Shin das erklärte, legte er stolz eine Hand auf dessen Schulter. Jedoch wich sein stolzes Grinsen schnell zu einem nachdenklichen, ernsten Gesicht.
„Ich kann die Sprache auch während dem Hören übersetzen“, murmelte er und zögerte kurz einen Moment um zu lauschen. „Arec, Lliam!“
Die beiden Leiter der Organisation standen sofort auf und eilten zur Gruppe.
„Shin, was ist?“, erkundige sich Lliam.
„Ein Notfall“, antwortete Shin kurz. „Yofu-Shiti wird gerade von einer riesigen Gruppe Leute angegriffen. Angeführt werden sie wohl von zwei Anführern. Es wird vermutet, dass Vaidyam, nach dem wir schon so lange suchen, eine Offensive gestartet hat. Der andere Anführer wurde nicht erkannt.“
„Aber Alayna und Kioku sind gerade in Yofu-Shiti!“, stellte Takeru erschrocken fest.
„Die Schutztruppe sollte auch vor Ort sein“, wandte Eimi ein.
Die Jungs sahen erschrocken zwischen den drei Männern hin und her. Shin sah sich die Nachricht, die sein Helfer notiert hatte, noch einmal genau an.
„Es sind so viele, sie werden Unterstützung brauchen“, wandte Shin ein. „Yofu-Shiti ist eine Stadt bestehend aus Ärzten. Wenn diese Stadt zerstört wird, wird ein wichtiges Zentrum unseres Landes lahmgelegt.“
„Arec, wir müssen dorthin. Vor allem weil Vaidyam dort wartet. Du weißt genau, dass er eine Verbindung zu Miraa Liade ist.“
„Und über ihn können wir etwas über Rivens Aufenthaltsort herausfinden“, erklärte Arec kurz. Er ging ans Ende des Tisches und nahm ein kleines Mikrofon in die Hand; kurz darauf war ein Klicken aus den Lautsprechern des Raumes zu hören. Anscheinend befand sich in allen Räumen ein Lautsprecher. Mit bestimmter Stimme sprach er: „Alle Einsatztruppen machen sich abreisefertig. Wir brauchen das medizinische Team und die Techniker, bewaffnet euch. Wir haben einen Einsatz.“
Danach signalisierte ein weiteres Klicken, dass die Durchsage nun beendet war.
„Wir müssen super schnell dahin!“, forderte Takeru und wandte sich an Arec. Es kostete ihn Mut, den Mann, dem er aus Versehen so viel Schmerz zugefügt hatte, so mutig entgegenzustehen. Arec jedoch fixierte Takeru mit einem finsteren, konzentrierten Blick.
„Ich mache mich mit den Kindern auf den Weg in meinen Spezialgefährten“, schlug Lliam vor, „Ich werde die Lage checken.“
„Ich komme mit“, sprach Arec bestimmt. „Vaidyam wird mir nicht noch einmal davonkommen. Shin, du kommst mit der Einsatzgruppe nach. Wir müssen verhindern, dass das zu einem Krieg ausartet.“
Shin nickte bestätigend, wandte sich zurück zu seinen Apparaten, um einige Nachrichten zu schreiben. Lliam pfiff jemanden am Ende des Raumes an, der den Raum schnell verließ.
„Wir müssen los“, forderte Lliam und führte die Jungs in eine Art Garage.
Takeru ging das ganze viel zu schnell. Gerade noch war er aufgewacht und wollte verstehen, was hier so passierte. Er wollte mehr über die Beziehungen zu seinem Vater herausfinden. Doch jetzt waren sie wieder auf dem Sprung und alles ging so flott. Eimi machte einen besorgten Eindruck auf ihn. Klar, machte er sich selber auch Sorgen um Alayna und Kioku, jedoch schaffte er nicht, sich richtig darauf zu konzentrieren. Es schien, als würde ihn ein Pflichtgefühl dazu treiben, wobei er sich gerade jetzt um sich selbst kümmern wollte. Die Ereignisse der letzten Tage überschlugen sich in seinem Kopf und hinterließen Chaos und einen fahlen Nachgeschmack.
In der großen Garage angekommen, blieb Takeru noch kurz stehen.
„Wo sind unsere Sachen?“, fragte er besorgt; er hatte Angst, das Tagebuch nicht mehr zu finden. Genau in diesem Moment stürmte der Mann herein, den Lliam gerade noch angepfiffen hatte und überreichte den Jungs ihre Sachen. Panisch wühlte Takeru nach dem Tagebuch und sackte beruhigt zu Boden, als er es fand.
Eimi half ihm wieder hoch und deutete auf die Fahrzeuge. „Wir haben keine Zeit, wir müssen los“, sprach er nervös und holte mit Takeru Lliam wieder ein.
Nun standen die zwei Männer und die Jungs vor einem riesigen Gerät auf drei Rädern, auf dem vier Sitze hinter einer Lenk-Einheit montiert waren. Hinter den Sitzen befand sich ein riesiges Segel.
„Das bringt uns super schnell nach Yofu-Shiti“, erklärte Lliam mit einem Grinsen und nahm nur ein paar wenige Handgriffe vor, um das Gefährt vorzubereiten.
„Das Ding soll uns wirklich dorthin bringen?“, wunderte sich Eimi und sah ganz unsicher aus.
„Cool …“, flüsterte Takeru und war ganz beeindruckt.
„Los geht’s“, jubelte Lliam.


Kapitel 39 – Die Kriegserklärung

Es waren vier Räder aus Holz gewesen, die jeweils zu zweit mit einer kleinen Holzstange als Achse verbunden waren. Die Achsen wurden durch Bohrungen eines Stück größeren Holzes geführt. Das Stück hatte Takeru durch Feilen und Schleifen in Form gebracht. Ein kleines Segeltuch war mit zwei weiteren Stangen oben auf dem kleinen geformten Klotz befestigt worden, sodass ein windbetriebenes Fahrzeug daraus entstanden war. Sein Lehrer hatte dann mit der ganzen Klasse ein Wettrennen veranstaltet, das einer seiner Klassenkameraden für sich gewonnen hatte. Dieses Spielzeug, das er in der Schule hergestellt hatte und später in seinem Zimmer einen festen Platz in seinem Regal gefunden hatte, sah fast genauso aus wie das Fahrzeug, auf dem er sich gerade in Richtung Yofu-Shiti befand. Komisch, dass ihm gerade jetzt diese Erinnerungen in den Sinn kam, da er seit einiger Zeit nicht mehr an die Schule hatte denken müssen. Obwohl er gerade wirklich wichtigere Dinge im Kopf hatte, drängte sich diese Erinnerung ganz stark nach vorne und dabei fühlte er sich beruhigt. Vielleicht kam es dadurch, weil er sich durch den enormen Stress, der in ihm herrschte, wieder auf die wichtigen Dinge konzentrieren konnte. Seine Familie war in Gefahr und dabei dachte er nicht nur an seine Schwester, sondern auch an Kioku, die ihm mittlerweile unglaublich ans Herz gewachsen war. Die Fahrzeuge rasten über schroffes Gelände; die Geschwindigkeit und die Vibration machten es Takeru sehr schwer, sich festzuhalten. Entschlossen blickte er in die Ferne, in der Hoffnung, bald sein Ziel zu erreichen. Dass ihm wegen des kalten Fahrtwinds die Augen tränten, ignorierte er dabei.
Gerade, als sie über einen großen Hügel fuhren und an dessen höchstem Punkt fast in die Luft abhoben und Lliam vor Spaß jubelte, entdeckte Takeru eine riesige Rauchsäule über einer gigantischen Stadt, die er bisher noch nie gesehen hatte. Das musste Yofu-Shiti sein, der Ort, in dem nicht nur seine Schwester und Kioku, sondern auch die Patienten des Labors in Gefahr waren.
„Ich hoffe, wir sind nicht zu spät“, schrie Shin, der auf dem anderen Fahrzeug mit Arec saß. „Wir können noch helfen!“
Eimi legte eine Hand auf Takerus Schulter und dieser wünschte sich im Moment, dass die Situation hoffentlich nicht so schlimm werden würde, wie es den Anschein hatte.

In einer unscheinbaren Ecke eines großen Platzes verschnauften drei Personen, die sich hinter einer riesigen Mülltonne duckten, um sich zu verstecken.
„Ich lass auf keinen Fall zu, dass euch etwas passiert“, erklärte Kai wiederholend und lugte hinter der Mülltonne auf den Platz, um die Situation abzuchecken.
„Wie meintest du das gerade, dass du diese Leute kennst?“, schnaufte Naoru und sah neugierig zu Alayna. Das junge Mädchen wirkte nicht gerade so, als hätte es Angst.
Alayna vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Warum um alles in der Welt musste gerade jetzt so etwas passieren?
„Nicht alle“, nuschelte sie. „Der kleine Mann hat mich einmal gefangen genommen.“
„Warum das?“, wollte Kai wissen. „Warum dich? Was ist passiert?“
„Er war auf der Suche nach etwas, was meinem Vater gehört“, erklärte sie. „Er dachte, ich sei im Besitz von diesem Ding, weswegen er mich festgehalten hat.“
„Oh Gott, das ist ja schrecklich“, stellte Naoru fest. „Wir sollten Papa finden, der kann uns sicher helfen.“
„Papa wird am anderen Ende der Stadt sein“, sagte Kai. „Wir werden es bis dorthin nicht schaffen.“
Alayna stand nun auf und duckte sich so hinter die Mülltonne, dass sie gerade so darüber schauen konnte. In der Mitte des Platzes sah sie diesen Mann im Arztkittel neben dem Kerl stehen, der sie einmal gefangen genommen hatte. Außerdem stand dort eine junge Frau mit hellbraunen Haaren. Sie trug ein rotes und violettes Kleid, welches nur am Oberkörper einen grauen Stoff besaß. Von ihr ging eine merkwürdige Stille aus, da sie sich kaum bewegte und auch nicht sprach.
„Wenn wir leise sind, hören wir vielleicht, was sie sagen“, schlug Alayna vor und konzentrierte sich ganz auf die zwei Männer, die gerade dabei waren, ihre Truppen in die Stadt zu schicken.
„… und sagt ihnen, dass ich gekommen bin, diese Stadt zu übernehmen“, sprach der Mann im Kittel.
„Verschont die Leute, die werden Vaidyams wertvolle Versuchskaninchen“, lachte der kleine Mann mit seiner tiefen Stimme. „Konzentriert euch auf die wertvollen Schätze dieser Stadt. Vaidyam, wir hätten uns schon früher zusammentun sollen.“
Der Mann im Arztkittel hieß wohl Vaidyam. Er antwortete nicht darauf, was der kleine Mann zu ihm sagte und wandte sich stattdessen zu seiner Begleiterin, der er über den Kopf streichelte. Dann flüsterte er ihr etwas zu und Alayna bemerkte, dass sie etwas zusammenzuckte, als er mit ihr sprach.
„Was zur Hölle“, bemerkte Kai und berührte Alayna vorsichtig am Arm. „Siehst du das?“
„Was meinst du?“, wunderte sich Alayna.
„Na, schau doch mal genau hin“, forderte Kai. „Sieh der Frau doch einmal genau ins Gesicht.“
Erschrocken kauerte sich Alayna wieder auf den Boden, ihre Augen weit aufgerissen. Naoru wandte sich ihr zu und wollte unbedingt wissen, was Alayna entdeckt hatte.
„Sie hat ein … drittes … ein drittes Auge auf der Stirn“, stotterte Alayna. Nun stand auch Naoru auf, um das zu entdecken, was Alayna gerade erspäht hatte.
„Das kann nicht echt sein“, stellte Naoru fest und setzte sich erschrocken neben Alayna.
„Doch das ist es“, bestätigte ihr Bruder. „Wie funktioniert so etwas?“
„Jetzt fällt es mir ein! Das muss jemand aus dem Labor sein“, erklärte Alayna und stand wieder auf. „Natürlich arbeiten diese Männer zusammen. Pecos meinte, der Anführer aus dem Labor sei verschwunden. Das kann nur er sein.“
„Was bedeutet das?“, hakte Kai nach. Er hatte von all den Geschehnissen einfach keine Ahnung.
„Nichts Gutes“, antwortete Alayna kühl.

Gerade, als einige Körper bewusstlos zu Boden fielen, rief ein kleines Mädchen nach ihrem Vater.
„Sie ist wach!“, erklärte es und sein Vater sowie Anon stürmten zurück zu der Straßenecke, an der sich das Mädchen, ein Junge und Kioku befanden. Die ganzen Geräusche der Umgebung brummten dumpf in Kiokus Schädel, der vor Schmerzen pochte. Zögernd tastete sie sich nach ihrer Umgebung ab und versuchte sich an den Pflastersteinen des Bodens festzuhalten. So langsam löste sich das taube Gefühl in ihrem Körper und sie spürte den Untergrund unter sich. Bis vor einem kurzen Moment hatte es sich angefühlt, als würde sie schweben. Der Schock, plötzlich wieder zu sich zu kommen, bekam ihr nicht gut. Übelkeit kroch ihren Hals hinauf und ohne auf irgendwen zu achten, schnellte sie nach vorn und kniete sich in den Dreck der Straße, um sich zu erbrechen.
Der Mann beugte sich zu ihr herunter und legte eine Hand beruhigend auf ihre Schulter. „Ist alles in Ordnung mit dir?“
Kioku wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich wieder hin. Sie holte tief Luft und sah sich um. Wo war sie nur? Was machte Anon hier und dieser Mann? Neugierig kamen ihr zwei Kinder näher. Das kleine Mädchen fragte, ob alles mit ihr gut wäre.
„Du hast gerade noch von deiner Mutter gesprochen“, sprach der Mann und war ganz neugierig auf ihre Reaktion. „Von Shio.“
Anon kniete sich zu Kioku herunter und deutete Ama, mit seinen Fragen auf später zu warten.
„Alles gut mit dir?“, hakte Anon nach.
Der bittere Geschmack in ihrem Rachen erzeugte einen weiteren Würgereiz, jedoch versuchte Kioku sich zusammenzureißen.
„Anon, wo bin ich hier?“, sprach sie und beobachtete, wie Anons Gesichtsausdruck plötzlich entspannter wurde.
„Kioku, du bist zurück“, lächelte er. „An was kannst du dich erinnern?“
„Nun ja, wir waren bei Oto und sie hat dort diese Therapie mit Suna gemacht, im Wasserbecken. Ich konnte mich an irgendetwas erinnern, aber … es ist weg. Anon, wo bin ich hier? Wer seid ihr?“
„Du warst wohl nicht ganz bei dir selbst“, erklärte Anon und ließ absichtlich die Details aus. „Das ist Ama, Otos Ehemann und das sind ihre zwei kleinen Kinder, Toru und Shio.“
„Ist wirklich alles in Ordnung mit ihr, Papa?“, hakte Toru neugierig nach und kratzte sich am Ohr.
„Geht es der Frau gut?“, fragte auch Shio neugierig.
„Wir haben nach dir gesucht“, erklärte Ama und half Kioku hoch, die zitterte. „Ein Glück, dass wir dich gefunden haben. Aber wir müssen jetzt los.“
Ama deutete auf das Ende der Straße, um deren Ecke gerade wieder eine Gruppe an bewaffneten Personen kamen. Kioku wurde von Ama gestützt, aber sie fühlte sich immer noch schwach.
„Meinst du, du kannst laufen?“, sorgte sich Anon.
Die Schmerzen verteilten sich nun im ganzen Körper und das Zittern wurde wieder stärker. Zögernd schüttelte Kioku den Kopf. „Ich habe keine Kraft.“
Anon war Ama einen strengen Blick zu, als dieser Kioku nachdenklich betrachtete. „Ich weiß, was du denkst, aber du wirst zu langsam sein mit ihr.“
„Wir müssen sie zur Praxis bringen, sie hat keine Kraft. Und außerdem …“
Anon schüttelte den Kopf. „Lass sie hier. Gehe allein mit deinen Kindern zurück. Ich verstehe das.“
„Aber ich kann euch doch nicht alleine lassen“, entgegnete Ama etwas verärgert. „Komm einfach mit.“
„Ich bleibe mit Kioku hier, bis sie wieder etwas bei Kräften ist. Außerdem kann ich dann nach den anderen Kindern Ausschau halten.“
„Gintas Tochter ist im Westen der Stadt mit meinen Kindern. Wenn du sie findest, bring sie in Sicherheit“, bat Ama und nahm seine Tochter Huckepack.
„Wenn du angekommen bist, gib bitte Ryoma Bescheid, was hier vor sich geht“, bat nun Anon. Er übernahm die Stütze für Kioku und Ama nahm seinen Sohn an die Hand und lief los. Nun war Kioku allein mit Anon.
„Was ist hier los?“, fragte sie erneut nach. Ihre Kopfschmerzen machten es ihr schwer, sich zu konzentrieren.
„Die Stadt wird, aus was für einem Grund auch immer, angegriffen. Wir müssen schnell Alayna finden. Sie wird dir helfen und ich werde mein Bestes geben, die Stadt zu beschützen.“
„Lass mich dir helfen“, bat Kioku und versuchte alleine zu stehen. Dabei schwankte sie etwas und Anon stützte sie erneut.
„Auf keinen Fall, du bist zu schwach“, entgegnete Anon. „Ich helfe dir etwas beim Laufen.“
Unter seinem Trenchcoat kam eines der Bänder hervor, welches er kontrollierte und sich um Kiokus Hüfte wickelte. „Das stützt dich etwas beim Laufen. Jetzt lass uns erst einmal in Richtung Zentrum gehen.“

Vor dem Stadttor im Süden der Stadt befand sich eine riesige Horde an bewaffneten Personen, die versuchten, in die Stadt einzudringen. Jedoch war das Stadttor versperrt und keiner konnte hinein. Eimi beobachtete, während Lliam aus Respekt vor den Jungs langsam bremste und ein Stück vor dieser Menschengruppe anhielt, wie Arec eine Vollbremsung einlegte und der andere Wagen in einer Kurve in die Menschenmenge schlidderte. In dieser Sekunde erblickte Eimi, wie Shin aus einer Arretierung am Wagen ein Zweihänder-Schwert löste, welches zwei Klingen besaß, die parallel nebeneinander am Griff befestigt waren. Daraufhin sprang er vom Wagen und landete inmitten der Leute, die gewaltsam versuchten, in die Stadt einzubrechen. Dieser flüssige Bewegungsablauf und die Technik, die Shin im Kampf anwendete, um sogleich mehrere der Bewaffneten gleichzeitig auszuschalten, beeindruckten Eimi stark. Er spürte und sah, wie mächtig die Mitglieder der Vastus Antishal waren.
Eimi zögerte noch für einen kurzen Moment, bevor er sein Schwert zog und warf einen Blick auf Arec. Der Mann, der ebenfalls schwarze Kleidung trug, wäre sonst inmitten der dunkel gekleideten Masse an bewaffneten Personen nicht weiter aufgefallen, wäre da nicht diese unfassbar starke Aura gewesen, die ihn umgab. Sogleich stürzten mehrere Personen auf Arec zu, der jeden Angriff parieren konnte, dabei ein schwarzes Stilett zog und zwei weitere Leute entwaffnen konnte. Mit gezielten Schlägen in die Magengegend und einem Tritt ins Gesicht fielen wieder zwei Leute bewusstlos zu Boden.
Eine der Personen, die ganz in der Nähe von Eimi stand, wurde plötzlich zu Boden gerissen. Eimi ließ seinen Blick schweifen und er entdeckte Lliam, der mit einer an einer Kette befestigten Eisenkugel die Gegner zu Boden riss. Schnell zog er die Kugel ein, schwang sie drei- oder viermal über seinem Kopf und riss dann wieder jemanden zu Boden.
Takeru zog an seinem Arm und hetzte an ihm vorbei. Eimi erwachte aus seiner Trance der Beobachtung und sah seinen Freund, wie er ihm winkte und damit deutete, sich zu beeilen.
„Los, wir müssen Alayna und Kioku finden!“, rief Takeru so laut er konnte, damit Eimi ihn im Tumult hörte. Jetzt erst reagierte er, zog sein Schwert und rannte Takeru hinterher. Der Dreizehnjährige war erstaunlich flink und er schaffte es, zwischen den Personen hindurch zu huschen, ohne von irgendetwas berührt zu werden. Das Training zeigte seine ersten Erfolge. Für Eimi war es jedoch schwieriger, durch den Kampf zu gelangen. Immer wieder musste er einen Angriff mit seinem Schwert abwehren oder sein Gleichgewicht wiederfinden, weil er über irgendetwas gestolpert war. Während sich Shin, Arec und Lliam damit beschäftigten, sich durch die große Menge an Leuten zu kämpfen, gelangte Eimi mit etwas Verzögerung zum Stadttor, an dessen große, metallene Torflügel Takeru schon längst mit aller Kraft klopfte.
„Lasst uns herein!“, rief Takeru so laut er konnte. „Wir sind hier, um gegen die Bösen zu kämpfen!“
Wieder klopfte Takeru mit aller Gewalt gegen die Flügeltüren, doch es passierte nichts. „Lasst uns verdammt nochmal rein!“
Takeru sah Eimi eindringlich an. Sein Blick war bestimmt und durchdringlich. Eimi erwischte sich, wie er wieder für einen Moment zögerte. Sein Freund erwartete, dass er irgendwie reagierte, aber was sollte er machen?
„Wir sind Freunde von Senatorin Fusai!“, rief er ganz laut und klopfte nun auch wie wild gegen die Tür. Nun klopften beide Jungs wie wild dagegen.
„Lasst uns rein!“, rief Takeru immer wieder. Es bewegte sich einfach nichts.
Dann, auf einmal, fiel Eimi die Stille um sich herum auf und er sah sich um. Inmitten eines Haufens von Leuten, die auf dem Boden lagen, standen die drei Mitglieder der Vastus Antishal. Während sich Arec den Dreck von der Jacke wischte, klatschten sich Shin und Lliam ein High-Five.
„Macht immer wieder Spaß mit dir, Kleiner“, lachte Lliam, wickelte seine Kette auf und hängte sie in eine Schlaufe an seiner Jacke. Shin musste ebenfalls lachen und hob sein großes Schwert.
„Ist immer noch etwas ungewohnt, mit dem Gewicht. Ethal war echt stark“, erklärte er.
„Er hat Tag und Nacht trainiert. Es gab einen Zeitpunkt, da dachte ich fast, er würde sein Schwert heiraten“, entgegnete Lliam grinsend.
„Es passt zu dir, Shin“, kommentierte Arec das Gespräch. „Lasst uns gehen. Den Dreck kann die Schutztruppe hier aufräumen.“
Arec stolzierte zwischen den am Boden liegenden Personen zum Tor und schob Takeru beiseite. Der Junge war sichtlich verwirrt, ließ das aber zu. Dann nahm Arec sein Stilett und klopfte mit dem Griff in einem bestimmten Rhythmus an die Tür.
Tok-toktok-tok-tok-toktok.
Nach einem kurzen Moment ging das Stadttor auf und ein unscheinbarer Mann stand dahinter. Er fing sofort an, Arec die Lage zu erklären. Anscheinend war er ein Unterstützer der Vastus Antishal.
„Das Tor im Norden wird noch eine Weile Stand halten. Die größten Gruppen sind im Osten und im Westen eingedrungen. Sie zerren die Schutztruppe an den Rand der Stadt“, erklärte der Mann. Er winkte die anderen herein und ließ das Tor schnell wieder schließen.
„Das ist Strategie“, sagte Arec kühl und schob dabei seine Brille wieder etwas nach oben. „Ihr Ziel ist ganz klar das Zentrum der Stadt. Die Kämpfe am Stadtrand sind ein Ablenkungsmanöver; sie wollen etwas im Kern der Stadt. Etwas, mit dem sie die Kontrolle erlangen können.“
„Meinst du, sie haben eine Geiselnahme mit dem Bürgermeister geplant?“, hakte Lliam nach, der sich neugierig umsah.
„Da ist noch irgendetwas anderes“, grübelte Arec.
„Eimi“, sprach Takeru leise und Eimi wandte sich ihm zu. „Wir müssen sie finden. Schnell!“
Eimi stimmte ihm zu und sie rannten einfach los und ließen die Vastus Antishal hinter sich. Er hörte noch, wie Lliam ihm hinterherrief, aber er entschied sich, das zu ignorieren. Er stellte fest, dass es Takeru erst gar nicht interessiert hatte, dass Alayna und Kioku alleine unterwegs waren. Nun schien es jedoch so, als gäbe es für Takeru nichts Wichtigeres, als seine Schwester und Kioku zu finden, die in Gefahr waren.
Eimi hatte die ganze Zeit schon darüber nachgedacht, jedoch schien es merkwürdig, dass Takeru seine Meinung nach den etlichen Ereignissen der letzten Tage so schnell geändert hatte, schien aber zufrieden damit zu sein, dass es seinem Freund nicht gleichgültig war, was mit den Mädchen passierte. Als Eimi durch seine Gedanken gerade abgelenkt war, bemerkte er erst etwas später, dass er durch seine fehlende Aufmerksamkeit von Takeru getrennt wurde.

