KKZ 2 – Kapitel 1 – 7

Prolog
Kapitel 1 – Geheimnisvolles Leuchten
Kapitel 2 – Ohne Ruhe
Kapitel 3 – Ziele
Kapitel 4 – Die Frau, die sich nicht erinnern kann
Kapitel 5 – Ein warmes Bett
Kapitel 6 – In Brand gesetzte Nacht
Kapitel 7 – In der Mangel


Prolog: Das Licht

Es war ein später Nachmittag im Winter, als sich die schwarzen Wolken vor die untergehende Sonne schoben. Eine unerbittliche Kälte schob sich von den Hügeln hinab durch den Wald und dann auf eine kleine Lichtung. Ein Mann stapelte noch einige Holzscheite von seinem Vorrat im Garten auf seinen Arm. Dabei passte er auf, dass er keinen Scheit fallen ließ. Als er es schaffte, sieben dicke Holzviertel einigermaßen sicher zu balancieren, stieß er mit seinem rechten Fuß die alte Holztüre der Hütte hinter sich zu. Dabei gab die ganze Hütte ein Klappern von sich, als die Tür mit einer Wucht zugeschlagen wurde und sich dann etwas Schnee vom Dach löste und auf den Boden fiel. Der Mann schüttelte sich, als etwas vom Pulverschnee auf seinem Kopf landete. Dann stapfte er durch den Schnee zur Haustür, öffnete diese elegant mit seiner Hüfte und lies die Holzscheite zu Boden fallen. Dann zog er seine Stiefel aus und klopfte den restlichen Schnee, der noch an ihnen klebte, ab, bevor er sie schön ordentlich an die Wand stellte, an der auch andere Schuhpaare aufgereiht waren.

Von den Holzscheiten, die nun in einem Durcheinander auf dem Boden lagen, nahm er sich drei, klemmte sie unter seinen linken Arm und ging durch den schmalen Flur zu einem Zimmer mit einer rotbraunen Tür. Als er sie öffnete, schüttelte er sich kurz, da ihn die entgegenkommende Kälte sehr überraschte. Der Ofen, der in seinem Arbeitszimmer stand, glühte nur noch schwach. Schnell warf er die Holzscheite hinein und versuchte die Glut wieder anzufachen. Es dauerte nicht lange, da hörte man schon wieder ein Knistern. Die Flammen umzüngelten das Holz, als würden sie es liebkosen und versuchen, es zu ihrem Eigen zu machen.

Zufrieden setzte der Mann sich auf seinen Sessel und blickte einige Minuten lang in das Feuer. Als sich langsam die Wärme im Zimmer ausbreitete und er sich endlich wieder wohler fühlen konnte, wandte er sich zu seinem Arbeitstisch – eine Kombination aus Regal und Tisch – zu.  Einige Bücher und Papiere drängten in den Fächern nach mehr Platz. Überall quollen die Dokumente heraus. Doch die Tischfläche war fast leer. Ein einziges Buch lag darauf, mit einem ledernen, bemusterten blauen Einband. Er zögerte.
Hatte das Buch schon vorher da gelegen? Vorsichtig legte er seine Hand auf den Einband um das Leder zu spüren, und das imprägnierte Muster zu erfühlen. Das Buch kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, woher es kam. Ein Geschenk von seiner Frau? Oder gar ein Geschenk von seinen Kindern? Der Mann rutschte mit dem Sessel näher an den Tisch heran und öffnete das Buch. Die ersten Seiten waren nicht beschrieben. Was für ein eigenartiges Buch das doch wahr. War es einer der Bücher, die er gekauft hatte um sie zu beschreiben? Nein, davon hatte er noch einige in der Truhe unterm Fenster. Also hatte er sich es auch nicht gekauft. Vorsichtig blätterte er weiter, bis er zu einer Seite kam, in der mit einer zarten Handschrift ein Eintrag verfasst worden war.
Ein Tagebuch?
Neugierig wie er war, fing er an, die ersten Einträge zu lesen.