„Wie lang ist es noch bis zur Wache?“, fragte Alayna schnaufend nach. Gerade versteckten sie sich wieder in einer engen Gasse, als eine große Gruppe an plündernden, bewaffneten Leuten an ihnen auf der großen Straße vorbeiliefen. „Wir müssen der Schutztruppe Bescheid geben. Pecos muss erfahren, dass dieser Typ hier ist.“
„In der Geschwindigkeit brauchen wir noch eine Weile. Aber ich glaube, die Wache ist nur ein paar Kreuzungen weiter“, erklärte Kai und lugte vorsichtig hinaus auf die Straße, um zu prüfen, ob die Luft rein war.
„Wie war das, gefangen zu sein?“, fragte Naoru neugierig nach, dabei sah sie Alayna mit großen Augen an.
Alayna wusste gar nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Momentan hatte sie ganz andere Dinge im Kopf, als ihr zu erzählen, was sie durchgemacht hatte. Sie selbst hatte es bisher auch nicht verstanden, wie die Dinge alle miteinander zu tun hatten und warum ausgerechnet dieser Typ und der Kerl aus dem Labor gerade als Team arbeiteten. Sie entschied sich, Naorus Frage zu ignorieren, die das bemerkte und daraufhin schmollte.
„Aber es ist schon einmal beruhigend, dass sie den Menschen nichts antun wollen“, erkannte Kai und winkte die Mädchen zu sich. Die Luft war rein und sie konnten wieder weiterlaufen.
„Bis jetzt“, betonte Alayna und sah sich besorgt um. „Der Typ aus dem Labor hat Menschen gesammelt, um mit ihnen abartige Experimente zu machen.“
„Meinst, du, die Frau mit dem dritten Auge ist auch ein Experiment von ihm?“, vermutete Kai.
„Ich nehme es sehr stark an.“
„Wie kann man so etwas nur anderen Menschen antun?“, wunderte sich Kai und ging weiter die Gasse entlang.
Alayna wusste keine Antwort darauf. Sie wusste nicht, warum man überhaupt irgendjemandem etwas antun sollte. Dann – es war der unpassendste Moment, davon war sie überzeugt – erinnerte sie sich an etwas aus der Schule. Sie sah sich und ihre Freundinnen, und ein Mädchen aus ihrer Clique ärgerte eine kleinere Mitschülerin. Es war ihr nicht mehr klar, wie der Streit angefangen hatte, es war sicherlich etwas unglaublich Triviales, dennoch artete die Situation vollkommen aus und die Klamotten des Mädchens wurden komplett mit dem Mittagessen des damaligen Tages beschmutzt worden. Alayna wusste nur noch, dass das Mädchen tränenüberströmt nach Hause geeilt war und dass sie selbst nur dagestanden, alles zugelassen und gekichert hatte, damit sie nicht zum nächsten Opfer wurde.
Sie schämte sich gerade dafür in Grund und Boden und ärgerte sich, dass genau in diesem Moment ihr so etwas einfiel. Dabei mussten sie doch so schnell wie es ging die Wache der Schutztruppe erreichen, damit Pecos von all dem erfuhr und kommen konnte, um sie zu retten.
„Da vorne ist es gleich“, sagte Kai und unterbrach für einen kurzen Augenblick ihre Gedanken. Die Wache der Schutztruppe war ein einfaches Haus, dessen Eingangstür mit dem Wappen der Schutztruppe verziert war.
Schon wieder befand sie sich in einer Situation, in der sie von der Hilfe anderer abhängig war. Vielleicht hatte Eimi doch Recht und es war wichtig, dass sie sich alle selbst verteidigen konnten? Jumons Trainingsvorschläge waren schon eine große Hilfe, aber reichte das auch wirklich aus? Vielleicht musste auch sie sich jetzt endlich einmal ihrer Verantwortung stellen und stärker werden.
Sie fühlte sich gerade so erwachsen wie noch nie. Das war ein ganz merkwürdiges Gefühl, das nur ganz plötzlich von einem anderen Gefühl überschattet wurde: Schmerz. Ohne es aktiv zu merken, stürmte sie als erste in die Wache der Schutztruppe, bemerkte aber nicht, dass sie nach dem Öffnen der Tür auf etwas Hartes, Großes prallte und zu Boden fiel. Der plötzliche Schreck weckte sie aus den Tiefen ihrer Gedanken auf. Es stellte sich heraus, dass dieses große, harte Etwas ein Mann war, der nicht gerade freundlich wirkte. Genau in diesem Moment stürzten sich zwei weitere Männer auf Kai und Naoru und drückten sie zu Boden, als sie vor Überraschung und Schmerz aufschrien.
„Haben … da“, sprach der große Mann. Seine gigantischen Muskeln ließen seinen Kopf sehr klein erscheinen. Er trug nur ein ärmelloses Shirt zu einer kurzen Hose, die so eng waren, dass sie fast platzten. Sein Gesichtsausdruck sah angestrengt aus, als würde er Schmerzen haben. „Schutztruppe … nicht mehr.“
„Lasst sie los!“, brüllte Alayna und versuchte diese verstümmelte Sprache zu deuten, als sie sich aufrichtete. Was war das für ein Kerl? Als sie ihm genau ins Gesicht sah, um seine Mimik zu deuten, kam ihr dieses unheimlich bekannt vor, konnte es aber nicht zuordnen. „Lasst sie los, sagte ich!“
„Du … Mädchen“, quetschte der Kerl mit seiner tiefen Stimme aus sich heraus und holte mit seiner Rechten aus. Alayna hörte noch einen dumpfen Schlag und dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Als sie wieder zu sich kam, fühlte es sich so an, als wären nur einige Sekunden vergangen. Ihre Sicht war verschwommen, wurde mit der Zeit aber immer besser. Zunächst konnte sie Naoru und Kai neben sich wahrnehmen, die beide mit einem Seil gefesselt auf dem Boden lagen. Sie spürte die Anwesenheit dieses riesigen, muskulösen Kerls hinter sich. Dann sah sie einige Meter neben ihrer kleinen Gruppe den kleinen Mann, der sie einmal gefangen genommen hatte und Vaidyam. Die junge Frau mit den drei Augen stand neben einem älter wirkenden Mann mit grauen Haaren, der ein Mikrofon in der Hand hielt. Die junge Frau bewegte ihre Lippen, ohne dass daraus auch nur ein Ton entwich. Jedoch hörte man die Stimme des älteren Mannes als Echo durch die ganze Stadt hallen.
»Liebe Bürgerinnen und Bürger der Stadt, hiermit trete ich als euer Bürgermeister zurück und überlasse die Leitung der Stadt Herrn Vaidyam Zlovnmamir.«
Er zeigte dabei auf Vaidyam, der sich grinsend und theatralisch verbeugte. Alayna bemerkte jedoch, dass die einzigen Anwesenden auf dem Platz, auf dem sie sich befanden, die Truppen Vaidyams waren, die in diesem Moment anfingen, zu jubeln.
»Bitte übergeben Sie alle Ihre Wertgegenstände und Besitztümer den Mitarbeitern von Want Sanntach.« Beim Wort ‚Mitarbeitern‘ hielt der Bürgermeister kurz inne; womöglich, weil er sich nicht sicher war, ob er dieses Wort wirklich verwenden sollte. Der Bürgermeister schluckte und wirkte unglaublich nervös und unsicher. »Jede Form von Widerstand wird als Kriegserklärung deklariert. Also appelliere ich an euch und bitte, diesen Leuten gehorsam zu folgen. Denkt bitte auch an all die Patienten in den Krankenhäusern, die versorgt werden müssen.«
Ein störendes Rauschen im Mikrofon signalisierte, dass dem Bürgermeister das Mikrofon aus der Hand genommen wurde.
»Die medizinische Leitung und die Leitung aller medizinischer Einrichtungen geht natürlich auch an mich. Das heißt, dass jede Untersuchung, jede Operation, jedes verabreichte Medikament erst durch mich genehmigt werden muss«, kicherte nun die Stimme Vaidyams in das Mikrofon.
Alayna wurde in diesem Augenblick so einiges klar. Es war so, als reichte es Vaidyam nicht, geheime Labors im Untergrund zu leiten, um Experimente an Menschen durchzuführen. Nun wollte er die berühmteste Stadt Ruterions befehligen, seine menschenverachtenden Experimente auszuführen. Das durfte auf keinen Fall passieren. Es schien, als würde der Bürgermeister genau das gGleiche denken und stürzte sich schnellstmöglich auf Vaidyam. Dabei gelang es ihm, das Mikrofon kurzzeitig wieder zu bekommen.
»Beschützt die Schwachen! Beschütz …«, rief der Bürgermeister in das Mikrofon, bevor er bewusstlos vor Vaidyams Füßen zusammensackte. Der kleine Mann, der damals Alayna festgehalten hatte und sich als Want Sanntach vorgestellt hatte, zerrte am Kragen des Bürgermeisters, um zu überprüfen, ob sein Schlag die richtige Wirkung gehabt und ließ den bewusstlosen Körper wieder auf den Boden fallen. Vaidyam bückte sich, nahm das Mikrofon aus den leblosen Fingern des Bürgermeisters und sprach: »Es scheint mir so, als hätte ich den ersten Freiwilligen für meine erste Operation gefunden.«
„Halt!“, schrie Alayna und stand auf, wurde jedoch vom starken Griff des Muskelprotzes festgehalten.
„Nein, Alayna! Lass das!“, rief Kai, der daraufhin noch fester von einem der Kerle auf den Boden gedrückt wurde.
Want wurde auf Alayna aufmerksam und signalisierte Vaidyam, dass er sich darum kümmern würde. Daraufhin lief Vaidyam mit der Frau mit den drei Augen in Richtung des Rathauses und erklärte dabei ein paar seiner Schlägertruppenanführern, was er vorhatte. Want ging schnurstracks auf Alayna zu.
„Na, wen haben wir denn da?“, grinste der kleine Mann. Jetzt erst erkannte Alayna, dass der Mann zwei verschiedene Augenfarben hatte. Das linke Auge, über dem sich eine große Narbe zog, war milchig und farblos.
„Mädchen … das“, sagte der Muskelprotz und drückte mit seinen riesigen Pranken noch fester zu. Alayna knickte vor Schmerz fast ein, konnte sich jedoch noch auf den Beinen halten.
„Ihr werdet dieser Stadt nichts tun!“, brüllte Alayna mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie konnte es nicht zulassen, dass eine weitere Stadt ins Chaos gestürzt wurde.
„Da haben wir das Mädchen mit dem Buch. Ich möchte das gern immer noch haben“, sprach Want in Ruhe.
„Ich weiß immer noch nicht, von welchem Buch Sie sprechen!“, brüllte Alayna und versuchte, sich aus dem Griff des Muskelmanns zu befreien, jedoch hatte dies keinen Zweck.
„Ach, Kindchen“, sprach Want und kam ihr so nahe, dass er mit seiner Hand über ihr Gesicht streichen konnte. „Wir haben euer ganzes Haus auf den Kopf gestellt und es nicht gefunden. Wir haben es dann natürlich angezündet; du verstehst, dass ich etwas wütend war. Das muss heißen, dass entweder du, dein Bruder oder deine Mutter dieses Buch haben müsst. Ich nehme ganz stark an, dass du es einfach nur sehr gut vor mir versteckst.“
„Ihr Schweine habt mein Zuhause angezündet!?“, brüllte Alayna wieder und versuchte sich nun noch verzweifelter zu befreien. Jetzt konnte sie sich allmählich erklären, wie die Geschehnisse alle zusammenhängten. Das Buch war der Schlüssel und noch nie war sie so glücklich darüber gewesen, dass ihr Bruder momentan nicht bei ihr war. Das Buch war in Sicherheit; das bedeutete, dass sie ein Druckmittel gegenüber diesem Kerl hatte. Jedoch war der Schmerz der Erinnerung, ihr Zuhause zu sehen, wie es in den Flammen in sich zusammenfiel, zu stark, als dass ihr eine Lösung für diese Situation einfiel. Vielleicht war ein Handel möglich? Vielleicht konnte sie etwas Zeit schinden, bis ihr etwas Besseres einfiel. Vielleicht reichte die Zeit, dass irgendjemand kam, um zu helfen. Aber was, wenn ausgerechnet diesmal niemand hier war, der half? Was, wenn genau jetzt der Zeitpunkt war, selber stark zu sein. Alayna blickte besorgt auf Kai und Naoru, die mit schmerzverzerrten Gesichtern auf dem Boden lagen, während zwei Männer sich mit voller Kraft auf die Kinder drückten.
„Deine Freunde?“, hakte Want interessiert nach. Nachdem er ein Zeichen gab, halfen die Männer den beiden hoch. Naoru hing schlapp im Arm einer der Schläger. „Sie können auch Versuchskaninchen werden. Vaidyam macht ein paar schöne Experimente. Siehst du? Kommt er dir bekannt vor? Ich musste natürlich den Schuldigen bestrafen, der sich von dir hat damals austricksen lassen.“
Want zeigte auf den Muskelprotz und nun fiel ihr wieder ein, wer dieser Mann war. Sie hatte ihm mit einer Eisenstange eine übergezogen und ihn auf einen Stuhl gezerrt in der Hoffnung, dass sie sich durch diesen Trick befreien könnte. Jedoch war es nicht dieser Trick gewesen, der ihr geholfen hatte, sondern etwas ganz anderes. Konnte sie diese geheimnisvolle Kraft in ihrem Inneren wieder erwecken?
„Ich möchte das Buch haben“, sprach Want und legte seine Hand auf Naorus Kopf, die plötzlich einen ganz panischen Gesichtsausdruck bekam.
„Lass meine Schwester in Ruhe!“, forderte Kai, der auf die Knie gezwungen wurde.
„Lass sie in Ruhe! Du kriegst das Buch diesmal!“, erwiderte Alayna hastig, „Es ist … Es ist nur nicht hier.“
„Na so was“, sprach Want und drückte mit seiner Hand zu. Naoru schien der Griff zu schmerzen. „Ich wusste doch, dass du es hast.“
„Mein Bruder hat es“, erklärte Alayna und der Griff des Muskelmannes wurde noch fester. Diesmal sackte Alayna ebenfalls auf die Knie vor Schmerz. Ihre Schultern pochten und sie merkte, wie ihr ganz heiß wurde.
„Ja dann, wo ist der werte Herr?“, hakte Want nach und drückte noch fester zu, wodurch Naoru zu weinen anfing.
„Lasst doch meine Schwester aus dem Spiel!“, flehte Kai nun.
„Alayna, hilf mir“, sagte Naoru schwach. „Bitte.“
Was sollte sie nun machen? Sie wusste, dass ihr Bruder nicht in der Stadt war. Es gab keine Möglichkeit, Want das Buch zu geben. Wie konnte sie nur Zeit schinden? Want winkte einem seiner Untergebenen und dieser brachte ihm das Mikrofon. Ein Hissen signalisierte, dass das Mikrofon angeschaltet war.
„Ruf ihn her“, forderte Want kühl und hielt ihr das Mikrofon an den Mund.
„Ich weiß nicht, wo wir hier sind“, gab Alayna ehrlich zu. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie überhaupt auf diesen Platz gekommen war.
„Das ist der Platz vor dem Rathaus“, sprach Want nun lauter und wütender als vorher. Dann hielt er ihr das Mikrofon ganz nah an den Mund. Alayna spürte das kalte Metall auf ihren Lippen und schmeckte etwas Bitteres und Undefiniertes. Wenn sie ihren Bruder jetzt ausrufen würde, würde nichts passieren. Wie viel Geduld hatte dieser Kerl? Würde er fünf Minuten warten oder zehn oder eine Stunde, bis er ihr und Otos Kindern etwas antun würde? Er wusste über Takeru und ihre Mutter Bescheid. Aber sie vermutete, dass er Eimi und Kioku wohl nicht kannte. Konnte sie eine geheime Nachricht verstecken, die nur Kioku verstand? Konnte sie zur Hilfe eilen? Wo auch immer Kioku gerade war, es musste einen Versuch wert sein.
»Tak, wenn du das hörst, befinde ich mich gerade auf dem Platz vor dem Rathaus. Wenn du das hörst, komme auf keinen Fall vorbei! Bleib da, wo du bist und halte dich versteckt! DU darfst nicht kommen!“, hörte sie ihre eigene Stimme durch die ganze Stadt hallen. Bevor sie jedoch die Reaktion der anderen um sie herum sehen konnte, spürte sie einen Faustschlag in ihrem Gesicht.
„Du dummes Gör!“, brüllte Want in einer unvorstellbaren Lautstärke. „Das bedeutet Krieg!“
Der Schmerz pochte unfassbar stark von ihrer Wange in ihren Kopf. Es mochten nur einige Sekunden vergehen, jedoch kam ihr dieser Augenblick unglaublich lange vor. Ihr würde keiner zur Hilfe eilen, diesmal nicht. Diesmal musste sie selbst stark sein und da war eine Stärke, tief in ihr versteckt. Sie brannte im Inneren ihrer Brust und brodelte allmählich an die Oberfläche. Diese helle, warme Energie floss auf einmal durch ihren ganzen Körper. Alayna bemerkte, wie der Muskelprotz sie erschrocken losließ und etwas nach hinten taumelte. Wie in Zeitlupe sah sie ihre Arme nach vorn schnellen und erblickte, wie ihre Fingerspitzen in blauen Flammen loderten. Die Energie drang nach außen und sie wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, ihre Kraft hinaus zu lassen. Sie öffnete ihre Handflächen in Richtung von Want, der mit seiner Faust wieder ausholte und dabei Naoru losließ. Naoru sackte schwach zu Boden. In dem Moment, als die Energie aus ihren Handflächen drang und als Energiewelle auf Want schoss, erschien ein vertraut wirkender Schatten vor ihr, der verteidigend ein Schwert hob, damit sie von Wants Angriff nicht getroffen werden konnte. Als sie erkannte, dass Eimi vor ihr auftauchte, konnte sie die losgelassene Energie nicht mehr kontrollieren und schleuderte ihren Freund, der wie aus dem Nichts erschienen war, auf ihren Gegner. Eine riesige Staubwolke tat sich auf, als auch sie nach hinten geschleudert wurde. Die Kraft, die sie freisetzte, war enorm.

Kioku erblickte ein Schild im Park, das in eine Richtung zeigte und „Rathaus“ sagte. Sie mussten bald im Zentrum der Stadt angekommen sein. Das starke Zittern ihres Körpers machte es ihr unglaublich schwer, sich auf den Beinen zu halten. Jedoch war es ihr stählerner Wille, der ihr half, weiter voranzukommen. Trotzdem stützte sich Kioku für einen kurzen Moment an eine Hauswand ab, deren Haustür sich genau in diesen Augenblick öffnete. Eine weitere Gruppe von plündernden Bewaffneten stürmte hinaus, entdeckte Anon und stürzte sich auf ihn, der jeden Angriff gekonnt parierte. Er drehte und duckte sich, um den Angriffen auszuweichen. Einer schlug mit voller Kraft und einer Eisenstange auf Anon, der eines seiner Bänder benutzte, um den Schlag auf seinen Gegner zurück zu schleudern. Ein hohles und dumpfes Geräusch ertönte, als die Stange den Kerl ausknockte. Im nächsten Augenblick wickelte sich ein anderes Band um den Fuß eines Kerles, der daraufhin zu Boden stürzte. Mehrere Bänder kamen unter seinem Ärmel hervor und wickelten sich zu einem breiten Schwert zusammen, welches Anon nun in der Hand hielt. Mit diesem Schwert aus Stoff schlug er drei weitere Kerle in die Flucht. Die Bewegungen und die Konzentration, die Anon im Kampf zeigte, faszinierten Kioku. Sie bekam das ganze Geschehen zwar nur sehr verschwommen mit, jedoch nahm sie genug wahr. Dann lief er zu Kioku zurück, um sie zu stützen.
„Alles in Ordnung bei dir?“, hakte Anon nach, der, wie es ihr schien, sich wirklich um sie sorgte.
„Mir ist noch etwas schwindelig, aber ich komme zurecht“, log Kioku, die kaum Kraft in ihrem Körper spürte. „Du musste mir beibringen, das Band zu kontrollieren.“
Anon lachte kurz auf. „Es ist nicht dein Ernst, dich darüber jetzt mit mir zu unterhalten.“
Nach einem schwachen Schulterzucken und einem ernst gemeinten Lächeln deutete Kioku, dass sie nun weitergehen konnten. Dafür, dass sie Anon eigentlich kaum kannte, fühlte sich alles im Gespräch und im Umgang mit ihm so unglaublich vertraut an. Es war bei ihm nicht dieses merkwürdige Gefühl der Vertrautheit, das sie sonst bei Dingen hatte, bei denen sie nicht wusste, ob sie in ihrem vergessenen Leben damit schon einmal zu tun gehabt. Bei ihm war es einfach ein neues Gefühl. Kioku genoss es in vollen Zügen. Trotzdem wurden die schönen Gedanken schnell durch Sorgen und Ängste verdrängt. Sie musste schnell zu Alayna kommen, um herauszufinden, ob alles mit ihr in Ordnung war.
„Warum bist du eigentlich hier?“, wollte Kioku wissen, die sich schon etwas wunderte, dass ausgerechnet er in dieser Ausnahmesituation wieder der war, der half. Es schien ihr, als ob Anon sie aus jeder schlimmen Situation retten würde. Dann blitzte der Moment vor ihren Augen auf, in dem sie vom Luftschiff gefallen war. Ihr Magen drehte sich sich wieder um und sie erbrach sich wieder am Straßenrand. Anon streichelte ihren Rücken, damit sie sich etwas beruhigte.
„Hier gibt es einen tollen Antiquitätenmarkt, der mich unheimlich interessiert“, erklärte Anon, um sie etwas vom Schmerz abzulenken.
„Du interessierst dich für Antiquitäten?“, kicherte Kioku. „Alte Stühle und so etwas?“
Anon hielt kurz an und ging theatralisch einen Schritt von Kioku weg, in Sicherheit, dass seine Bänder sie genug stützten.
„Alte Stühle? Das sind nicht nur alte Stühle“, verteidigte er sich schockiert. „Das sind Gegenstände, die Geschichte erzählen. Beweise der Vergangenheit, von vergessenen Geschichten und Geschehnissen. Die Kraft, die von diesen Schätzen ausgeht, ist unfassbar.“
Kioku lachte wieder, versank dann aber in einem Seufzen. Sie musste sich zuerst vorstellen, wie Anon freudestrahlend und hüpfend um einen alten Sessel herumsprang, aus dem die vollgefressenen Motten herauskrochen und davonflogen. Bei jedem Luftsprung wirbelte eine fette Wolke Staub auf. Draufzusetzen traute sich Anon in ihrer Vorstellung nicht, aus Angst, dass das Möbelstück auseinanderbrach. Dann jedoch wurde sie plötzlich etwas melancholisch, als sie so darüber nachdachte.
„Die Vergangenheit zu vergessen, mag für manche Leute schlimmer sein als für andere“, sprach sie sehr leise, bemerkte aber jedoch, dass Anon das sehr wohl hörte.
„Verzeih mir“, entschuldigte sich Anon und wirkte etwas beschämt.
„Ist schon in Ordnung“, meinte Kioku und sah Anons traurigen Blick. Sie wollte gerade nichts weniger, als Anon die Gefühle zu übertragen, die sie gerade empfand. Das machte sie für einen Moment noch trauriger, als sie schon war. „Es ist deine große Leidenschaft, das ist etwas Gutes. Ich wüsste nur gerne, ob ich nicht auch mal eine Leidenschaft für etwas hatte, was nur annähernd so interessant ist wie deine.“
„Das heißt ja nicht, dass du in der Zukunft keine entwickeln kannst“, versuchte Anon sie aufzumuntern und kam ihr wieder näher. Er nahm sie wieder in Stütze und gemeinsam liefen sie weiter. „Aber vielleicht sollten wir uns zunächst darum kümmern, dass es überhaupt eine Zukunft gibt.“
Gerade, als sie aus der nächsten Gasse auf eine große Kreuzung abbogen, entdeckten die beiden eine Gruppe von Menschen auf der Straße. Ein paar der Bewaffneten knieten auf dem Boden, während zwei weitere Personen, in weißen Kitteln gekleidet, gerade etwas mit ihnen machten. Eine Frau mit violetten Haaren notierte Dinge auf einem Klemmbrett, während ein Mann mit schwarzen Haaren und einer Brille jedem eine Spritze verabreichte und dabei schelmisch grinste. Kioku deutete Anon, dass er nicht weitergehen solle.
„Den Mann da kenne ich“, sprach sie ganz leise. „Der war im Labor dabei. Ryoma kämpfte gegen ihn, er ist aber geflohen. Er ist ganz sicher einer der Organisation aus dem Labor.“
„Dann müssen wir sie aufhalten“, sagte Anon. „Bleib hier, in dieser sicheren Entfernung wird dir nichts passieren.“
„Aber …“, versuchte sie zu widersprechen, wurde von Anon aber ignoriert.
Doch gerade in der Sekunde, in der Anon die stützenden Bänder an Kiokus Körper entfernte, damit sie sich auf den Boden setzen konnte, unterbrach die Stille ein markerschütterndes Schreien. Sie blickten auf die Gruppe von Menschen und die knienden Schlägertypen krochen nun am Boden, hielten sich ihre Körper fest und schrien wie am Spieß. Bei näherer Betrachtung entdeckte Kioku, dass die Körper unter deren Klamotten merkwürdig pulsierten. Was passierte hier nur?
Anon rannte los; die Bänder unter seinem Trenchcoat schnellten kampfbereit nach vorn. Kioku wollte aufstehen und helfen, kam aber in diesem Moment nicht auf die Beine. Plötzlich ging alles so schnell; bevor Anon die zwei Personen in den Kitteln treffen konnte, fiel die ganze Aufmerksamkeit schon auf ihn. Die Personen am Boden sprangen in die Luft und machten einen enormen Satz in seine Richtung. Zwei der Leute schafften es, den Angriff der Bänder abzuwehren und hielten sie fest. Zwei weitere rannten mit einer enormen Geschwindigkeit auf Anon zu und verpassten ihm einige Schläge in die Brust- und Magengegend. Drei andere Schläger flitzten um ihn herum. Einer davon bückte sich hinter ihn, während die zwei anderen ihm so gegen die Beine traten, dass er nach hinten taumelte. Er stürzte über die gebückte Person, welche wie eine Schleuder funktionierte und ihn weit in die Luft warf.
Kioku beobachtete die Frau mit den violetten Haaren, die gerade in aller Seelenruhe einige Sachen notierte, während der Kerl mit den Spritzen begeistert dem Kampf folgte. Dann schwenkte ihr Blick wieder auf Anon, der in Windeseile mehrere Bänder unter seinem Trenchcoat hervorbrachte und sie zu einer Art Flügel verformte. Leicht wie eine Feder schwebte er hinab in Richtung Boden, wo die Schlägertypen einen Turm bildeten. Der Kerl, der die Spitze darstellte, sprang mit gewaltiger Kraft ab und flog Anon entgegen, der seine Flügel auflöste und seine Bänder auf seinen Gegner hinabschnellen ließ.
Was danach geschah, nahm Kioku nicht wahr. Hinter ihr erschien ein weiterer Schlägertyp und zerrte sie an ihrer Schulter über den Boden, vorbei am Kampfgeschehen hin zu den zwei Personen im Kittel.
Mit der letzten Kraft, die in ihr übrig war, schrie sie und versuchte sich zu wehren, jedoch war es zwecklos. Der Kerl schleifte sie mit einer Leichtigkeit über den harten, kalten Boden, als würde er eine Feder mit sich herumtragen. Aus ihm kamen merkwürdig klingende Stöhngeräusche heraus, als ob er nicht mehr richtig sprechen könnte. Sie bemerkte seine rhythmisch pulsierende Hand, als würden sich die Muskeln unter seiner Haut gegen irgendetwas wehren. Dann ließ er Kioku auf den Boden hinabfallen. Sie stieß sich dabei den Kopf und die Stelle, an der er sie festgehalten hatte, schmerzte unglaublich. Sie richtete sich vorsichtig auf und entdeckte die zwei Personen im Kittel, die neugierig auf sie hinabblickten.
„Na, wen haben wir denn da?“, stellte der Kerl mit der Brille fest. Soweit wie sie sich erinnern konnte, musste sein Name Racun sein. „Andme, wir haben ein Versuchskaninchen.“
„Das nenne ich ein gutes Geschäft, Schätzchen, wenn man bedenkt, dass du und deine Leute unser Labor vernichtet haben“, stellte Andme neugierig fest und blätterte mit einem angefeuchteten Finger eine Seite auf ihrem Klemmbrett herum. 
„Was denkst du, fünfundsiebzig Prozent sollten ausreichen?“, hakte Racun nach, als er aus einer seiner Arretierungen am Arm eine Spritze mit einer fast durchsichtigen, leicht grünen Flüssigkeit herausholte.
Andme schnippte mit ihrem Finger, was dem einen Schlägertypen dazu veranlasste, Kioku wieder festzuhalten. Racun beugte sich nach vorne; die Spritze war ihr nun bedrohlich nah. Doch bevor Racun ihr eine Spritze verpassen konnte, hörten sie ein lautes Schreien einer bekannten Stimme, die aber nicht Anons zu sein schien. Bevor sie entdecken konnte, um wen es sich handelte, stieß ein starker Windstoß die zwei im Kittel und den Schlägertypen zu Boden. Sie selbst wurde auch einige Meter über den Boden geschoben und nahm dabei den neuen Schmerz kaum wahr. Das Schreien kam immer näher und als sie aufblickte, entdeckte sie eine vertraute Person vor ihr. Takeru kam mit ausgestreckten Armen und einem zornigen Blick auf sie zugerannt und ließ sich vor ihr auf seine Knie fallen.
„Kioku, ist alles in Ordnung mit dir!?“, überprüfte er panisch ihren Zustand und umarmte sie, so fest er konnte.
Die Umarmung ließ sie für einen kurzen Moment ihre Schmerzen vergessen, dann richtete sie sich auf und war überglücklich, dass er ihr zur Rettung gekommen war. Einen kurzen Blick warf sie auf Anon, der immer noch mit sieben Kerlen kämpfte.
„Alles gut“, sagte sie und grinste. „Ich bin nur etwas angeschlagen, aber Anon ist hier und hilft mir. Wie bist du nur hier her gekommen?“
„Dafür ist jetzt keine Zeit!“, bemerkte er und zerrte sie beiseite, damit beide einem Angriff von dem Schlägertypen ausweichen konnten. Mittlerweile hatten sich Andme und Racun wieder aufgerichtet. Irgendwie mussten sie sich aus dieser Situation wieder befreien.



Kapitel 40 – Mit voller Kraft

Andme und Racun richteten sich wieder auf. Dabei achtete die Frau mit den violetten Haaren ganz genau darauf, sich den Dreck von dem weißen Kittel zu streichen. Mit einer flotten Handbewegung zog sie das Haargummi ihres Pferdeschwanzes wieder fest, hob das Klemmbrett mit ihren Blättern auf und drückte genau dreimal auf ihren Kugelschreiber, um zu überprüfen, ob mit diesem alles in Ordnung war. Racun hingegen schob einfach nur seine Brille zurecht, klopfte mehrmals auf die Zylinder der Spritzen, die er an seinem Oberarm befestigt hatte und stellte fest, dass keiner dieser zu Bruch gegangen war.
Takeru stützte Kioku beim Aufstehen. Es war ein ganz merkwürdiger Moment, weil der Kampf für einen kurzen Augenblick regelrecht wie in Zeitlupe ablief. Anon und die Kerle, die gerade noch auf ihn einprügelt hatten, hielten für eine Sekunde inne. Racun und Andme taten es ihnen gleich, als eine mit Rauschen begleitete Stimme durch die Lautsprecher der Stadt sprach und Takeru erkannte sofort, um wen es sich dabei handelte. Vor einem Moment noch war der Bürgermeister der Stadt durch die Lautsprecher zu hören gewesen, was Takeru ignoriert hatte, doch bei dieser Stimme musste er genau hinhören.
»Tak, wenn du das hörst, befinde ich mich gerade auf dem Platz vor dem Rathaus. Wenn du das hörst, komme auf keinen Fall vorbei! Bleib da, wo du bist und halte dich versteckt! DU darfst nicht kommen!“, hörte er die Stimme seiner Schwester, bevor durch ein weiteres Rauschen die Stimme wieder verschwand.
„Das ist Alayna!“, stellte er fest und sah Kioku dabei fordernd an. „Sie ist in Gefahr, wir müssen zu ihr!“
Kioku löste sich von der Stütze und taumelte einen Schritt zurück. Dabei sah sie ihren Freund mit einem so ernsthaften Blick an, wie Takeru es noch nie bei ihr gesehen hatte. „Hast du nicht gehört? Sie sagte gerade, dass du nicht kommen sollst! Egal, was mit ihr passiert, sie möchte dich nicht in Gefahr bringen!“
„Aber sie scheint offensichtlich in Gefahr zu sein! Wir müssen ihr helfen. Deswegen sind Eimi und ich wieder hier.“
Takeru beobachtete, wie Kioku einen kurzen Moment zögerte. Im Hintergrund nahm Anon wieder den Kampf mit den Leuten auf.
„Warte einmal“, wunderte sie sich, „Ihr seid beide wieder da? Wo ist Eimi? Woher weiß Alayna, dass du da bist?“
„Ich habe sie noch nicht gesehen, ich war auf der Suche nach euch“, erklärte Takeru, „Dich habe ich zuerst gefunden.“ Besorgt sah er sich um und entdeckte Eimi nicht. „Er war gerade noch hinter mir.“
„Vielleicht hat Eimi Alayna schon gefunden?“, fragte Kioku nach und sah ihn besorgt an.
„Was, wenn nicht? Sie ist in Gefahr, ich weiß es“, sprach Takeru.
Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnten, was wirklich mit Alayna los war, griff Racun wieder an. Mit voller Geschwindigkeit sprintete er auf die beiden zu. Takeru reagierte schnell und schubste Kioku von sich, damit sie dem Angriff ausweichen konnte. Dabei verpasste Racun ihm einen kräftigen Schlag ins Gesicht. Doch bevor er den intensiven Schmerz wahrnehmen konnte, realisierte er, dass Kioku so schnell es ging vom Kampfgeschehen fliehen musste. Er wusste nur noch nicht wie.

Die ganzen Geräusche der Umgebung wirkten plötzlich dumpf und weit entfernt. Ein merkwürdiges Brennen ging von ihrer Brust aus, breitete sich über ihre Arme und die Handflächen aus und verdampfte über ihren Fingern. Gerade noch sah sie hell leuchtende, blaue Flammenzungen über ihre Fingerspitzen tanzen und beim nächsten Lidschlag verschwand das Feuer. Was aber nicht verschwand, war das Kribbeln in ihrem Körper. Alayna hörte, wie Kai seine kleine Schwester ins Präsidiumsgebäude schickte, um Hilfe zu holen und dann sah sie den Schatten des Mädchens an ihr vorbeirennen. Vor ihr lag ein Körper auf dem Boden, der sich langsam aufrichtete. Hinter diesem Körper stand Want und lachte.
„Da ging dein Angriff wohl nach hinten los“, sprach Want überheblich und machte sich in aller Seelenruhe wieder sauber, was den Beiden ein kleines Zeitfenster ermöglichte, miteinander zu sprechen.
„Eimi“, sprach sie und sackte in die Knie. Daraufhin drehte sich Eimi um und beugte sich zu ihr herunter. „Du bist da.“
„Wir sind wieder da“, erklärte er. „Wir haben euch gesucht und deine Durchsage hat mir geholfen, dich schneller zu finden. Hier findet ein Krieg statt. Ich habe Hilfe mitgebracht.“
„Das ist großartig“, grinste Alayna und zitterte leicht. Sie konnte das, was gerade geschehen war, noch nicht verarbeiten. Eimi berührte sie sanft an ihrer Schulter und an der Stelle wurde ihr ganz warm.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er nach und seine Stimme strahlte eine besondere Ruhe aus.
„Ja … nein. Ich weiß nicht. Wie geht es dir? Habe ich dich verletzt?“, hakte Alayna besorgt nach. Eimi schüttelte zwar den Kopf, aber sie vermutete trotzdem, dass er log, um sie zu beruhigen.
Bevor Eimi ihr hochhelfen konnte, packte ein riesiger Schatten Eimi an der Schulter und zerrte ihn beiseite. Want befehligte den riesigen Muskelprotz, den Jungen aus dem Weg zu schaffen. Want kam nun auf Alayna zu, während Eimi versuchte, sich vom Griff des Riesen zu lösen.
„Eimi!“, rief Alayna ihm hinterher, wurde jedoch von Want gepackt und nach oben gezerrt. Ihre zittrigen Beine hatten nur etwas Halt auf dem Boden gefunden.
„Na, hast du dein ganzes Pulver schon verbraucht?“, grinste Want bedrohlich. „Ich möchte das Buch haben, du kleines Miststück.“
„Ich sagte doch, dass mein Bruder es hat!“, verteidigte sich Alayna und spürte eine weitere Welle an Energie in ihr brodeln, während ihre Zehen nach mehr Halt suchten.
„Du hast großes Glück, dass ich dich am Leben lasse. Wird nur ziemlich weh tun“, erklärte er und schlug ihr mit voller Wucht in die Magengegend. Vor Schmerz sackte sie zusammen und Want ließ sie auf den Boden fallen. Der Aufprall tat hingegen zu dem Schlag kaum weh. Mit seinen kräftigen Händen packte er sie an der Schulter und zerrte sie hinter sich her.
„Eimi“, brachte Alayna schwach aus sich heraus, während sie nach Luft japste und konnte nur handlungsunfähig beobachten, wie der Riese Eimi am Oberschenkel packte und in die Lüfte hob. Sie sah Kai aufstehen und losrennen, jedoch stellte der Riese diesem ein Bein, um ihn aufzuhalten. Dann ließ er Eimi auf Kai fallen. Beide schrien vor Schmerz und versuchten sich wieder aufzurichten.
Es schien alles so aussichtslos. Die ersten Tränen flossen, als Alayna sich vom Schmerz abzulenken versuchte und dabei an ihre Eltern dachte. Der Schmerz tat so unglaublich weh, dass sie sich kein klares Bild ihrer Eltern vorstellen konnte. Was wäre passiert, wären sie nur nie losgezogen? Wären sie mit ihrer Mutter geflüchtet? Dann wären sie nun nicht alleine. Was, wenn sie ihren Vater schon viel früher gefunden und aufgehalten hätten? Es gab so viele Möglichkeiten, die hätten gut enden können. Doch Alayna fand sich in den Händen eines Verrückten wieder, der sie über die kalten Pflastersteine einer Stadt zerrte, in der sie noch nie gewesen war. Eimi und Kai wurden gerade verprügelt und sie konnte nichts tun.
Diese ätzende Passivität, dachte sich Alayna und biss auf ihre Unterlippe. Sie musste all ihre Kraft zusammennehmen und sich wehren. Sie konnte es, das wusste sie. Diese Energie, die sie gerade auf Want geschleudert, jedoch Eimi getroffen hatte, das musste sie doch wieder wecken können! Sie erinnerte sich, wie Jumon ihr gesagt hatte, dass sie sich ihrer Angst stellen musste. Was konnte schon Schlimmeres passieren? Sie hatte nichts zu verlieren, also nahm sie all ihren Mut zusammen, ballte ihre Fäuste, ignorierte den Schmerz und sah zu, bevor sie irgendetwas tun konnte, wie Naoru aus dem Polizeipräsidium stürmte und Want mit aller Kraft schreiend umwarf.
Der Mann hatte diesen Angriff nicht kommen sehen, stürzte zu Boden und ließ dabei Alayna los. Naoru war die erste, die wieder aufstand und Alayna hoch half.
„Alles gut bei dir?“, schnaufte Naoru und hielt sich die linke Schulter, als würde sie schmerzen. Doch bevor Alayna auf diesen spontanen Rettungsversuch bewusst reagieren konnte, hatte sie Naoru schon eine Ohrfeige verpasst.
„Wie kannst du dich nur so in Gefahr bringen!“, warf Alayna ihr vor und blickte in das schockierte Gesicht Naorus. Die Freude, Alayna geholfen zu haben, wich in Sekundenschnelle zu einem enttäuschten Gesichtsausdruck. Als Alayna realisierte, was sie gerade getan hatte, hielt sie Naoru fest.
„Es … es tut mir leid! Aber du kannst dich nicht so in Gefahr bringen.“
„Entschuldige“, sagte Naoru schwach. „Ich wollte nur helfen.“
„Oh, das bekommst du doppelt heimgezahlt, Göre“, antwortete Want, der sich ganz langsam aufrichtete und sich dabei etwas Dreck aus dem Gesicht wischte. Wie automatisch stellte sich Alayna vor Naoru, um sie zu beschützen. Ohne etwas zu bemerken, wich die Sorge, die sie in sich trug einer mächtigen Entschlossenheit und das merkwürdige Kribbeln von vorhin kam zurück.

Als sich Takeru aufrichtete, war ihm dabei so schwindelig, dass er etwas Zeit brauchte, um sich wieder zu orientieren. Der Schlag hatte ihn zu Boden geworfen und für einen kurzen Augenblick war ihm schwarz vor Augen geworden. Ohne, dass er es merkte, wuchs einmal wieder eine andere, schwarze Energie in ihm. Seine einzigen Gedanken galten momentan Kioku, die er unbedingt aus diesem Kampf retten wollte und seiner Schwester, die gerade wohl in noch größeren Schwierigkeiten steckte als er. Anon hatte gerade alle Hände voll zu tun, weswegen er nicht helfen konnte. Kioku selbst war zu schwach, um alleine wegzurennen. Irgendwas musste er doch tun.
Doch bevor er eine Lösung fand, kam Racun wieder angerannt und verpasste ihm einen Schlag nach dem anderen. Schützend warf er seine Hände vor das Gesicht und stemmte sich mit den Füßen ab, um diesem Angriff standzuhalten. Er kassierte einen Hieb nach dem anderen und der Schmerz brannte dabei unbeschreiblich auf der Haut. Er brauchte doch nur eine Sekunde, um eine Lösung zu finden.
„Tak!“, rief Kioku um Aufmerksamkeit.
Mit einem Ausfallschritt wich er den Schlägen aus und wollte auf Kioku zurennen, die ein paar Meter von ihm entfernt auf dem Boden lag. Langsam schritt Andme auf sie zu und hielt dabei bedrohlich eine Spritze in ihrer Hand. Jedoch war Racun schneller und warf ihn von hinten zu Boden und setzte sich mit seinem gesamten Gewicht so auf Takeru, dass sich dieser kein bisschen bewegen konnte.
„Geh runter von mir!“, brüllte Takeru mit voller Kraft und versuchte sich zu wehren, ohne jedoch erfolgreich zu sein. Kioku schrie ebenfalls auf, als auch Andme sich auf sie setzte.
„Jetzt wird es soweit sein“, grinste Racun, schob sich noch einmal die Brille zurecht und nahm sich eine der Spritzen, die an seinem Arm befestigt waren. „Mal sehen, was dieses Mittel aus dir macht.“
„Anon!“, rief Kioku, doch dieser konnte sich aus dem Kampf nicht befreien. Gerade, wenn er eine Lücke wahrnahm, um zu den beiden zu eilen, wurde er wieder aufgehalten.
„Kioku!“, rief jetzt Takeru und sah zu ihr herüber. Die Hilflosigkeit, in der er feststeckte, machte ihn unglaublich wütend. War es jetzt an der Zeit, diese merkwürdige Kraft ihn ihm zu kontrollieren? Er musste es einfach versuchen. Also schloss er seine Augen, atmete tief ein und suchte nach dieser Energie, die er schon einmal hatte freilassen können. Er wünschte sich, diese Energie zu finden und sie nutzen zu können, um sich und Kioku zu befreien. Es musste jetzt endlich an der Zeit sein, diese Kraft zu aktivieren.
Er nahm einen weiteren tiefen Atemzug und hörte einen dumpfen Aufschlag. Auf einmal verschwand das Gewicht auf seinem Körper und er nahm wahr, dass etwas neben ihm zu Boden sackte. Da waren zwar ein merkwürdiges Kribbeln und Kitzeln in seinem Körper, der noch von Dunkelheit eingeschlossen war, aber es verwunderte ihn, dass seine Kraft diesmal ohne ein lautes Knallen freigesetzt worden war. Neugierig öffnete er die Augen und stellte fest, dass sich Arec neben ihm zu Boden kniete und den bewusstlosen Racun fesselte. Takeru richtete sich auf und sah, wie Lliam mit der Stahlkugel am Ende einer langen Kette auch Andme eine verpasste und diese von Kioku herunterfiel. Arec ließ den bewusstlosen Racun auf dem Boden liegen und richtete seinen Blick auf Takeru.
„Der wird erstmal kein Problem sein, Kleiner“, stellte Arec fest. „Scheint so, als hättest du mehr Energie, wichtige Gegenstände von anderen zu zerstören, als dich selbst zu beschützen.“
Widerwillig nahm Takeru die Hand, die ihm Arec gerade anbot und ließ sich aufhelfen. Jetzt entdeckte Takeru, dass auch Shin da war.
„Alles gut mit dir?“, fragte Shin neugierig nach und betrachtete Takeru von oben bis unten, um etwaige Verletzungen zu entdecken.
„Danke, passt“, sagte Takeru schwach und sah, wie Lliam Andme fesselte und anschließend Kioku hochhalf. Dann dauerte es keine Sekunde und die drei Männer der Vastus Antishal stürmten zu Anon, um diesem im Kampf zu unterstützen.
Langsam ging Takeru auf Kioku zu und nahm sie in den Arm.
„Es tut mir so leid“, sagte er ganz leise und versuchte, Tränen zu unterdrücken. Erst jetzt realisierte er, dass er diesen Kampf sehr knapp verloren hätte. Kioku erwiderte die Umarmung, indem sie noch fester zudrückte, als er. Takeru wunderte sich, woher sie die ganze Kraft auf einmal hatte.
„Du bist wieder da, das ist so schön“, sagte sie ganz sanft.
Takeru löste sich wieder aus der Umarmung und sah sie entschlossen an. „Wir müssen Alayna finden!“
Doch als er sich gerade zum Gehen wendete, griff Kioku nach seiner Hand und fixierte ihn mit einem unglaublich strengen Blick.
„Nein“, verlangte sie entschlossen. „Du kannst nicht gehen. Das lasse ich nicht zu.“
„Wir müssen sie finden!“, wehrte sich Takeru und versuchte, sich von dem Griff zu befreien. Er konnte es kaum glauben, dass Kioku ihn nun wirklich abhalten wollte, seiner Schwester zu Hilfe zu eilen. Doch bevor er die Frage stellen konnte, warum sie ihn denn nicht gehen ließ, bekam er schon eine Antwort.
„Was willst du denn alleine ausrichten?“, konfrontierte sie ihn. „Ich bin zu schwach, um weiter zu kämpfen und du wurdest gerade fast umgebracht!“
„Aber das wird nicht noch einmal passieren!“, verteidigte er sich und wurde immer zorniger dabei.
„Woher willst du das wissen?! Dort sind noch viel stärkere Gegner, die uns sofort platt machen!“, entgegnete Kioku, die nun auch wütender wurde.
„Du verstehst das nicht! Sie ist die einzige Familie, die ich noch habe!“, schrie Takeru voller Verzweiflung. „Aber wie willst du das denn verstehen, du hast nicht einmal Familie!“ Kioku schluckte und Takeru konnte sehen, wie dicke Tränen ihre Wangen hinabliefen. „Lass mich los!“, forderte er und versuchte sich wegzuzerren, jedoch hielt ihn Kioku noch stärker fest.
„Es wird einen Grund geben, wieso sie gefordert hatte, dich nicht zu sehen!“, brüllte Kioku und verschluckte dabei einige Wörter.
Takeru sah wie traurig und verzweifelt sie war, ignorierte diese Gefühle jedoch. Es war ihm einfach alles zu viel geworden. Dass seine Eltern nicht da waren, war zwar eine Sache, aber die Ereignisse der letzten Zeit waren einfach zu intensiv gewesen. Takeru hatte die einzige Möglichkeit verloren, herauszufinden, wo sein Vater war. Er hatte seine Kräfte nicht unter Kontrolle und nun musste er zulassen, dass seiner Schwester was auch immer passierte. Am schmerzhaftesten war, dass er sich von Kioku in diesem Moment nicht verstanden fühlte.
„Sie will dich nicht als Leiche wiedersehen, versteh das doch endlich!“, versuchte Kioku weiter, ihn umzustimmen.
„Aber ich sie auch nicht!“, brüllte Takeru mit aller Kraft und spürte dieses eigenartige Kribbeln wieder in sich. Nun fing auch er an zu weinen. Das Kribbeln wurde immer stärker und richtig heiß.
„Nein, warte, warte!“, stammelte er. „Nicht jetzt, bitte nicht jetzt!“
Kioku ging verwundert einen Schritt zurück und ließ ihn aufgrund seines merkwürdigen Stimmungswechsels los.
„Bitte, nicht jetzt!“, flehte er und betrachtete panisch seine Handflächen. „Kioku, weg!“
Doch bevor sie darauf reagieren konnte, passierte es. Es fühlte sich so an, als drängten die schwarzen Flammen von tief aus seinem Inneren wieder an die Oberfläche; sie kratzten an seiner Haut und wollten hinaus. Die Energie, die er gerade noch im Kampf gesucht hatte, wurde nun wach und schoss mit einer Wucht aus seinem Körper. Erst sah Takeru selbst, wie schwarze Flammen aus seinen Fingern züngelten und bevor er es aber stoppen konnte, wurde er ohnmächtig und die Kraft wurde unkontrolliert freigelassen.

Als Want sich gerade auf sie stürzen wollte, realisierte sie, dass Naoru doch nur helfen wollte. Sie wollte etwas bewirken, etwas beitragen und jemanden beschützen. Naoru war viel mutiger als sie selbst, dachte sich Alayna, da sie die möglichen Konsequenzen ihres Handelns ignoriert und sich mit voller Wucht auf Want geworfen hatte. Es hätte alles Mögliche mit ihr passieren können, doch sie hatte es trotzdem getan. Sie stand nun vor dem Mädchen, das ihr gerade half. Diese Entschlossenheit entfachte eine starke Energie in ihr und sie spürte, dass sie diese verwenden konnte, um nicht nur sich, sondern auch Naoru, Kai und vor allem Eimi zu beschützen. Endlich durfte es so weit sein, dass auch sie die Starke war.
Want sprang also gerade auf sie zu, seine Hände zu Fäusten geballt und holte aus.
„Duck dich!“, rief Alayna gerade noch zu Naoru und warf danach ihre Hände entschlossen nach vorn. Dass kleine blaue Flammen über ihre Fingerspitzen züngelten, nahm sie in diesem Augenblick nicht wahr. Entschlossen und mit voller Kraft ließ sie die Energie heraus und ein mächtiger Wirbelwind wurde entfesselt. Want, der sich in der Luft befand, wurde einige Meter zurückgeschleudert. Der kreisförmig drehende Wind erfasste auch den Muskeltypen einige Meter hinter Alayna und stieß ihn zu Boden. Blitzschnell drehte sie sich zu Naoru um und half ihr aufzustehen.
„Nimm deinen Bruder und verschwinde von hier. Sag deinen Eltern Bescheid und holt Hilfe. Du hast die Schutztruppe geholt? Finde sie und zeig ihnen den Weg. Du kennst dich in der Stadt aus“, forderte Alayna von der jungen Naoru. „Das ist die beste Art, wie du helfen kannst.“
Naoru schien vom plötzlichen Vertrauen Alaynas und ihrer Bitte sichtlich erstaunt. Ohne eine Sekunde zu verlieren, lief sie los, half ihrem Bruder auf und erklärte ihm, was zu tun war. Alayna rannte zu Eimi und überprüfte erst, wie es ihm ging.
„Alles in Ordnung“, erklärte Eimi und rieb sich die Schulter. „Tut nur etwas weh.“
„Wir holen Hilfe“, bestätigte Kai und rannte mit seiner Schwester los. „Wir kommen wieder!“
„Danke!“, rief Alayna ihnen noch hinterher. Jetzt mussten sie und Eimi sich schnell was überlegen, bevor ihre zwei Gegner wieder auf die Beine kamen.
„Wir müssen jetzt keine Acht mehr auf Kai und Naoru geben“, erklärte Alayna und half auch Eimi aufzustehen.
„Scheint so, als müssten wir nun richtig kämpfen“, stellte Eimi fest und blickte Alayna tief in die Augen. Sie merkte auch in ihm eine mächtige Entschlossenheit.
„Wir schaffen das!“, grinste sie und ballte ihre Fäuste. Es war die Zeit gekommen zu beweisen, dass auch sie stark war. Die Energie, die in ihr loderte und tänzelte, beflügelte und motivierte sie. Eimi bückte sich, um sein Schwert aufzuheben. Doch als er den Griff des Schwertes festhielt, wunderte sie sich darüber, dass er sich damit verteidigen wollte, weil er es kaum nutzen konnte. Ein Grinsen und bestätigendes Nicken zeigte ihr jedoch, dass er es verwenden konnte. Eimi zog es aus der Scheide. Als Alayna das sah, freute sich für ihren Freund. Auch Eimi war erfreut darüber und grinste bis über beide Ohren, als er den Griff ohne Klinge in seiner Hand hielt.
„Ich habe gesehen, wie es funktioniert“, erklärte er kurz und richtete seinen Blick nun auf den Muskelprotz, der wieder auf den Beinen stand. Dieser machte sich bereit und sprintete los.
Alayna konzentrierte sich auch, als Want wieder auf sie zukam, diesmal mit einem verrückten Lächeln auf dem Gesicht. Nun fingen auch ihre Beine an zu kribbeln und sie merkte, dass eine eigenartige Leichtigkeit dafür sorgte, dass sie sich schneller bewegen konnte. Als Want mehrmals zuschlug, konnte Alayna tänzelnd ausweichen.
„Ich lass mir meinen Schatz nicht von so einem Gör wir dir wegnehmen! Es wird mein Buch sein!“, brüllte er wütend.
Sie merkte, dass seine Gefühle ihn unkonzentriert werden ließen.
„Ich werde auch noch deine ganze Heimatstand in Brand setzen, das schwöre ich!“
Alayna wusste, dass sie am längeren Hebel war. Solange ihr Bruder nicht auftauchte und das Tagebuch in der Tasche mit herumtrug, konnte nichts passieren. Er würde es niemals bekommen. Außerdem empfand sie seine Drohungen als leer. Er wollte Angst schaffen, das wusste sie. Aber sie wusste auch, dass, wenn sie sich nicht darauf einließ, diese Angst keine Wirkung hatte. Während sie auch noch seinen viel langsameren Tritten auswich, konnte sie für eine Sekunde Eimi beobachten.
Dieser atmete tief ein und stieß mit seinem Schwert zu. Der Muskelprotz fühlte sich zunächst nicht beeindruckt, wich aber in der letzten Sekunde doch wieder zurück, als er entdeckte, was mit dem Schwert passierte. Ein Knistern signalisierte, dass auch Eimi seine Kraft nun besser kontrollieren konnte. Dann schossen mehrere Blitze aus dem Griff und formten eine hell leuchtende Klinge. Eimi schrie und rannte auf den Muskelprotz zu und verpasst ihn einige Hiebe mit seinem Blitzschwert. Der Muskelprotz griff wieder an, als er eine Lücke in Eimis Angriffen sah und warf ihn mit voller Wucht einige Meter weit weg.
Alayna musste sich wieder auf Want konzentrieren, der nun vor ihr stand und nicht mehr angriff. Er winkte ihr zu und lud sie ein, ihn zu schlagen. Verwundert hielt sie für einen Moment inne und fragte sich, ob dies nicht eine Falle war.
„Jetzt möchte ich wissen, wie stark du bist“, grinste er. „Weißt du, alles in meinem Leben habe ich mit meinen eigenen Händen aufgebaut. Meine Stärke und meine Macht erlangte ich nur durch dreckige, harte Arbeit.“
„Was willst du mit diesem Buch? Es steht nichts darin“, nutzte Alayna die Chance, um herauszufinden, wofür er es brauchte.
„Ich verkaufe es“, lachte Want. „Du weißt gar nicht, wie viel Geld mir mein Käufer dafür geben möchte. Mit dieser Summe werde ich König auf meinem Kontinent.“
„Dir geht es um Geld?“, wunderte sich Alayna. „So etwas Bescheuertes! Dafür greift ihr eine ganze Stadt an? Für Geld?“
„Wer Geld hat, hat Macht. Ist dir das noch nie aufgefallen?“, erklärte Want und winkte ihr wieder zu. „Und wenn ich am meisten Geld habe, werde ich die ganzen Könige und Politiker stürzen und alleine regieren. Jetzt greif schon an, ich will wissen, was du draufhast.“
Alayna zögerte wieder, denn sie war sicher, dass dies eine Falle war.
„Dann muss ich wohl wieder“, stellte Want enttäuscht fest und sprintete los. Im Schlagabtausch verpasste er Alayna einige schwere Hiebe. Jedoch konnte sie der Hälfte der Schläge gut ausweichen. Aber ständig nur auszuweichen, brachte sie nicht dazu zu gewinnen. Also ballte sie die Faust, konzentrierte ihre Energie darin und schlug Want kräftig ins Gesicht. Beim Aufprall wurde dazu noch ein Windstoß erzeugt, der ihren Gegner einige Meter durch die Luft schleuderte. Beim Aufprall auf den Boden rollte dieser sich ab und stand wieder auf den Beinen.
„Ich bin beeindruckt, aber weh tat das noch nicht“, erklärte er überheblich. Der Schlagabtausch ging weiter.
Mittlerweile brachte Eimi es zustande, seinen Gegner in die Knie gehen zu lassen. Er selbst konnte seinen linken Arm nicht mehr bewegen, da dieser aufgrund der Schläge des Muskelprotzes taub geworden war. Eimi nutzte die Chance und schlug mit voller Kraft mit dem Ende des Schwertgriffes auf dessen Kopf, woraufhin dieser schwach zusammensackte und sich nicht mehr bewegte.
„Mal schauen, was wir aus dir noch so herauskitzeln können“, forderte Want und sah Alayna eindringlich an. „Wenn ich dich erst einmal zur Strecke gebracht habe, jage ich deinen Bruder, dann deine Mutter und deinen Vater. Sie alle werden daran glauben müssen, bis ich dieses Buch bekomme.“
„Das kannst du so was von vergessen!“, brüllte Alayna. Sie fühlte sich so stark und so mutig, dass sie vor diesen Drohungen keine Angst hatte.
Want griff wieder an, verpasste ihr einen starken Tritt ins Knie, woraufhin sie kurz auf den Boden sackte. Want jedoch griff nach ihren Armen und erwischte sie an der Hand. Während er lachte, drückte er so fest zu, wie er konnte. Alayna verzog ihr Gesicht vor Schmerz. Es brannte in den Händen. Dann trat er fest in ihre Magengegend warf sie auf den Boden. Die Schmerzen krochen durch ihren ganzen Körper und paralysierten sie fast. Eimi eilte zu Hilfe und versuchte, sein Schwert in seinen Gegner zu rammen, jedoch wich Want so flott aus und verpasst Eimi eine Kopfnuss, dass er nach hinten taumelte und auf seinen Rücken fiel. Die Blitze verschwanden aus dem Schwertgriff.
„Vielleicht ist dieser Kerl ja der Schlüssel“, murmelte Want vor sich hin und Alayna musste zusehen, wie er mit seinem Stiefel auf Eimis Brust trat und Druck ausübte. Eimi griff verteidigend nach dessen Bein, um es von ihm herunterzubewegen, jedoch war Want stärker. Im ersten Moment beruhigte es Alayna, dass Want nicht zu wissen schien, wer Eimi war, jedoch hatte er trotzdem einen wunden Punkt getroffen. Sie wollte Eimi beschützen. Also verdrängte sie ihren Schmerz, stand auf und rannte schreiend auf Want zu. Sie konzentrierte ihre ganze Kraft und als sie sich auf ihn stürzte, setzte sie eine enorme Energiewelle frei, die Want gegen eine Mauer schleuderte. Der Rückstoß warf auch sie zu Boden. Sie hörte einige der Ziegelsteine herausbrechen und zu Boden fallen. Eine Staubwolke tat sich auf. Als sie auf dem Boden lag, entdeckte sie Eimi neben sich liegen, der komischerweise grinsen musste. Er streckte seinen Arm aus und versuchte Alaynas Hand zu erreichen.
Die Schmerzen waren nun unfassbar, trotzdem versuchte auch sie, ihren Arm auszustrecken. Sie konnten gerade so ihre Fingerspitzen aneinanderdrücken.
„Kannst du aufstehen?“, fragte er und hustete dabei.
„Nein“, stellte Alayna selbst fest. „Das war all meine Kraft. Kannst du aufstehen?“
„Auch nicht“, sagte Eimi kurz. „Beeindruckend, wie stark du bist.“
„Das war‘s dann wohl“, sagte sie, als sie die Ziegelsteine hörte, was so klang, als würde Want gerade aufstehen. Sie wollte sich noch bei Eimi bedanken, erschrak aber, als sich jemand schnell über sie beugte.
„Wir haben Hilfe geholt!“, jubelte Naoru.
Kai stand neben Eimi und half ihm hoch. Alayna setzte sich wie Eimi ebenfalls auf.
„Wir haben es geschafft“, sagte Kai und überprüfte, ob Eimi irgendwo verletzt war.
„Was, wen habt ihr geholt?“, wunderte sich Alayna, die unweigerlich grinsen musste. Sie hatte es fast geschafft, einen Kampf selbstständig zu gewinnen.
In diesem Augenblick trat jemand ganz Bekanntes aus der Staubwolke und zerrte dabei Want aus dem Schutthaufen.
„Gut gemacht“, gestand Ryoma. „Er ist bewusstlos.“
„Ryoma!“, begrüßte sie ihn erstaunt und wollte aufstehen. Der Schmerz in ihren Beinen und in ihrem Bauch waren nun so stark, dass ihr einige Tränen hochkamen. Sie hielt sich den Bereich des Bauches fest, der ihr am meisten weh tat.
„Du hast gut gekämpft“, sagte er und warf Want vor die Füße von Niku und Yuu, die plötzlich auch da waren. Beide fesselten den Bewusstlosen, ohne dabei ein Wort zu sagen.
„Onkel Ryoma ist ein Freund von Mama und Papa“, erklärte Naoru breit grinsend.
„Ryoma ist der stärkste Mann, den ich kenne, abgesehen von Papa“, lachte Kai, woraufhin Ryoma seine Augenbrauen verärgert zusammenzog.
Alayna konnte in diesem Moment nichts sagen. Sie war überwältigt von den Gefühlen, die gerade in ihr wach wurden. Nicht nur hatte sie Eimi und sich beschützt, sondern auch noch ihren ersten Kampf gewonnen. Sie und ihre eigene Kraft reichten aus, um diesen starken Mann außer Gefecht zu setzen – den Mann, der ihr Zuhause in Brand setzte. Nun fiel ihr es wieder ein und die Bilder ihres brennenden Zuhauses wurden vor ihrem inneren Auge ganz klar. Sie hatte kein Zuhause mehr, zu dem sie zurückkehren konnte.
Und dann war da diese Hand, die ihre Schulter berührt und sie auf eine Reise geschickt hatte. Sie wachte aus ihren Gedanken auf, als nun Ryoma vor ihr stand und seine Hand wie damals auf ihre Schulter setzte. Dann erinnerte sie sich an das letzte Mal, als sie Ryoma getroffen und wie er sie angeschrien hatte. Erschrocken zuckte sie zurück, stellte dann jedoch fest, dass Ryoma ganz ruhig zu bleiben schien.
„Erzählt mir, was passiert ist“, verlangte er und sah abwechselnd sie und die anderen an.

Kurz darauf hatte Alayna Ryoma alles dargelegt, was passiert war. Sie fing damit an, dass sie eigentlich auf der Suche nach Kioku gewesen waren, jedoch dann festgestellt hatten, dass diese Gruppe die Stadt angriff. Sie erzählte ihm nicht, dass Eimi und Takeru sich vorher von der Gruppe getrennt hatten, um ihren eigenen Weg zu gehen.
„Irgendetwas an dieser Frau war merkwürdig, die dieser Labortyp bei sich hatte“, erklärte Alayna. „Der Bürgermeister tat einfach, was er wollte und die Frau stand seelenruhig neben ihm und bewegte sich kaum.“
„Das scheint nicht die Frau zu sein, die er im Labor bei sich hatte“, stellte Niku fest und zündete sich eine Zigarette an. Nach einem tiefen Atemzug stieß er Rauch aus seiner Nase.
„Er muss mitbekommen haben, dass die Schutztruppe mittlerweile einen Haufen Leute aus den umliegenden Städten geschickt hat. Er wird das nicht gewinnen; warum verschanzt er sich im Rathaus?“, meinte Yuu und betrachtete das Rathaus nachdenklich.
„Aber schau dir diesen Typen einmal an“, wandte Ryoma kühl ein und zeigte auf den Muskelprotz, der auf dem Boden lag. „Das ist nicht menschlich. Wir wissen, dass er Experimente durchgezogen hat. Er muss noch irgendetwas in der Hand haben. Vielleicht hat er noch eine Überraschung für uns auf Lager.“
„Er wird die Stadt nicht kontrollieren. Sein Druckmittel ist momentan der Bürgermeister, der sich bei ihm befindet. Diese Geisel wird er gegen uns verwenden.“
„Wir müssen schnell sein und die Geisel befreien“, wandte Yuu ein. „Bevor er wieder verschwindet.“
„Wir sind nur zu dritt“, entgegnete Niku. „Wir wissen nicht, wie viele Schläger er um sich gesammelt hat.“
„Wie wäre es mit einer Ablenkung?“, schlug Alayna vor. „Er hat bisher nur uns gesehen. Was, wenn wir hineingehen? Ihr könntet euch von hinten heranschleichen und ihn überwältigen.“
„Spinnst du? Du hast doch kaum mehr Kraft, gerade zu stehen!“, meldete sich nun auch Kai zu Wort. „Schau doch mal, wie viel du und Eimi habt einstecken müssen! Eine Sekunde da drin und ihr seid tot!“
„Aber das ist es“, grübelte Ryoma und sah Alayna entschlossen an. „Er wird, egal wie viele Schläger er hat, keine Gefahr in euch sehen. Seine Verteidigung wird für einen Moment geschwächt sein. Das ist immer das Problem dieser Leute: ihre unfassbare Überheblichkeit.“
„Sie ist noch ein Kind“, wehrte sich Yuu gegen die Idee.
Auch Niku schien mit diesem Plan nicht zufrieden zu sein.
„Genau das ist der Schlüssel. Yuu, du bleibst in sicherer Entfernung und gibst ihr Rückendeckung. Niku und ich gehen hinein und schalten zunächst die Wachen aus, die er sicherlich dort drin aufgestellt hat.“
„Es wird ihm auffallen“, sagte Eimi, „dass dort keine Wachen mehr sind. Dass wir einfach so hindurchgekommen sind, ohne aufgehalten worden zu sein.“
„Seine Überheblichkeit wird sein größter Fehler sein“, antwortete Ryoma kühl. Er nickte in die Richtung des Rathauses und ging los. Yuu zuckte mit den Schultern und auch Niku verstand, dass es wohl entschieden war. Geschockt sah Kai Alayna an. Naoru suchte auch Blickkontakt mit Alayna.
„Es tut mir leid für die Ohrfeige“, entschuldigte sich Alayna bei dem Mädchen. „Ich habe einfach überreagiert.“
„Ist schon gut“, sagte Naoru und rieb sich die Stelle, als würde sie sich daran erinnern, wie sehr es schmerzte. „Vergeben und vergessen.“
„Alayna, das ist ein gefährlicher Plan“, sagte Kai, wahrscheinlich in der Hoffnung, Alayna noch umstimmen zu können.
„Richtig“, stimmte sie ihm zu und suchte bei Eimi Unterstützung. Dieser nickte bestätigend. „Deswegen müsst ihr gehen. Sucht eure Geschwister und euren Vater. Vielleicht findet ihr auch Kioku und meinen Bruder.“
„Das ist die beste Art, wie wir helfen können, richtig?“, wiederholte Naoru Alaynas Worte.
„Danke“, sagte sie und sah zu, wie Kai und seine Schwester verschwanden.
„Los geht’s“, meinte Eimi und nahm sie an der Hand. Dann rannten sie Ryoma und den anderen hinterher, die schon Türen des Rathauses geöffnet und einige der Wachen ausgeschaltet hatten.

Es geschah alles so schnell. Niku und Ryoma rannten durch die Gänge und setzten mit gezielten Schlägen die Leute Vaidyams außer Gefecht, bevor diese noch Verstärkung rufen konnten. Alayna war erstaunt, wie professionell die beiden kämpften. Das schwächte ihr Selbstvertrauen aber nicht. Sie war immer noch stolz auf den Kampf, den sie hinter sich gebracht hatte.
Im Stockwerk des Bürgermeisterbüros wurden Ryoma und Niku dann ganz still. Selbst die auf den Boden fallenden, bewusstlosen Wachen hörte man kaum. Eimi hielt immer noch Alaynas Hand ganz fest. Sie spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging. Jedoch sah sie auch, wie schwach er sich gerade fühlte. Sie selbst hatte zittrige Beine und wusste nicht genau, worauf sie sich da eingelassen hatte. Jedoch vertraute sie Ryoma – oder mehr noch vertraute sie dem Vertrauen, das er ihr gegenüber hatte.
Nun standen sie vor der Tür des Büros, in dem sie Vaidyam und die Frau mit den drei Augen vermuteten. Eimi zückte sein Schwert ohne Klinge und Alayna ballte entschlossen ihre Fäuste. Ryoma und Niku hielten sich versteckt und dann öffnete sie die Tür.
Das mit dunklem Holz vertäfelte Büro besaß einige Bücherregale und große Zimmerpflanzen. Das Licht der untergehenden Sonne tauchte alles in einen warmen Farbton. An dem großen Schreibtisch aus massivem, dunklem Eichenholz saß Vaidyam, der mit einem Kugelschreiber irgendetwas auf Dokumente kritzelte. Neben ihm stand die Frau mit den drei Augen.
„Mirna, möchtest du unsere Gäste nicht begrüßen?“, war die einzige Reaktion von Vaidyam, die von ihm kam. Mirna, wie die Frau hieß, verbeugte sich kurz zur Begrüßung, aber Vaidyam war kaum beeindruckt. Alayna wollte irgendetwas tun, jedoch hielt Eimi sie davon ab, etwas zu Überstürztes zu machen. Irgendwie hatte sie sich das Ganze anders vorgestellt. Er schien sich gar nicht, wie Ryoma meinte, zu wundern, was geschah. Jetzt erkannte sie, dass alles viel zu leicht gewesen war. Sie hatten viel zu einfach in das Gebäude eindringen und die Wachen viel zu schnell ausschalten können. Irgendetwas war faul.
„Eimi, irgendetwas stimmt nicht“, flüsterte sie, ohne sich zu bewegen.
„Ich pass auf dich auf“, sagte er knapp.
„Ja, da habt ihr recht!“, brüllte Vaidyam auf einmal und schlug dabei seine Hände mit aller Kraft auf den Tisch. „Ihr Gören glaubt doch nicht ernsthaft, dass ihr gegen mich eine Chance hättet!“
Erschrocken zuckte Alayna zusammen. Die Kraft in ihrem Körper war verschwunden und plötzlich fühlte sie sich von der Aura dieses Mannes so eingeschüchtert, dass sie sich keinen Millimeter bewegen konnte. Eimi schien etwas weniger Angst als sie zu haben und trat verteidigend einen Schritt vor sie. Mit beiden Händen hielt er das Schwert ohne Klinge vor sich.
„Was auch immer ihr mit Want gemacht habt, ist mir ziemlich egal. Ich habe nur seine Männer gebraucht, um die Stadt in die Finger zu kriegen.“
„Aber damit ist jetzt Schluss“, sagte Alayna mit zitternder Stimme. Sie hatte erhofft, dass dieser Satz mit mehr Energie aus ihr herauskäme.
„Du wirst dafür büßen, was du den Leuten im Labor angerichtet hast!“, brüllte Eimi wütend.
„Ach, weil du und deine Freunde das sagen, muss ich jetzt Angst haben?“, wunderte sich Vaidyam theatralisch, stand dabei auf und tat so, als würde er vor etwas erschaudern.
„Unsere Freunde?“, fragte sich Alayna und sah Eimi an. Wie konnte er in der Mehrzahl reden, wenn er doch nur Eimi vor sich stehen sah?
„Deine Leute wurden schon längst von der Schutztruppe und von anderen Leuten bezwungen!“, versuchte Eimi ihn zu beeindrucken. „Du wirst keine Chance mehr haben!“
„Ach, und was lässt dich das denken?“, hakte Vaidyam neugierig nach. Dann schnippte er mit den Fingern und fing an zu lachen. „Deine Freunde hier?“
Auf einmal kamen hinter den beiden Ryoma und Niku in den Raum durch die Luft geschwebt, in einer Haltung, die so schien, als wären beide gefesselt. Dann schnippte Vaidyam noch einmal und plötzlich drückte eine heftige Kraft sie und Eimi zu Boden. Sie konnten nicht aufstehen, denn es fühlte sich so an, als würden Tonnen an Gewicht auf ihren Körpern lasten.
„Na, da seid ihr erstaunt, was?“, grinste Vaidyam. „Meine liebe Mirna hier hat euch schon lange aufgespürt gehabt, ohne dass ihr etwas merken konntet. Ihre besonderen Kräfte sind immer wieder erfreulich einzusetzen, nicht wahr?“
Er strich ihr sanft über die Wange, sie jedoch bewegte sich nicht, als hätte sie keine Seele. Alayna bekam kein Wort aus ihrem Mund heraus und es schien, als könnten auch Ryoma, Niku und Eimi nicht sprechen. Was war das nur für eine unfassbare Kraft, die auf sie einwirkte? Hatte die Frau so eine Art Telekinese drauf? Es hatte keinen Zweck, sich gegen die Kraft zu wehren, Alayna konnte sich nicht bewegen.
„Das … war’s …“, presste Ryoma mit aller Kraft heraus und in dem Moment, als sich Vaidyam am sichersten fühlte, er wie ein Irrer lachte, schoss ganz leise etwas durch das Glas des Fensters. Ein Pfeil streifte den linken Arm Mirnas, die daraufhin auf die Knie sackte. Für die Sekunde, in der sie ihren Fokus verlor, löste sich ihre Macht und Ryoma und Niku sprangen auf. Während Niku seine Pistole neben den Schreibtisch richtete, zog Ryoma sein Schwert und griff an. Vaidyam musste unweigerlich ausweichen, woraufhin Niku schoss. Eine Kugel bohrte sich tief in das Fleisch seines Oberschenkels. Blut spritzte durch die Luft, als Vaidyam vor Schmerz aufschrie. Mirna schien sich wieder zu fassen und stand auf. Um sich wohl besser zu konzentrieren, fasste sie mit ihrer rechten Hand an ihren Kopf, woraufhin alles wieder in Zeitlupe abzulaufen schien. Die starke Kraft setzte wieder ein und niemand bewegte sich.
Vaidyam presste mit einer Hand auf seinen Oberschenkel, als er aufstand.
„Gut gespielt“, sagte er und wich einem weiteren von Yuus Pfeilen aus, der genau in diesem Moment durch das Fenster geschossen kam. Dieser hatte mehr Wucht und ließ das ganze Fensterglas in tausend kleine Bruchstücke zerschellen. „Aber ich habe gewonnen.“
Vaidyam schnappte sich panisch den Berg an Unterlagen auf dem Schreibtisch, stopfte sie in eine Ledertasche, die er unter dem Schreibtisch hervorholte und zerrte Mirna mit sich. Sie verschwanden aus dem Büro und sperrten von außen ab. Erst nach einer Weile hörte die Kraft auf zu wirken und alle konnten sich wieder bewegen.
Während Eimi Alayna hoch half, knallte Ryoma wütend seine Fäuste auf den Schreibtisch.
„Er ist weg!“, brüllte er, sodass man es wahrscheinlich noch von draußen hören konnte.
„Wir haben die Stadt befreit“, sagte Niku kühl und zündete sich eine Zigarette an.
„Du weißt, wie lange wir auf der Suche nach ihm waren, Niku!“, warf Ryoma ihm erzürnt vor. „Er ist uns schon wieder entwischt!“
„Wir haben den anderen Kerl“, erwiderte Niku. „Den, den du schon einmal aufgeschlitzt hast. Mich wundert es, dass er überlebt hat. Jetzt beruhige dich. Da ist nichts zu machen.“
„Geht es euch gut?“, fragte Yuu, der durch die Türe hereingestürmt war. Alayna und Eimi nickten bestätigend, Niku nahm einen Zug an seiner Zigarette, zeigte auf Ryoma und schüttelte dabei den Kopf. „Er ist abgehauen, richtig?“
„Ich will, dass alles auf den Kopf gestellt wird! Ich will wissen, was er für Dokumente mitgenommen hat, was Want wollte und wo auch immer sie sonst noch Spuren hinterlassen haben!“, verlangte Ryoma und lief auf und ab.
„Wir sind nicht die Schutztruppe“, entgegnete Niku murmelnd. Auch Yuu zuckte mit den Schultern.
„Dann müssen wir wohl mit ihnen zusammenarbeiten“, gestand sich Ryoma ein. Es schien so, als würde er das lieber vermeiden wollen.
„Die Vastus Antishal sind auch noch hier“, sagte Eimi knapp. Ryoma hob sofort seinen Kopf und wurde aufmerksam.
„Kannst du das noch einmal wiederholen?“, forderte Ryoma und ging auf den jungen Mann zu.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, wunderte sich Eimi und sah, wie Yuu sich die Schläfen rieb. „Die Vastus Antishal haben uns hierhergebracht.“
„Das verändert so einiges“, erkannte Ryoma und blickte Alayna und Eimi streng an. „Es scheint, als müsstet ihr mir so manches erklären.“
„Können wir erst Kioku und Takeru finden?“, bat Alayna, die anfing, sich starke Sorgen um die beiden zu machen. Sie hoffte, dass es den beiden gut ging und sie sich nicht in Gefahr befanden.
„Dann schicke ich euch mit Niku zurück zu Otos Praxis. Auf dem Weg könnt ihr ihm alles erklären“, schlug Ryoma vor.
„Das ist eine gute Idee“, bestätigt Eimi und die drei machten sich sofort auf den Weg.

 


Kapitel 41 – Der geheime Rat

Eine weiße Rauchschwade wurde von einer Brise erst in ihrer Form verdreht, tänzelte dann etwas durch die Luft und verschwand augenblicklich. Als Niku seinen letzten Zug an seiner Zigarette nahm, schnippte er den kleinen, noch glühenden Stummel in einen Gully am Straßenrand. In dem Viertel der Stadt, in dem sich gerade Eimi, Alayna und Niku befanden, wurde es langsam schon ruhiger. Einige Bewohner lehnten sich neugierig aus dem Fenster, um zu sehen, ob sich die Lage schon beruhigt hatte. Einige Bewohner der Stadt triumphierten stolz, als Schutztruppler vorbeiliefen, denn ihnen wurde der Sieg im Kampf zugeschrieben. Ryoma und Yuu waren auf dem Weg gewesen, die Schutztruppe dabei zu unterstützen, die Lage in der Stadt auch an anderen Orten noch weiter zu beruhigen und hatten sich deshalb von der Gruppe getrennt. Ryoma hatte gemeint, dass es jetzt, da der Kopf des Angriffs auf die Stadt – Vaidyam – geflohen war, es nicht mehr lange dauern würde, bis in der Stadt wieder alles in Ordnung war. Nach Berichten eines der Schutztruppler zogen sich bereits einige der Banden wieder zurück; etliche konnten festgenommen werden und wurden in den diversen Polizeipräsidien eingesperrt. Sie alle waren keine großen Nummern und nur auf das schnelle Geld aus. Sie stellten keine Gefahr mehr dar.
Ryoma versprach ebenfalls, nach Takeru und Kioku zu suchen, während er in der Stadt aufräumte. Deswegen brachte nun Niku, um die Sicherheit der beiden zu gewährleisten, die zwei zurück zu Otos Praxis. Falls Kioku zurückkehren sollte, wäre das der beste Ort, meinte er, sie wiederzutreffen. Es schien aber so, dass Niku es nicht gerade erfreut hatte, den Bodyguard für Eimi und Alayna spielen zu müssen. Während des ganzen Weges sprach er kein einziges Wort zu den beiden.
Eimi konnte das jedoch gut ignorieren. Er wusste zwar, dass Niku trotz seiner sehr kühlen Art eine vertrauenswürdige Person war, denn wer zusammen mit Ryoma arbeiten musste, konnte an sich kein schlechter Kerl sein. Seine Gedanken galten gerade jedoch eher seiner weiblichen Begleiterin. Er beobachtete, wie Alayna auf dem Weg zur Praxis trotzdem in jede Gasse neugierig lugte, um nicht vielleicht doch ihren Bruder und Kioku zu entdecken. Er bemerkte, dass sie beim Gehen etwas hinkte, was sie jedoch nicht aufhielt, trotzdem schnell zu gehen. Es wunderte ihn, wie viel Energie in diesem Mädchen steckte. Nach diesem anstrengenden Kampf spürte er erst jetzt, als das Adrenalin nachließ, was ihm wirklich in seinem Körper wehtat. Der Angriff Alaynas hatte seine Spuren hinterlassen und sein ganzer Rücken brannte vor Schmerz. Auch seine Handgelenke, die Schulter und seine Beine taten unglaublich weh. Er wollte so gerne einfach in ein Bett fallen und schlafen; für einen Moment sich abschalten und an nichts mehr denken. Eimi versuchte trotzdem, sich all dies nicht anmerken zu lassen, um Alayna keine unnötigen Sorgen zu bereiten. Immer wieder erwischte er sich, wie er sie ganz genau beobachtete und dabei sein Herz immer etwas schneller schlug. Jedoch nahm er an, dass dies daran lag, dass sein Schmerz so stark in ihm brannte.
Während sie so durch die Gassen der Stadt liefen, bewunderte er Alaynas Fähigkeiten. Die Kraft, die sie freigelassen hatte, war ziemlich stark gewesen. Es schien zwar, dass sie diese noch nicht ganz kontrollieren konnte, aber im Gegensatz zu ihrem Bruder, dessen Energie zwar stärker war, war ihre Kraft nicht von einer blinden Zerstörungswut getrieben. Ob sie wohl auch trainiert hatte während der Trennung? Sie musste ihre Kraft sicher zur selben Zeit entdeckt haben wie ihr Bruder. Es war außerdem noch erfreulich, dass er selber seine Kraft entdeckte und das Schwert verwenden konnte. Ea hatte bestimmt seinen Teil dazu beigetragen, dass er das Schwert nun aus der Scheide ziehen und seine Kraft einsetzen konnte. Oder hätte er das auch ohne Eas Hilfe geschafft? Außerdem war es unglaublich, wie viele Unterstützer ihnen immer wieder zur Seite standen, wenn es brenzlig wurde. Ohne die Hilfe der Vastus Antishal, der Schutztruppe, von Ryoma und dessen Gruppe und von den Freunden von Alaynas Eltern wären sie nie so weit gekommen, wie sie nun eben waren. Eimi verstand in diesem Augenblick, dass das Netzwerk an Personen, die alle miteinander zu tun hatten und sich gegenseitig unterstützten, enorm war.

Nach einer Weile, als die Sonne die Fassaden der Stadt in eine kupferne, strahlende Farbe hüllte, standen Eimi und Alayna vor der Praxis Otos. Niku hatte sich schnell wieder verabschiedet und war verschwunden.
„Das ist es?“, wunderte sich Eimi, als er auf den Eingang des Gebäudes deutete, aus dem fast im Sekundentakt Patienten, Passanten, Krankenschwestern und Helfer aller Art ein- und ausgingen.
„Es war vorher nur nicht so voll“, erklärte Alayna und zuckte mit den Schultern. „Lass uns schnell schauen, ob Kioku und Tak schon drin sind.“
Eimi nickt bestätigend und folgte Alayna nach drinnen. Leider war drinnen noch ein viel größeres Chaos, als draußen. Im Eingangsbereich standen schon provisorische Betten, auf denen einige Patienten lagen und auf eine Behandlung warteten. Einige hielten sich Tücher an Stellen am Körper, die offensichtlich bluteten, andere hingegen kniffen die Augen stark zusammen, als hätten sie in ihrem Körper Schmerzen. Ab und zu hörte man von irgendwo ein Kind schreien; Eimi konnte im ganzen Chaos aber nicht ausmachen, wo das Kind war. Er stellte sich etwas auf die Zehenspitzen, um einen Überblick über den Raum zu erlangen, was aber nicht half.
„Was machen wir jetzt?“, fragte er und sah Alayna verzweifelt an.
„Da müssen wir uns durchkämpfen“, forderte sie entschlossen und fing an, nach Kioku und Takeru zu rufen. Eimi folgte ihr, ohne zu zögern. Er drängte sich vorsichtig an Leuten vorbei, die warteten, weinten, sich sorgten und flehten. Es schien so, als wären in den Angriffen doch einige der Passanten verletzt worden. Ob sich hier auch jemand aufhielt, der sich genauso zur Wehr gesetzt hatte, wie er selber? Auf einer Bank saß ein Schutztruppler, zu erkennen an der Marke, die an seiner Brusttasche hing. Seine Uniform hing nur locker auf seiner linken Seite über der Schulter. Auf der rechten Seite war sein Oberkörper nackt und er versuchte mit einem Stück Stoff eine Wunde zu verschließen, die wohl nicht mehr so stark blutete, denn die getrockneten, verkrusteten Blutspuren auf seinem Arm deuteten darauf hin, dass er schon eine Weile wartete. Immer wieder sah man eine Krankenschwester oder einen Arzt von der einen zur anderen Ecke des Raumes laufen, um jemanden zu helfen.
Plötzlich hielt Eimi inne. Zwischen den ganzen Personen sah er in einer Ecke neben einer großen Pflanze ein Ehepaar stehen, das sich fest aneinanderschmiegte. Die beiden sahen wie seine Eltern aus. Er kniff die Augen zusammen, rieb sie sich und öffnete sie wieder. Für einen Augenblick war er der festen Überzeugung, dass dort wirklich seine Eltern standen. Bei genauerem Betrachten sahen diese zwei Leute ihnen jedoch nur sehr ähnlich. Trotzdem konnte er sich dort nicht wegbewegen. Unweigerlich musste er an sein Zuhause denken und seine Familie, die er zurückgelassen hatte. Ob sie an ihn dachten? Ob sie in Sorge waren? Die ganze Zeit ging es darum, die Familie von Alayna und Takeru wieder zu vereinen und er hatte seine komplett aus den Augen verloren. Er befand sich ständig in so großer Gefahr. Die Situation, die in dieser Stadt bis eben vorgeherrscht hatte, konnte er sich in seiner Heimatstadt niemals vorstellen. War es etwa möglich, dass dort ein ähnlicher Angriff hätte starten können? Was, wenn das schon längst geschehen war?
Er starrte die zwei Leute an und war für einen Moment geistig nicht anwesend. Er reagierte auch nicht darauf, als auf einmal Nal, der medizinische Profi der Schutztruppe aus Pecos‘ Team vor ihm stand und ihm etwas sagte. Eimi nickte nur und ging langsam weiter. Erst, als mehrmals sein Name gerufen wurde, erwachte er langsam aus seiner müden Trance.
„Eimi, du bist es!“, freute sich Suna, der vor ihm stand und ihn zur Begrüßung drückte. Alayna stand neben dem Jungen und grinste.
„Suna, schön dich zu sehen“, sagte Eimi, als er sich langsam wieder bewusst wurde, wo er sich befand.
„Ich bringe euch zu Kioku“, grinste er und nahm Alayna mutig an der Hand. Er zerrte sie mit und Eimi folgte schnell. Im hinteren Bereich befand sich eine Treppe, die zwei Stockwerke nach oben führte. Er lotste sie dann durch einen breiten Gang in ein Zimmer, von dem aus man auf den Platz vor dem Gebäude schauen konnte. Das Zimmer war klein und hatte nur ein Bett darin, in dem sich Kioku befand.
„Kioku!“, jubelte Alayna freudestrahlend. Sie stürzte sich auf ihre Freundin und ignorierte dabei die Schläuche, die mit einer Nadel verbunden waren und die in ihrem Arm steckten. Sie bekam eine Infusion.
Kioku verzog dabei leicht schmerzverzerrt ihr Gesicht, freute sich aber genauso, ihre Freunde wiederzusehen.
„Alayna, wir haben dich gesucht. Eimi, du bist auch da“, begrüßte sie die beiden und winkte Eimi näher. Dann nahm sie seine Hand zur Begrüßung und verweilte für einen Augenblick in der Umarmung. Als sich Alayna von der Umarmung löste, sah sie ihre Freundin besorgt an.
„Wo ist Tak?“, fragte sie vorsichtig nach und sah sich unruhig um, als würde sie ihn irgendwo entdecken können.
Kioku sah bedrückt zur Seite. Ihr Freudestrahlen wich einem besorgten Blick.
„Wir haben uns getrennt, um euch zu suchen. Ich habe ihn irgendwann aus den Augen verloren. Hat er dich gefunden?“, hakte Eimi nach.
„Er ist gerade noch in Behandlung bei Oto“, meldete sich Suna zu Wort, der sich in einen Stuhl neben dem Bett gesetzt hatte. „Er ist in bei den Wasserbecken, bei denen Oto auch mich behandelt hat.“
„Was ist passiert? Ist er verletzt? Kann ich ihn besuchen?“, forderte Alayna zu wissen.
Suna schüttelte den Kopf.
„Es war unkontrollierbar“, sagte Kioku schwach.
Eimi sah sie eindringlich an. Er verstand, was sie meinte. Nur Suna und Alayna schienen nichts von alldem zu verstehen. Eimi entschied sich jedoch, Kioku erst erzählen zu lassen.
„Erzähl es uns“, bat Alayna und nahm Kiokus Hand.
„Es … Es war alles so viel“, sagte sie leise. „Er hat so schlimme Sachen gesagt und dann … Ich wollte nicht, dass das passiert.“
Die ersten Tränen liefen ihre Wangen hinab. Ihre Stimme veränderte sich, als sie weinte. Alayna drückte noch fester ihre Hand und Suna nahm ein Taschentuch aus dem Regal und gab es Kioku.
„Fang am besten von vorne an“, meinte Eimi und setzte sich mit auf das Bett, um Kioku näher zu sein.
Kioku wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht und atmete einmal tief ein, um besser sprechen zu können.
„Ich bin plötzlich aufgewacht und da waren Anon und dieser andere Mann. Ich weiß nicht mehr wie ich dorthin gekommen bin, aber wir befanden uns schon in Gefahr. Ich war schwach und konnte mich kaum bewegen. Anon hat den Mann weggeschickt, mit seinen Kindern.“
„Das war sicher Ama“, warf Suna ein. „Er hat Oto erzählt, was passiert ist. Er ist mit ihren Kindern wieder gegangen. Er ist Otos Ehemann.“
„Plötzlich ist alles viel krasser geworden“, erzählte sie weiter. „Da waren diese Typen aus dem Labor, die irgendwelche Experimente gemacht haben. Ihre Kämpfer, die sie begleiteten, sind super stark geworden und Anon hatte alle Hände voll zu tun, gegen alle zu kämpfen. Ich konnte nicht helfen und nichts beitragen. Anon musste alles alleine machen.“
„Anon war auch hier?“, wunderte sich Alayna.
„Ja, er war plötzlich da. Genauso wie Tak. Er ist plötzlich wie aus dem Nichts erschienen und hat mir geholfen. Wir haben gekämpft, uns gewehrt. Wir hatten keine Chance. Es war so knapp.“ Kioku machte zwischen jedem Satz eine kleine Pause, wahrscheinlich, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. „Da waren noch andere Männer, die plötzlich auftauchten. Einer hatte ein großes Schwert, der andere eine Kette. Tak schien sie zu kennen.“
„Die Vastus Antishal“, erklärte Eimi. „Eine Untergrundgruppe, die uns hier hergebracht hat. Sie kämpft wohl für ein ähnliches Ziel wie Ryoma.“
„Wir haben deine Durchsagen gehört“, sagte Kioku zu Alayna. „Er wollte dir unbedingt zu Hilfe eilen, dich retten. Aber ich wusste, was du eigentlich mit dieser Durchsage bezwecken wolltest. Er hat mir nicht geglaubt und wir haben gestritten.“
Kioku brach wieder in Tränen aus. „Ich weiß, er meinte das nicht so, wir befanden uns in einer schwierigen Lage.“
„Was hat er zu dir gesagt, Kioku?“, wollte Eimi nun unbedingt wissen. Vielleicht konnte er sich dadurch besser erklären, wieso Takeru diese unglaublich starke Kraft in sich nicht kontrollieren konnte.
Kioku schnäuzte sich, bevor sie antwortete. Dann nahm sie noch mal einen tiefen Atemzug. „Er hat mir vorgeworfen, das alles nicht verstehen zu können, weil ich doch keine Familie hätte. Er war so wütend, dass ich ihn dich, Alayna, nicht habe retten lassen. Aber was hätte er denn ausrichten können? Und dann …“
„Und dann brach eine unfassbare Kraft aus ihm heraus, richtig?“, vervollständigte Eimi ihren Satz.
Kioku sah ihn zunächst erstaunt, dann verständnisvoll an. Jetzt hatte wohl auch Kioku miterlebt, was in Takeru steckte.
„Er hat nicht verstanden, dass ihr wie eine Familie für mich seid“, erklärte sie und versuchte zu grinsen.
„Ich versteh das nicht“, sagte Alayna und stand dabei auf. „Was genau ist denn dann passiert?“
„Es war, als würde eine unfassbare, dunkle Energie aus ihm herausschießen. Es ging alles so schnell, dass ich nichts mehr mitbekam. Ich weiß noch, dass eine starke Druckwelle mich von ihm wegschleuderte. Dann bin ich hier im Krankenhaus aufgewacht. Anon hat uns hergebracht. Oto ist seither mit Taks Behandlung beschäftigt“, erklärte Kioku ruhig.
„So etwas ist schon einmal passiert“, warf Eimi ein und die beiden sahen ihn neugierig an. „Als wir mit Ea unterwegs waren. Er hatte sich nicht unter Kontrolle.“
„Was habt ihr erlebt, Eimi?“, hakte Alayna neugierig nach. „Was hat ihn dazu gebracht?“
„Wir haben diesen Ort gefunden, von dem Ea sprach. Dort sollte jemand sein, der helfen könnte, euren Vater zu finden. Mit dem Kompass hat er eine unsichtbare Tür geöffnet, die mitten in der Luft hing. Dann kam ein Mann heraus und kämpfte mit Ea.“
Kioku schmunzelte besorgt und nachdenklich. „Ein Mann kam aus einer Tür in der Luft, die man nicht sehen konnte? Wie bescheuert ist das denn?“
„Deswegen ist Tak so ausgerastet?“, stellte Alayna erstaunt fest und verzog ihre Augenbrauen dabei. „Da würde ich auch ausrasten, wenn ich so etwas sehen würde. Aber muss man dabei gleich seine kompletten Kräfte freisetzen?“
„Nein, nein, ihr dürft das nicht missverstehen!“, entgegnete Eimi und gestikulierte wild mit seinen Händen. „Sie sind dann einfach so verschwunden. Weg waren sie. Das ist das, was Tak so aufgeregt hat. Dieser Mann hätte wirklich die Antwort sein können. Er hätte helfen können. Sie sind weg. Tak hat dabei etwas von dem Geheimquartier der Vastus Antishal zerstört. Deswegen haben wir diese Leute kennengelernt.“
„Nur damit ich die Ereignisse richtig verstehe“, fasste Alayna zusammen. „Ryomas Gruppe, die Schutztruppe, Papas Freunde und wir sind ständig in Auseinandersetzungen mit dieser beschissenen Organisation, die unter anderem das Labor geleitet hat. Jetzt haben sich der Laborkerl und der Typ, der mich damals entführt hatte, verbündet, um einen gemeinsamen Angriff auf ausgerechnet diese Stadt auszuführen, in der wir uns zufällig alle befinden. Tak setzt irgendwelche Kräfte frei, weil er seinen Zorn nicht unter Kontrolle hat; Want, gegen den wir gekämpft haben, verlangt von mir das Tagebuch, das Tak mit sich herumträgt und der Labortyp möchte unbedingt die Stadtbewohner zu seinen persönlichen Versuchskaninchen machen. Dann ist außerdem die einzige Antwort darauf, wo mein Vater sein könnte, mit einem Typ, der aus dem Nichts kam, im Nichts wieder verschwunden. Wir sind verletzt und ausgelaugt und ich kann meinen Bruder nicht sehen. Ich schätze, das ist eine gute Bilanz.“
„Das ist ganz schön wild“, kommentierte Suna, dem der mitschwingende Sarkasmus Alaynas wohl nicht aufgefallen war.
„Wie machen wir weiter?“, fragte Kioku neugierig.
Eimi beeindruckte es, dass Kioku in diesem Moment daran denke wollte, wie die Reise weiterging. Es waren noch so viele Fragen offen, die Zeit brauchten, um beantwortet zu werden. Für ihn machte es jetzt noch keinen Sinn daran zu denken, wie es weiterginge.
„Vielleicht sollten wir uns erst einmal ausruhen“, schlug Eimi vor und beobachtete Kioku, die gedankenversunken aus dem Fenster blickte.
„Ich möchte Tak sehen“, entgegnete Alayna und blickte Suna streng an. „Ist es wirklich nicht möglich?“
„Ich fürchte nicht“, sagte Suna und stand auf. „Aber wenn du möchtest, kann ich gerne einmal fragen gehen.“
„Gern. Dankeschön“, bedankte sich Alayna. Es schien nur Eimi aufzufallen, dass der kleine Suna etwas errötete, als sich Alayna bei ihm bedankte. Hatte er etwa Gefühle für Alayna? Er musste schmunzeln, da die Art und Weise, wie sie mit ihm redete, genauso war, wie wenn sie etwas von Takeru wollte. Vielleicht war das einfach so eine Große-Schwestern-Sache.
Die Freunde verweilten für einen Moment in Ruhe. In ihren eigenen Gedanken eingesunken, saßen sie da und genossen die Stille. Eimi hatte schon seit einer Weile so eine Art von Stille nicht mehr genießen können. Wie machten sie jetzt weiter? Vielleicht war es wirklich das Sinnvollste, sich gerade einfach auszuruhen.
Es dauerte etwas, da kam Suna mit einer Schwester zurück, die Zudecken und Kissen im Arm hatte.
„Die Schwester sagt, dass die Behandlung von Takeru noch etwas dauert“, erklärte er. „Aber ihr könnt solange hier warten. Hier sind Schlafsachen für euch. Leider gibt es kaum Zimmer mehr, deswegen müsst ihr hier schlafen.“
„Ich hoffe, das macht euch nichts aus“, sagte die Schwester lächelnd und verstaute die Sachen im Regal.
„Dankeschön“, bedankte sich Alayna und lächelte Suna an, der daraufhin wieder leicht rot wurde.
„Ich werde nicht bleiben können, deswegen wünsch ich euch eine gute Nacht. Ich hoffe, wir sehen uns morgen“, verabschiedete sich Suna und nachdem sich alle von ihm verabschiedet hatten, verschwand er.
„Was für ein netter Junge, nach alldem, was er durchgemacht hat“, erkannte Kioku.
Eimi stimmte ihr zu.

Es war mitten in der Nacht, als Kioku aufwachte. Sie musste wohl im Gespräch mit Eimi und Alayna eingeschlafen sein. Über was hatten sie sich noch gleich unterhalten? Es musste irgendwas Schönes gewesen sein, denn sie erinnerte sich noch an ein angenehmes Gefühl, bevor sie eingeschlafen war. Sie drehte sich in ihrem Bett und war dabei ganz leise. Neben ihrem Bett lagen Eimi und Alayna in ihre Decken gewickelt auf dem Boden und schliefen sanft. Was für ein schöner Anblick das war, die zwei so nah nebeneinander liegen zu sehen. Kioku wusste, dass die Zwei für einander bestimmt waren. Immer wieder wurde ihre Vermutung davon gestützt, wie sich die beiden ansahen. Sie war selbst noch nie wirklich verliebt gewesen, aber zwischen den beiden herrschte eine besondere Aura.
Sie war selbst noch nie verliebt gewesen? Kioku ließ einen schwachen Seufzer heraus und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dabei bemerkte sie, dass sie keine Infusion mehr im Arm hatte. Schnell schob sie all diese Gedanken wieder beiseite. Es war jetzt einfach nicht der richtige Augenblick, über so etwas nachzudenken. Oder? Sie haderte etwas mit sich, aber kam zum Entschluss, dass sie jetzt keine Zeit dafür hatte, sich für Dates oder ähnliches Zeit zu nehmen.
Sie drehte sich leise zum Fenster und sah durch den Spalt zwischen den Vorhängen, durch den man ein paar Sterne sehen konnte. Es war so unglaublich still. Die Worte von Takeru hallten durch ihre Gedanken. War diese Wut in ihm so stark gewesen, dass diese sie die Worte kontrollierte hatte, die er von sich gegeben hatte? Das musste es sein, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass derselbe Junge, der sie schon so oft aufgebaut und motiviert hatte, plötzlich seine Meinung über sie geändert hatte. Sie empfand starkes Mitleid für das, was er fühlen musste. Sie verstand nun auch, dass ihm eine mögliche Lösung für sein Problem einfach so genommen worden war. Die Situation, in der sie sich alle befanden, war endlos frustrierend. Es schien, als gäbe es einfach keine Möglichkeit, schnell Lösungen für all die Probleme zu finden.
Sie richtete sich auf und streckte ihre Beine aus dem Bett. Wie unfassbar gut das tat. Kioku fühlte sich nicht so, als könnte sie so schnell wieder einschlafen, deswegen entschloss sie sich, aufzustehen und sich etwas die Beine zu vertreten. Die Chance nutzte sie gleich, um nachzusehen, ob Takeru mit seiner Behandlung schon fertig war. Vielleicht hatten die Schwestern ihnen nur nicht Bescheid gegeben, da sie alle schliefen?
Leise schlich sie an Alayna und Eimi vorbei, verließ das Zimmer und schloss ganz leise die Tür hinter sich. Der Gang, auf dem sie sich nun befand, war ruhig. Der Bereich der Schwestern war auf der rechten Seite, jedoch entschied sie sich dazu, auf der linken Seite das Treppenhaus nach unten zu nehmen. Vorsichtig nahm sie eine Stufe nach der anderen. Sie ließ sich Zeit dabei. Zwar fühlte sie sich besser, aber noch nicht perfekt erholt. Der Weg führte sie bis ins Erdgeschoss. Dort war das Behandlungszimmer mit den Wasserbecken, in dem auch Suna behandelt worden war. Im Erdgeschoss angekommen, fand sie einen leeren Eingangsbereich vor. Hatte diese Arztpraxis gar keine Nachtbereitschaft? Am Tresen saß niemand. Vielleicht hatten sie ja einen separaten Bereich für eine Notaufnahme.
Kioku ging in den hinteren Bereich, in dem das Behandlungszimmer war. Ein kleiner, goldener Lichtstrahl fiel aus einem Türschlitz auf den Boden im Gang und leuchtete ihr den Weg. Vor dem Zimmer stehend hob sie ihre Hand, um die Tür zu öffnen, hielt aber für einen Moment inne, als sie vertraute Stimmen hörte. Sie wollte nicht lauschen, konnte sich vor Neugier aber nicht zurückhalten und blieb stumm stehen. Sie kontrollierte, ob sich jemand anderes im Gang befand und kniete sich zu Boden, um etwas durch den Schlitz in der offenen Tür zu sehen. Sie sah Anon entspannt gegen die Wand gelehnt. Neben ihm waren Oto und andere Personen, die sie wegen dem kleinen Spalt nicht mehr sehen konnte. Doch einige der Stimmen konnte sie zuordnen.
„Ich möchte, dass das Buch gefunden wird. Schlimm genug, dass der Junge es nicht dabei hatte. Sobald es gefunden ist, soll Jumon es untersuchen“, forderte Ryoma.
„Nenn ihn nicht ‚der Junge‘. Du weißt, wie er heißt“, reagierte Oto gereizt.
„Takeru eben“, seufzte Ryoma.
„Wie geht es ihm? Ich möchte ihn sehen, Oto“, erkundigte sich eine weibliche Stimme, die Kioku vorher noch nicht gehört hatte.
„Es geht ihm gut. Er schläft. Ich habe den Energiefluss ihn ihm versiegelt. Das sollte ihn eine Weile vor weiteren Energieausbrüchen beschützen“, erklärte Oto.
„Du kannst ihn jedoch nicht sehen, Sora“, verbot Ryoma.
Kioku fragte sich, wer diese Frau war, die Takeru unbedingt sehen wollte. Bevor sie jedoch selbst Vermutungen aufstellen konnte, bekam sie eine Antwort.
„Ich bin seine Mutter, ich möchte ihn sehen!“, verlangte Takerus Mutter.
Die Mutter von Takeru und Alayna war da? Kioku musste sofort aufspringen und sie kennenlernen. Sie musste wissen, dass es ihnen gut ging und was sie alles durchgemacht hatten. Kioku wollte unbedingt mit ihr reden und sie fragen, warum sie nicht schon früher gekommen war. Sie griff nach der Türklinge und war kurz davor aufzustehen, wurde aber von irgendeinem merkwürdigen Gefühl aufgehalten.
„Du weißt ganz genau, dass, sobald du mit ihnen redest, sie deine Seite nicht mehr verlassen. Sie werden dich davon abhalten, Ginta zu finden“, entgegnete Ryoma energisch.
„Sei nicht so ein Arschloch, Ryoma!“, warf Oto wütend ein. Kioku konnte beobachten, wie sie sauer mit ihren Händen gestikulierte. „Versteh die Gefühle einer Mutter! Wenn du deine Kinder so lange nicht gesehen hast, willst du sie einfach nur in den Arm nehmen! Lass sie zu ihren Kindern!“
„Okay, okay, entschuldige“, sagte Ryoma in einer ruhigen Stimme. „Mich um die Suche nach Ginta zu kümmern, die Sicherheit der Kontinente zu gewährleisten, den beschissenen Shal hinterherzujagen und diese ganze Organisation zu leiten, stresst ein wenig. Ab und an kommt es vor, dass ich gereizt bin.“
„Hör zu, Ryoma“, wandte Sora verständnisvoll ein. „Ich weiß, dass du als sein engster Freund die größte Motivation hast, ihn zu finden. Das verstehe ich. Aber wir sind alle hier und unterstützen dich. Ich will einfach nur wissen, ob es zu viel wird für sie. Ich möchte sie wissen lassen, dass alles in Ordnung ist.“
„Wir alle können hier bezeugen, dass die Motivation deiner Kinder unaufhaltsam ist. Deine Kinder kennen Ginta nicht so gut wie du. Sora, du bringst eine neue Perspektive in die Suche, die keiner von uns schaffen könnte. Du hast etwas Wichtigeres zu tun. Ich befürchte, sonst passieren noch schlimmere Dinge als dieser Angriff heute.“
„Ich …“, sagte Sora ganz leise und Kioku sah, wie Oto einen Schritt nach vorne ging, wahrscheinlich, um sie in den Arm zu nehmen.
„Dann können wir doch nun zusammenfassen, auf was für einen Stand wir sind“, meldete sich Anon zu Wort und löste seine gemütliche Haltung von der Wand. Kioku war gespannt, was er eigentlich mit allem zu tun hatte.
„Matra berichtete mir, dass Ginta mit der Lichtgestalt in den Ruinen ihrer Heimat gesichtet worden ist. Bevor sie jedoch reagieren konnte, war er schon verschwunden. Wir vermuten, dass Shiana, falls sie es wirklich ist, mit Ginta all die Stationen unserer Reise von damals abgeht. Als wäre sie auf der Suche nach etwas.“
„Die Parallelen zu unserer Reise von damals sind schon erstaunlich“, stellte Oto fest. Kioku konnte hören, dass sie einige Blätter Papier in der Hand haben musste.
„Gegen diese Theorie spricht jedoch, dass sie Ginta von Zuhause abgeholt hat“, erwiderte Sora. „Er hat sie doch erst auf diesem Kontinent kennengelernt.“
„Wir können also davon ausgehen“, erklärte Ryoma weiter, „dass wir eine Variable in den Geschehnissen noch nicht bestimmen können. Deswegen möchte ich, dass du, Sora, die Halbinsel Batân besuchst und all die Orte abgrast, die mit der Reise von damals zu tun haben.“
„Verstanden“, bestätigte Sora. „Aber was will Shiana dort? Liegt da vielleicht der Schlüssel, wie sie zurück in unsere Welt kommt?“
Jedoch blieb ihre Frage mit einem Schweigen unkommentiert.
„Zur Situation zur Stadt ist momentan zu sagen“, meldete sich Niku, der wortkarge, schwarzhaarige Begleiter Ryomas zu Wort, „dass die Schutztruppe die Ordnung wiederhergestellt hat. Der Angriff konnte ohne große Verluste vereitelt werden. Vaidyam Zlovnmamir ist mit einer Begleiterin geflohen. Die Schutztruppe konnte zwei ihrer Mitarbeiter festnehmen. Morgen wird Pecos sie verhören. Damit sind vier Mitarbeiter aus Vaidyams Team sichergestellt. Wir haben noch keine Anzeichen über sein Motiv, außer dass er wahrscheinlich die ganze Stadt als Versuchskaninchen für seine widerwertigen Menschenexperimente verwenden wollte. Die Schutztruppe hat ihn im Auge.“
„Der Bürgermeister der Stadt wird morgen eine Notfallkonferenz einberufen, um über die weitere Entwicklung der Stadt zu reden. Ama wird anwesend sein“, erklärte Oto. „Wir sind, denke ich, zumindest sicher. Die Schutztruppe hat vorerst einige Leute hier stationiert.“
„Wir hingegen konnten Want Sanntach festnehmen“, erklärte Niku weiter.
Plötzlich stand relativ nah von der Tür jemand auf, den Kioku bisher weder gesehen, noch gehört hatte. Es war ein Mann, der einen langen schwarzen Mantel trug. Er schob seine Brille auf seiner Nase etwas nach oben. Dann sprach er: „Ich verlange, ihn zu verhören.“
„Arec, ich werde zuerst mit ihm reden. Offensichtlich weiß er etwas über das Buch, was wir nicht wissen“, entgegnete Ryoma, und Arec, so wie der Mann hieß, hatte plötzlich einen wütenden Gesichtsausdruck.
„Er weiß etwas über Riven, wenn du verstehst“, sagte Arec mit Nachdruck.
Kioku war verwirrt. Wer war dieser Mann und um wen ging es da? Jedoch schien Ryoma ganz genau zu verstehen, um was es ging. „Dass die Vastus Antishal ihren Anführer verloren haben, ist tragisch, jedoch …“
„Er ist nicht tot“, erwiderte Arec energischer. „Die anderen mögen zwar gesehen haben, wie er im Kampf starb, aber ich weiß, wie es wirklich war.“
„Sein Körper wurde nie gefunden“, sagte jemand, den Kioku im Augenblick nicht zuordnen konnte.
„Dieser Want hat für einen Kerl namens Miraa Liade gearbeitet, das weiß ich. Riven kämpfte gegen Miraa Liade und beide verschwanden. Momentan ist der Status zwar, dass Riven dabei gestorben ist, aber ich weiß, dass es nicht so war. Wir vermuten, dass mit dem Anführer der Shal vor neunzehn Jahren deswegen die Organisation nicht zerbrochen ist, weil insgeheim jemand anderes die Organisation immer noch leitet. Wir nehmen an, dass der Anführer von damals und Want eng zusammengearbeitet haben und Miraa Liade unterstellt waren“, erklärte Arec und Kioku rauchte dabei der Kopf.
„Wenn das wirklich so ist, haben wir mehr als einen heißen Tipp, was die Struktur der Shal angeht“, stellte Ryoma fest. „Ich schlage vor, dass wir daran zusammen arbeiten. Außerdem werde ich Jumon davon berichten. Wenn jemand etwas darüber herausfinden kann, dann er. Ist nun jedem klar, wie wir vorgehen?“
„Anon übernimmt die Suche, nach dem Buch“, fasste Niku noch einmal für alle zusammen. „Sora geht auf die Reise nach Batân, um dort nach Hinweisen über Ginta zu suchen. Ryoma, wir und die Vastus Antishal kümmern uns um das Verhör und die Kommunikation mit den anderen. Sobald sich etwas Neues ergibt, informiert derjenige die anderen über die üblichen Kommunikationswege.“
„Was sage ich den Kindern?“, hakte Oto nach.
Doch bevor Kioku eine Antwort hören konnte, bemerkte sie, dass die meisten anderen Personen in dem Raum aufbrachen. Schnell stand sie auf und schlich sich aus dem Gang, zurück in das Treppenhaus. Sie bekam leider nicht mehr mit, was weiter besprochen wurde. Ihr Herz klopfte stark, aus Angst, erwischt zu werden. Dieses Gefühl war merkwürdig, aber Ryomas Worte hinterließen den Anschein, dass es für Takeru und Alayna besser wäre, dies nicht zu wissen. Takeru! War sie nicht gerade noch auf der Suche nach ihm gewesen, um zu schauen, wie es ihm ging? Leise ging sie die Treppe hinauf und ging durch die Gänge des ersten Stocks, dort vermutete sie Takerus Zimmer. Da Oto in der Besprechung dabei war, musste das bedeuten, dass seine Behandlung abgeschlossen und er nun in einem Zimmer liegen musste. Am Ende eines Ganges entdeckte sie das Zimmer, in dem Takeru schlief. Er hatte genauso eine Infusion bekommen wie sie. Regungslos lag er im Bett und schlief. Sie setzte sich auf einen Stuhl neben sein Bett und hielt seine Hand.
Wollte sie Ryoma zustimmen oder war es wichtiger, den beiden die Wahrheit zu sagen? Wenn das Tagebuch verschwunden war, würde Takeru sicherlich wieder ausrasten. Hatte es Oto wirklich geschafft, seine unheimliche Kraft zu versiegeln? Wie waren sie selbst eine Hilfe bei der Suche nach Takerus Vater, wenn es stimmte, was Ryoma sagte, dass sie ihren Vater kaum kannten? Hatte es überhaupt noch einen Zweck, weiter zu reisen, wenn sie nichts bewirken konnten? Würde sie Takeru und Alayna beschützen, wenn sie das alles für sich behielt oder würde sie einen Keil in die Freundschaft schlagen, wenn sie es verheimlichte? Kiokus Kopf drehte sich wie wild und sie schien keine Antworten auf diese Fragen zu finden, als sie vor Erschöpfung allmählich, an Takerus Bett gelehnt, einschlief.


Kapitel 42 – Verloren

Schäumende Wellen umspülten Kioku, schoben sie hin und her und ein starker Strudel zog sie dann in die Tiefe. Das Licht, das auf die Wasseroberfläche schien, entfernte sich immer weiter von ihr. Der Druck fühlte sich unbeschreiblich stark an und presste ihren Körper zusammen. Merkwürdigerweise hörte sie dort tief unten im Wasser immer noch das starke Rauschen der Wellen, welche an der Oberfläche gegen die Küste schlugen und versuchten, die Landfläche vollends einzunehmen. Ihre Arme und Beine wurden taub, ihre Umgebung wurde immer schwärzer und das Befremdlichste daran war, dass ihr dieses Gefühl komplett vertraut vorkam, als hätte sie das alles schon einmal erlebt. Mit einem letzten Versuch nahm sie all ihre Kraft zusammen, streckte ihre Gliedmaßen aus und zog sie wieder ein, als würde sie schwimmen und gab alles, um sich irgendwie zu bewegen. Doch die Trägheit und Kälte kroch nun letztendlich in den letzten Zentimeter ihres Körpers und lähmte sie komplett. So konnte sie sich nur fallen lassen. Der Druck von ihrer Umgebung wich plötzlich einem anderen Gefühl und sie realisierte, dass sie fiel. Sie fiel und nichts konnte sie aufhalten. Dabei nahm sie immer mehr Geschwindigkeit auf. Das eigenartige Gefühl in der Bauchgegend, welches man nur hatte, wenn man fiel, ersetzte die Kälte in ihrem Körper vollkommen. Als sie die höchste Geschwindigkeit erreichte, zuckte eine starke Energie durch ihren Körper und …

… sie wachte auf und bemerkte, dass sie immer noch halb auf Takerus Bett lag. Ihr Kopf lag noch auf ihren Armen, der Oberkörper über die Kante des Bettes gelehnt. Sie musste wohl geträumt haben. Verschlafen rieb sie sich die Augen und konnte erst gar nicht wahrnehmen, was eigentlich um sie herum geschah.
„Wo ist es … Wo ist es …“, stammelte Takeru, den sie neben dem Bett über seine Sachen gebeugt stehen sah. Er trug dabei ein typisches Krankenhaushemd, welches hinten offen war. Glücklicherweise trug er Unterwäsche darunter, sonst hätte Kioku beschämt beiseite schauen müssen. Jetzt erst erkannte sie, dass Takeru ziemlich panisch alles mehrmals durchwühlte und dabei einen sehr wütenden Eindruck machte. Sie schluckte und hielt kurz inne, da die Erinnerungen an den gestrigen Tag einige negative Gefühle weckten. Der Schlauch der Infusion, der immer noch in seinem Arm hing, hatte sich mehrfach verdreht, wodurch sich die restliche Flüssigkeit im fast leeren Beutel aufgestaut hatte. Der Infusionsbeutel schaukelte hin und her und schlug dabei immer wieder nervös gegen die Stange, an der er hing.
„Tak, was ist los?“, fragte sie ihn und stand auf. Ihr Magen brummte stark, sie hatte länger nichts mehr zu essen gehabt. Jedoch ignorierte sie diesen Hilferuf ihres Körpers und ging zu Takeru.
„Das Tagebuch ist nicht mehr da! Ich kann es nicht finden!“, erklärte er panisch und redete dabei schnell, bevor er sich wieder verzweifelt in seine Sachen stürzte, nun zum dritten Mal. „Ich hatte es dabei, immer dabei! Es kann gar nicht sein, ich habe es so sicher eingepackt.“
„Tak, …“, setzte Kioku an, unterbrach sich aber selbst, als er sich blitzschnell zu ihr drehte und sie ansah. Er hatte wütende Augen, was sie in diesem Moment zwar sehr nachvollziehen konnte, was ihr aber dennoch etwas Angst einjagte. Jedoch war in dieser Wut auch noch etwas anderes, das sie erschreckte. Wenn Oto recht hatte und seine Kräfte erst einmal versiegelt waren, musste sie doch eigentlich keine Sorgen haben, aber die Kraft und Macht, die er mit diesem Blick allein ausstrahlte, paralysierte sie. „Ich helfe dir“, sagte sie zögerlich.
Kioku fing an, das Bett abzudecken, darunter zu schauen und widmete sich dann den Schränken. Auf Zehenspitzen stehend schaute sie in die oberen Fächer des Schrankes, fand jedoch nichts. Takeru, der mittlerweile zum vierten Mal den Haufen durchwühlte, packte nur noch die Sachen und warf sie durch das halbe Zimmer. Kioku sah, wie er still in Tränen ausbrach. Das Shirt, das er dabei in der Hand hatte, hielt er so fest in seiner Faust, dass es starke Falten warf. Er knirschte mit den Zähnen und sank zu Boden. In Sicherheit, dass er nicht wieder mit einer Energiewelle explodierte, setzte sich Kioku daneben und nahm ihn in den Arm. In solchen Situationen war es das Wichtigste, für einander da zu sein, das erkannte sie jetzt. Die Worte, die er zu ihr gestern gesagt hatte, schwirrten zwar immer noch durch ihre Gedanken, aber sie schaffte es, diese zu verdrängen. Immer wieder wiederholte sie, dass er es nicht so gemeint haben musste. Irgendwie waren die vier Freunde mittlerweile zu einer kleinen Familie zusammengewachsen, davon war sie überzeugt.
Als sie ihn in den Arm nahm, wehrte er sich nicht. Seine Haut war kalt und er zitterte. Sie spürte, wie verzweifelt er sein musste und es tat ihr leid. Es tat ihr so schrecklich leid, dass sie ebenfalls weinen musste.
„Ea hat mir versprochen, jemanden zu finden, der uns hilft“, fing er an zu erzählen und schluckte nach jedem dritten Wort ein paar Tränen mit herunter. „Dann verschwand er. Das Tagebuch ist die letzte Chance, Papa zu finden.“
Kioku drückte ihn nun fester an sich heran. Hätte sie nun gesagt, dass sie keine Ahnung hätte, was sie tun sollten, wäre das gelogen gewesen. Sie wusste etwas.
„Was mache ich jetzt, Kioku?“, fragte er und wischte sich etwas Rotze an seinem Krankenhaushemd ab. „Es gibt keine Möglichkeiten mehr, ihn zu finden. Es gibt nichts mehr. Gar nichts, was uns hilft.“
„Verzweifle nicht“, sagte sie ganz ruhig, dabei war sie selbst alles andere als ruhig. In ihren Gedanken rotierten die Sachen, die sie erfahren hatte, hin und her. Was sprach gerade dagegen, ihm einfach alles zu sagen? Den Gefahren, denen sie ständig ausgesetzt waren, entkamen sie immer nur mit viel Glück. Ohne Ryoma und seine Leute, die Freunde von Takerus Eltern und der Schutztruppe hätten sie keinen der Kämpfe gewonnen. Sie waren nicht stark genug. Würden sie sich sofort in den nächsten Kampf stürzen, würden sie bestimmt verlieren. Und dann? Dann hätte sie ihre Freunde in Gefahr gebracht, dann müsste sie die Verantwortung tragen, dass Takeru, Alayna und Eimi etwas passierte. Aber das wollte sie den Menschen, die sie so sehr mochte, nicht antun. Takeru musste verwirrt sein. Konnte er sich überhaupt an seinen Wutausbruch erinnern? Konnte die Wahrheit ihn wirklich beruhigen? Was, wenn er sie nicht verstand? Doch dann fiel Kioku jemand ein, der ihr helfen konnte. Vielleicht war er derjenige, mit dessen Hilfe sie das Buch finden konnte? Es war sowieso zu seiner Aufgabe geworden, soweit sie das verstanden hatte. Außerdem war das Buch offensichtlich der letzte Schlüssel, um weitere Hinweise über den Aufenthaltsort von Takerus Vater zu bestimmen. Mit der Information, dass er sich irgendwo auf dieser Halbinsel befinden musste, konnte man sowieso noch nicht so viel anfangen.
Vorsichtig löste sie sich von der Umarmung und stand auf. „Ich werde dir helfen“, sagte sie kurz, stürmte aus dem Raum und ließ den verwirrten Takeru zurück. In dem Moment, als sie die Tür öffnete, kamen ihr Alayna und Eimi entgegen, die auf der Suche nach Takerus Zimmer waren, um zu schauen, wie es ihm ging. Jedoch hielt sie nicht an, um mit ihnen zu plaudern, sondern stürmte an ihnen vorbei und ging hinauf in den zweiten Stock, um sich in ihrem Zimmer ihre Klamotten überzustreifen. Dann rannte sie aus dem Krankenhaus, um die eine Person zu finden, die ihr momentan helfen konnte.

Große Schatten wanderten langsam über die Straßen der Stadt, welche von den Wolkenschiffen am Himmel erzeugt wurden. In der Ferne sah man eine etwas dickere Wolke, die längst über die Region gezogen war und dabei etwas abregnete. Es lag ein Geruch in der Umgebung, der nach feuchter Straße und Pflanzen roch. Die Sonne schaffte es an diesem frühlingshaften Tag immer mal wieder, ihre Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hindurch auf den Boden zu schicken, so dass sich das Wetter sehr schwül anfühlte.
Die Beweise des Angriffs auf die Stadt waren überall deutlich zu sehen. Kioku ging in die Richtung, in der sie und Takeru gestern gewesen, in der Hoffnung, dort Anon zu treffen. Die Leute in der Stadt waren damit beschäftigt, alles aufzuräumen. Die Einzelteile eines zerstörten Ladenfensters wurden aufgekehrt, an einer anderen Ecke trug jemand seine eingetretene Tür heraus und legte sie einfach auf die Straße. Einige Männer zogen Karren hinter sich her, worauf sie Müll und vielleicht noch brauchbare Einzelteile von verschiedenen Dingen sammelten. Wiederum saß woanders eine Frau auf einer Bank, ihr Gesicht tief in ihren Händen vergraben und weinte. Kioku hielt für einen Moment inne und betrachtete diese Frau genauer. Sie war für Kioku in diesem kurzen Zeitraum zu einem Symbol geworden für das, was gerade auf der Welt geschah. Leute lebten ihr Leben, gaben sich vollends ihrer Normalität hin und erfuhren irgendwann und irgendwo eine schreckliche Tragödie. Hatte diese Frau ein Zuhause? Sorgte sie sich um ihre Familie? Wusste sie auch nur irgendetwas über das, was im Geheimen vor sich ging? Diese Frau war längst nicht die Einzige, die mit etwas Schlimmen konfrontiert wurde. Kioku dachte dabei an die Leute, die sie aus dem Labor befreit hatten, an die Leute, die um ihr Leben bangten, als sie mit dem Luftschiff auf diesem Kontinent ankamen und an Funtraprolis, welches vor einiger Zeit auch von dieser Organisation angegriffen worden war. Diese Geschehnisse häuften sich stark und Kioku wunderte sich, ob es langsam in den Köpfen der Leute zu brodeln anfing und sie darüber nachdachten, ob und wann die nächste Bedrohung wie eine Pandemie über das Land fegte. Es musste einfach einen guten Grund geben, warum Ryoma das alles verheimlichte. Wollte er eine Massenpanik im Land verhindern? Sie war sich bei alldem noch nicht klar.
Langsam ging sie wieder los, als sie sich erinnerte, wer ihr diese Antworten geben konnte. Sie musste schnell Anon finden. Also zog sie weiter, wandte sich von der Frau ab und wünschte ihr, dass alles wieder gut werden würde. Auf ihrem Weg begegnete sie Schutztrupplern und medizinischem Personal, die alle Hände voll zu tun hatten, den Mitbürgern zu helfen. Kinder sammelten Müll von der Straße ein, einige Handwerker waren schon dabei, Fenster zu reparieren oder Wände zu streichen, die beschmiert worden waren. Aus einer dunklen Gasse zog schwarzer Rauch und einige Männer stürmten mit Eimern hinein und versuchten wohl, das Feuer zu löschen, das dort irgendwo brannte. Ein paar Straßen weiter sah sie eine Gruppe von jungen Frauen und Männern, die große Töpfe auf Tische stellten, die auf der Straße zu einer Reihe aufgebaut waren. Eine etwas ältere Frau fing an, einigen Helfern Eintopf in Schüsseln zu geben. Ein paar Meter weiter gab eine Frau Wasserflaschen aus, die sich einige der erschöpften Helfer nahmen. Kioku freute es, dass im Gegensatz zu den schlimmen Dingen, die passiert waren, die Menschen hier ihre Menschlichkeit zeigten, sich halfen und unterstützten. Das war ein sehr schönes, positives Zeichen. Die Leute ließen sich von keiner Katastrophe unterkriegen.
Kurz darauf kam Kioku an dem Platz an, an dem gestern der Kampf stattgefunden hatte. Für einen kurzen Augenblick zuckte sie zusammen, als sie einen Krach in der Ferne hörte, der sie an Takerus Wutausbruch erinnerte. Nach einem tiefen Atemzug fasste sie sich wieder und sah sich um. Sie lugte in jede Gasse und Straße hinein, um einerseits Anon oder das Tagebuch, andererseits den Grund des Krachs zu erspähen. Jedoch entdeckte sie die Ursache nicht und dadurch, dass alle Menschen in ihrer Umgebung ruhig geblieben waren, konnte nichts Schlimmeres passiert sein. Vielleicht war irgendwo etwas umgefallen, sie konnte es sich nicht erklären. Als sie auch Anon nicht erspähte, nahm sie sich etwas Zeit und suchte genauer nach dem Tagebuch. Sie sah in und um Mülleimer, im Gebüsch und in Schutthaufen nach, die dort von Leuten abgetragen und weggeräumt wurden. Sie lief dabei einen großen Bereich in dem Viertel ab und fragte auch Leute, ob sie etwas gesehen hätten. Von einigen bekam sie eine nette Entschuldigung zu hören, andere wiederum schenkten ihr eine verächtliche, verständnislose Geste und kommentierten, ob Kioku nichts Besseres zu tun hatte, als ein Buch zu suchen. Ein verzweifelt aussehender Mann hob sogar bedrohlich seine Arme und drohte ihr, sie solle sich zum Teufel scheren und ihn sein Geschäft wiederaufbauen lassen. Als sie jedoch wirklich jeden Millimeter zweimal umgedreht hatte und dabei nichts gefunden hatte, wandte sie sich enttäuscht wieder ab und schlenderte zurück. Sie fragte sich, wo Anon sein könnte und ob er nicht dabei war, anderen beim Aufräumen der Stadt zu helfen. Sie lief weiter und suchte alle möglichen Orte ab, um ihn zu finden.
Nach zwei Stunden setzte sie sich erschöpft auf eine Bank in einer Ladenstraße. Vor ihr befanden sich etliche Einkaufsläden, die Kleidung, Einrichtungsgegenstände und viele andere Dinge in ihren Schaufenstern anboten. Viele Leute standen vor den Läden, betrachteten deren Inhalt und beobachteten die Leute darin, die ihre Waren zählten, aufräumten oder feststellen mussten, dass sie beraubt worden waren. Es waren zwei Gruppen von Schutztrupplern unterwegs, die den Schaden in jedem Laden dokumentierten und danach dabei halfen, zerstörte Sachen auf die Straße zu tragen. Zwischen zwei relativ großen Läden entdeckte Kioku einen sehr kleinen Laden. Eine Markise warf Schatten in das Schaufenster, deswegen konnte sie zunächst nicht erkennen, was sich im Laden befand. Die Hauswand war beschmiert worden, jedoch konnte sie erkennen, dass es sich um einen Antiquitätenladen handeln musste. Als sie den Schriftzug entzifferte, fiel ihr plötzlich ein, dass Anon Antiquitäten liebte. Mit einem Mal sprang sie auf und stürmte auf den Laden zu, erschrak aber, als vor ihr die Tür aufging und genau in diesem Augenblick Anon heraustrat.
„Kioku!“, erkannte er verwundert und schloss dabei hinter sich die Tür.
„Ich hätte wissen müssen, dass du hier bist“, ärgerte sich Kioku, die so viel Zeit damit verschwendet hatte, irgendwo in der Stadt nach ihm zu suchen.
„Warst du auf der Suche nach mir?“, wunderte sich Anon. Er warf noch mal einen Blick zurück ins Schaufenster und winkte einem älteren Mann entgegen, der ihm freudestrahlend zuwinkte. „Ich habe gerade diesem netten Mann geholfen, seinen Laden wieder in Ordnung zu bringen, nachdem er letzte Nacht um einige schöne Waren beraubt worden ist. Sie brachen einfach ein und stahlen ihm teure Waren. Im Gegenzug für die Hilfe durfte ich mir ein paar Antiquitäten aussuchen. Natürlich habe ich ihm trotzdem eine große Spende da gelassen.“
Anon kicherte etwas, nachdem er seine Geschichte fertigerzählt hatte. Er wirkte sehr entspannt und glücklich, was Kioku besonders deswegen auffiel, weil viele Menschen um sie herum sehr verzweifelt wirkten.
„Wir müssen reden“, forderte sie, obwohl sie nicht genau wusste, wie sie all ihre Gedanken in Worte fassen sollte. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Oh, was ist denn?“, fragte Anon neugierig nach und deutete ihr, etwas zu gehen. Kioku zeigte aber auf die Bank, auf der sie gerade noch gesessen hatte und zusammen gingen sie dorthin zurück und setzten sich. Kioku dachte gerade nicht daran, wie schwach sich ihr Körper noch anfühlte, spürte aber, dass eine kleine Sitzpause nicht schaden würde. Sie schwieg noch für einen kurzen Augenblick und Anon schien zu verstehen, dass sie sich erst einmal gedanklich sammeln musste.
Kioku sah Anon an und bemerkte, was er für schöne, türkisfarbene Augen hatte. Ein paar seiner blauen Haarsträhnen standen etwas schräg aussehend von seinem Kopf ab. Es forderte viel Energie, das zu sagen, was sie vorhatte, jedoch spürte sie in sich, dass sie ehrlich mit Anon sprechen konnte. Sie musste es tun, um Alayna und Takeru zu unterstützen.
„Hast du das Tagebuch gefunden?“, fragte sie zuerst und sah dabei zu, wie sich Anons Gesichtsausdruck plötzlich veränderte. Sein freundliches Lächeln wich einem ernsten Gesicht.
„Was meinst du?“, hakte er nach, nachdem er kurz innehielt.
Kioku ging nicht auf seine Frage ein, weil sie spürte, dass er damit nur etwas Zeit gewinnen, oder sie verunsichern wollte. Hatte er die Hoffnung, dass sie dadurch aufhören würde, zu fragen?
„Ich möchte es Tak zurückgeben, vor allem nachdem, was geschehen ist. Er braucht etwas, an das er glauben kann – etwas, das ihn leitet“, erklärte sie und sah ihm dabei eindringlich in die Augen.
Daraufhin wandte er sich von ihr ab, sah in die Ferne und massierte sich die Stelle zwischen den Augenbrauen. Er stützte sich mit seinen Armen auf seine Oberschenkel und wirkte plötzlich sehr ernst.
„Woher weißt du, dass ich das Buch suchen sollte?“, entgegnete er Kiokus Frage.
„Ich habe euch belauscht“, erklärte sie und fühlte sich dabei etwas schuldig. „Es war keine Absicht, aber da stand sie. Da stand die Mutter von Takeru und Alayna und … ich wollte wissen, wer sie ist.“
„Sora, mh …“, murmelte Anon und schien eher traurig als wütend darüber zu sein, dass Kioku wohl alles mitbekommen hatte. „Wie viel hast du mitgehört?“
„Ich glaube, so ziemlich alles“, seufzte Kioku. „Du musst verstehen, ich habe den anderen noch nichts gesagt.“
„Das ist gut so“, antwortete Anon und wirkte kurz etwas erleichtert.
„Ich … Ich habe dich gesucht, weil ich in dieser Zwickmühle stecke“, erklärte sich Kioku, wartete kurz ab, wie Anon reagierte und sprach weiter, als er nichts sagte. „Anon, ich war sehr naiv. Ich habe realisiert, dass wir ohne eure Hilfe ziemlich oft nicht aus diesen brenzligen Lagen herausgekommen wären. Wenn wir nicht irgendetwas an uns ändern, wird der nächste Kampf vielleicht nicht gut ausgehen. Irgendwie möchte ich Alayna und Tak davor beschützen. Ich verstehe also, dass ihr eigentlich das Gleiche vorhabt.“
„Ryoma hatte das schon sehr lange geplant. Du musst verstehen, dass einige Dinge nicht nur durch und ausschließlich mit Gintas Verschwinden begründet sind. Manche Dinge gehen tiefer als das. Alle aus unserer Gruppe sind irgendwie mit Ginta verbunden. Es ist nur offensichtlich, dass wir die größten Bemühungen und Anstrengungen in Kauf nehmen, seine Kinder um jeden Preis zu beschützen.“
Es herrschte für einen kurzen Moment stille. Beide dachten über das Gesagte nach und Kioku formulierte schon die nächsten Sätze in ihrem Kopf.
„Hast du das Tagebuch schon gefunden?“, hakte sie noch einmal nach. Ihr war es wichtig, eines nach dem anderen durchzugehen.
„Ja“, antwortete Anon kurz. „Jedoch habe ich es schon an Jumon geschickt. Er wird das Buch näher unter die Lupe nehmen.“
„Aber Tak braucht das Buch!“, wandte sie schockiert ein und fasste Anon flehend an seiner Schulter an. „Du musst es zurückholen.“
„Ich hatte klare Anweisungen von Ryoma, verzeih mir“, entschuldigte sich Anon, der Kioku nun wieder ins Gesicht blickte.
„Oh nein, was machen wir jetzt ohne das Buch?“, seufzte Kioku. „Takeru wird am Boden zerstört sein. Er wird wieder einen Wutausbruch erleiden.“
„Nein, das wird nicht passieren“, erklärte Anon in einer ruhigen Stimme, um Kioku zu beruhigen. „Oto hat seine Kräfte geschwächt, du musst davor keine Angst haben.“
„Es ist nicht nur das“, sprach sie weiter. „Wir werden kein Ziel mehr haben. Wenn das Buch nicht da ist, wissen wir nicht, wohin wir gehen.“
Anon antwortete darauf nicht.
„Ich habe auch gehört, dass eine gewisse Matra Ginta gesehen hat?“ Kioku brachte das Gespräch nun in ihre geplante Richtung.
„Ja, jedoch war sie nicht schnell genug, um ihn aufzuhalten. Ginta ist längst nicht mehr dort. Worauf willst du hinaus?“
„Alaynas und Takerus Mutter hat auch den Auftrag, Ginta zu suchen, richtig? Ich habe ein Angebot für dich.“
Anon schien sehr neugierig darüber zu sein, was nun kam. Kioku atmete tief ein und konzentrierte sich darauf, was das einzig Richtige für sie zu sein schien. Sie hatte jetzt die Position, für ihre Freunde das Beste herauszuholen, was möglich war. Sie musste ihnen dabei natürlich wesentliche Sachen verschweigen, schaffte dadurch jedoch neue Möglichkeiten. Dieser Zwiespalt, in dem sie sich befand, fühlte sich schrecklich an. Sie wollte unbedingt, dass Takeru und Alayna sicher waren. Sie wollte auch alles Erdenkliche tun, damit die beiden es schafften, ihren Vater zu finden. In diesem Augenblick spürte sie, dass es unbedingt die beiden sein sollten, die ihren Vater fanden. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht realisierte, war die Parallele zu ihrer eigenen Suche nach ihrer wahren Identität, die für sie genauso wichtig war, wie es für Takeru und Alayna war, ihren Vater zu finden.
„Ich möchte, dass du uns darüber einen Tipp gibst, dass du etwas gehört hast. Etwas über Gintas Aufenthaltsort. Ich möchte, dass du uns dorthin führst, wo Matra ist. Das wird Takeru von dem fehlenden Buch ablenken und uns gleichzeitig ein neues Ziel zeigen. Ryoma muss davon nichts erfahren, wir können behaupten, dass wir ganz zufällig dort gelandet sind. Dort können beide echte Informationen über ihren Vater finden und wir sind ihrer Mutter näher.“
„Das kann ich nicht machen“, wehrte sich Anon gegen den Vorschlag und stand dabei auf. Er ging nervös einige Schritte auf und ab, wohl weil er befürchtete, dass es einen Haken an dem Vorschlag gab. Kioku hatte es vorausgesehen, dass er so reagieren würde. Einerseits fühlte sie sich schlecht, weil sie Anon so unter Druck setzen musste, andererseits wusste sie, dass sie nun bekommen sollte, was sie wollte.
„Alternativ kann ich natürlich den anderen sagen, dass ich das Gespräch belauscht habe und wir machen uns allein auf den Weg.“
Anon fiel die Kinnlade herunter und sah Kioku geschockt an, die ihn mit einem leicht überheblichen Grinsen ansah. Das Blatt hatte sich in dieser Sekunde für Kioku zum Guten gewendet.
„Das ist Erpressung“, stellte Anon entsetzt fest. „Du kannst mich nicht zu deinem Plan zwingen.“
„Nein, kann ich nicht, da hast du recht“, sagte Kioku ruhig und stand von der Bank auf und wandte sich zum Gehen.
„Halt, warte“, forderte Anon und hielt Kioku am Arm fest. Es kribbelte dabei leicht auf ihrer Haut. „Und dann? Was, wenn wir bei Matra angekommen sind, sie den Kindern sagt, was sie gesehen hatte. Was habt ihr dann vor? Du stellst dir das alles viel zu leicht vor.“
„Bis dahin wird Jumon vielleicht etwas über das Buch herausgefunden haben, Ryoma und Sora werden in ihren Ermittlungen weiter gekommen sein als nun. Versteh mich nicht falsch, ich möchte beide Gruppen unterstützen“, erklärte Kioku hoffnungsvoll. „Es wird uns etwas Zeit verschaffen, jedem von uns. Wir bereiten niemanden Sorgen, weil wir jemand an unserer Seite haben, der auf uns aufpasst. Außerdem werden Takeru und Alayna Hoffnung haben, weil sie das Gefühl haben, etwas beizutragen.“
„Ich verstehe“, stimmte Anon nach längerem Überlegen zu. „Ich mache es. Ich wünsche dir nur, dass dir durch diesen Plan nicht beide Seiten den Rücken zukehren.“

Die Müdigkeit und Kraftlosigkeit nahm schnell wieder die Überhand und Takeru war gezwungen, sich wieder hinzulegen und zu schlafen. Als er wieder aufwachte, saßen seine große Schwester und Eimi am Tisch, welcher gegenüber von seinem Bett an der Wand stand. Er erkannte nicht nur die lächelnden Gesichter der beiden, sondern auch den Dampf, der vom Tisch aus emporstieg und dabei einen köstlichen Duft im Zimmer verbreitete. Für eine Weile roch es nicht nach Krankenhaus, sondern nach etwas Leckeren zu essen. Als er sich aufrichtete, bemerkte er, dass keine Infusionsnadel mehr in seinem Arm steckte. Er fühlte sich zwar noch etwas träge, aber schon viel fitter. Bevor er etwas sagen konnte, meldete sich sein Magen lautstark. Takeru hatte Kohldampf wie noch nie.
„Du hast lange geschlafen“, erkannte Eimi und stellte eine Schüssel mit Nudelsuppe neben Takeru auf das Tischchen, das neben dem Bett stand.
„Die Schwester hat gesagt, dass du danach viel erholter sein wirst. Wie fühlst du dich?“, hakte Alayna besorgt nach.
Bevor er sich seiner Suppe widmen konnte, warf er einen kurzen Blick aus dem Fenster und sah den Sonnenuntergang. Er fragte sich, ob es wirklich schon Abend war.
„Besser“, antwortete er und schlürfte einen großen Löffel von der Suppe. Dabei verbrannte er sich die Spitze seiner Zunge und fing mit dem zweiten Löffel an, erst etwas zu pusten, um die Suppe abzukühlen. „Was ist passiert? Ich erinnere mich nur, dass ich plötzlich wieder ganz müde war.“
„Du warst noch sehr erschöpft. Dann hast du lange geschlafen“, erklärte Alayna kurz.
„Wo ist Kioku?“, hakte Takeru nach und sah sich fragend um. „War sie heute Morgen nicht bei mir?“  Dann erinnerte er sich, dass er eigentlich das Tagebuch suchen wollte. Er stellte seine Suppe beiseite und war kurz davor, wieder aus dem Bett zu springen, als Eimi aufstand und ihm deutete, liegen zu bleiben.
„Das Buch ist nicht hier“, sagte er knapp. „Wir nehmen an, dass Kioku losgezogen ist, es zu suchen, nachdem ihr doch zusammen unterwegs wart.“
Takeru blieb kurz der Atem stehen, als er hörte, dass Kioku einfach so losgezogen war. Einige Bilder des Kampfes erschienen vor seinem inneren Auge und er erschrak, weil er sich erinnern konnte, was er zu Kioku gesagt hatte. Was war nur mit ihm passiert? Warum passierten ständig diese Dinge mit ihm? Und nun durchforstete Kioku die ganze Stadt nach dem Tagebuch, obwohl Takeru sie so beleidigt hatte. Für einen Augenblick verdrehte sich sein Magen und ihm wurde ganz schlecht. Er fühlte sich schlecht für die Dinge, die passiert waren. Er wusste, dass sein Zustand nun deswegen so schlimm war, weil er wieder einmal die Kontrolle verloren hatte.
Was, wenn sie das Buch nicht fand? Es war nichts mehr übrig, was half, seinen Vater zu finden. Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit ließ ihn für eine Weile verstummen. Als sein Magen wieder knurrte, erinnerte er sich daran, etwas zu essen und nahm weitere Löffel von der Suppe, die plötzlich nicht mehr schmeckte.
„Eimi und ich haben uns schon ein wenig besprochen. Aber wir würden gerne auf Kioku warten, bis sie wiederkommt“, sprach Alayna.
„Warum habt ihr euch überhaupt getrennt?“, wunderte sich Takeru, der noch nicht verstand, warum er am vorigen Tag nur Kioku gefunden hatte, Alayna jedoch nicht.
„Sie ist einfach losgestürmt, wie aus dem Nichts. Es schien so, als würde sie sich an etwas erinnern. Aber ich habe sie danach noch nicht fragen können. Ich hatte zwar die Verfolgung aufgenommen, aber konnte sie nicht finden.“
„Das kommt mir irgendwie bekannt vor“, fügte Eimi hinzu und warf Takeru einen vorwurfsvollen Blick zu. „Tak, ich hatte dich auch verloren. Weißt du, wie beschissen sich das angefühlt hat?“
Takeru schluckte, er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
„Ich verstehe, warum du Alayna und Kioku finden wolltest, aber du musst doch nicht alles alleine schaffen können. Wir sind doch bei dir und wir halten zusammen, richtig?“
Dabei wandte sich Eimi erwartungsvoll zu Alayna und sie nickte daraufhin hoffnungsvoll.
„Es tut mir leid“, sagte Takeru ruhig und unterdrückte dabei seine Tränen. Diese ganzen Gedanken über das, was geschehen war und die vielen Gefühle erschöpften ihn wieder. Es war alles so unfassbar schwierig und er sah gerade nur die Probleme, die vor ihm lagen. Wenn doch einfach alles wieder gut wäre, dachte er sich und traute sich gerade nicht, seiner Schwester oder Eimi in die Augen zu blicken.
Als dann für ein paar Augenblicke Stille im Raum einkehrte und jeder über das Geschehene nachdachte, schwang auf einmal die Tür auf und knallte dabei gegen die Wand.
„Ha!“, begrüßte Kioku mit stolz geschwellter Brust die Freunde. Hinter ihr stand Anon, der leicht verwundert seine Augenbrauen nach oben zog. „Ich habe die Lösung!“
Anon begrüßte die Freunde und trat mit Kioku zusammen in den Raum. Takeru fühlte sich in diesem Moment einerseits erleichtert, andererseits wunderte es ihn, Kioku so motiviert zu sehen.
„Hast du das Tagebuch?“, fragte er neugierig und rutschte auf dem Bett etwas in ihre Richtung. Seine Augen glitzerten dabei.
Kioku atmete tief ein, zögerte für einen Moment, um wahrscheinlich in ihrem Kopf zu formulieren, was sie sagen wollte und schüttelte dann jedoch nur den Kopf.
„Ich habe die ganze Stadt auf den Kopf gestellt“, fing sie ihre Erklärung an und wartete dabei nicht auf irgendwelche Reaktionen von Alayna und Eimi. „Ich habe Anon getroffen, der mir ebenfalls geholfen hat. Wir haben überall dort geschaut, wo wir waren und auch dort, wo wir nicht waren. Wir haben es nicht gefunden.“
Die Enttäuschung brach nun wie eine gigantische Welle auf Takerus Geist ein. Es war das letzte Etwas, das Hinweise für den Aufenthaltsort seines Vaters lieferte. Was sollten sie jetzt nur tun? Er sackte zurück aufs Bett und starrte an die Decke. Ein paar Tränen kullerten an seiner Wange herab.
Kioku setzte sich nun auf das Bett und nahm Takerus Hand. „Wir müssen aber die Hoffnung nicht verlieren.“
So als wäre es Anons Stichwort gewesen, erklärte er nun, was er zu erklären hatte.
„Ich habe einen Freund in dieser Stadt, der die Suche für euch übernehmen wird“, erklärte Anon und wirkte dabei wie der Hoffnungsträger, der gerade gefehlt hatte. „Sobald er das Buch gefunden hat, wird er es mich wissen lassen.“
Takerus Augen wurden groß und für einen Moment genoss er den Hoffnungsschimmer, den Anon mitgebracht hatte.
„Derweil habe ich einen Tipp für euch“, sagte er und wartete kurz die Reaktionen ab. Während Kioku Takeru anlächelte, wurden auch Alayna und Eimi neugierig, was Anon zu sagen hatte. „Mehrere Leute haben jemanden, der wie dein Vater aussah sowie eine Lichtgestalt in einer alten Stadt entdeckt, die inmitten einer großen Wüste liegt.“
„Papa wurde gesehen!?“, freute sich Takeru zu hören, doch es schien, dass Alayna etwas stutzig wurde.
„Was für Leute haben Papa gesehen?“, wunderte sie sich und warf Anon einen fragenden Blick zu.
„Ich habe regen Kontakt mit Antiquitätenhändlern und Archäologen, die durch das ganze Land ziehen. Mir wurden die gesichteten Personen so beschrieben, also bin ich davon ausgegangen, dass es euer Vater sein muss. Eine alte Freundin eures Vaters bestätigte mir das.“
„Das heißt, er könnte dort irgendwo sein?“, hakte Takeru nach.
„Sie sind dabei, mehr herauszufinden“, sagte Anon knapp.
„Wenn wir dorthin gehen, könnten diese Leute schon mehr herausgefunden haben!“, schlug Kioku freudig vor. „Endlich haben wir konkrete Hinweise, wo euer Vater stecken könnte.“
„Ja, lasst uns das machen“, suchte Takeru nach Zustimmung. „Und … und wenn deine Freunde das Tagebuch finden, bekommen wir es sofort?“
„Natürlich“, bestätigte Anon.
„Was denkt ihr?“, fragte Takeru die anderen. Nach den Geschehnissen der letzten Zeit empfand er es als wichtig, die Zustimmung aller in der Gruppe zu bekommen.
„Wenn es uns hilft, den Aufenthaltsort deines Vaters zu finden, wieso nicht. Was passiert aber, wenn wir wieder auf die Organisation treffen?“, sorgte sich Eimi.
„Der letzte Kampf ging glimpflich aus“, kommentierte Alayna.
„Dafür ist auch gesorgt“, meinte Kioku.
„Ich begleite euch dorthin“, schlug Anon vor. „Nicht nur zu eurer Sicherheit, sondern damit ihr auch in Kontakt mit meinen Leuten bleiben könnt, falls etwas herausgefunden wird.“
„Dann ist das beschlossen?“, hakte Takeru nach und sah zu, wie Eimi und Alayna beide mit einem Nicken zustimmten. Irgendwie fühlte er sich gerade nicht mehr so verloren. Es gab Hoffnung.