 


Kapitel 1 – Geheimnisvolles Leuchten

Langsam öffnete sich die hölzerne Tür. Ein leises Knarren ging durch das Zimmer. Vorsichtig lugte ein Kopf hinter der Tür hervor.
„Tak, bist du da?“
„Ja, Mom…“, antwortete ein Junge der auf seinem Bett lag und einige Sachen auf einen Block Papier kritzelte.
„Ich werde noch schnell etwas besorgen müssen. Deswegen geh ich noch in die Stadt, nur dass du es weißt“, erklärte die Mutter, die sich nicht traute, das Zimmer zu betreten. Die Unordnung, die in dem kleinen Zimmer herrschte, brachte sie schon so oft um den Verstand. Irgendwann gab sie es aber auf, ihrem Sohn Standpauken darüber halten zu müssen, dass Ordnung wichtig sei und dass er sich noch verlieren würde. Sie sah sich um. Es war wirklich schrecklich. Einiges Spielzeug war auf dem Boden verstreut. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Bücher und Papiere. Die Kleidung war einfach in die offene Schublade der Kommode hineingestopft. Was dort nicht reinpasste, wurde vor der Kommode auf dem Boden zu einem großen Berg aufgetürmt. Ob das aber saubere oder dreckige Wäsche war, wusste sie nicht. Dann waren da noch die Bilder und Blätter, die überall im Zimmer verteilt waren, da die Wand schon mit Postern, Zetteln und weiteren Bildern zugehängt war. Sie hat sich immer schon gewundert, wie ihr Sohn in so einem Chaos nur klar kommen würde.

Mit ihrer linken Hand strich sie sich eine Strähne ihres langen, schwarzen Haares hinter ihr Ohr.
„Gut, dann komme ich später wieder und bereite dann das Abendessen vor, ja?“
„Ja, klar Mom. Bis Später“, gab Tak von sich, während er immer noch mit einem Stift auf dem Block herumkritzelte.
„Hab dich lieb, Schatz“, verabschiedete sich die Mutter und schloss hinter sich wieder die Tür.
„Ich dich auch“, säuselte der Junge vor sich hin.

Auf dem Gang kam ihr ihre Tochter entgegen.
„Hey, Alayna“, fing die Mutter an und sprach weiter, „Ich werde noch kurz etwas einkaufen gehen, danach gibt es Abendessen.“
„Geht klar“, gab das Mädchen von sich und verschwand dann in ihr eigenes Zimmer, am Ende des Ganges.
„Was sind denn heute alle so abwesend?“, murmelte die Mutter und machte sich dann auf den Weg.

Alayna öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und trat ein. Sie hatte hier ebenfalls ein kleines Reich aufgebaut und fühlte sich pudelwohl. Anders als ihr drei Jahre jüngerer Bruder, hatte sie es geschafft, Ordnung in ihrem Zimmer zu halten. Alles stand am rechten Platz und war sauber. Ab und an wurde sie zwar von einer Staubdecke auf ihren Lieblingsbüchern begrüßt, aber das war dann auch schnell wieder gesäubert. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und starrte an die Decke.
„Ob er mich fragen wird?“, murmelte sie vor sich hin, nahm sich ein Kissen und drückte es sich fest an die Brust. „Es wäre wirklich schön, wenn er mich zu einem Date ausführen würde.“
Ihr Gesicht nahm eine rötliche Farbe an. Vor Aufregung presste sie nun das Kissen ins Gesicht.
„Wenn ich nur meinen Freundinnen davon erzähle, dass ich in diesen Ferien ein Date mit ihm hatte, werden sie richtig neidisch!“, hörte man sie mit gedämpfter Stimme sagen.

Tak grinste und legte stolz den Block beiseite. Mit einem Schwung richtete er sich auf, strich sich seine schwarzen, kräuseligen Haare aus dem Gesicht und platzierte den Block auf seinem Schoß. Er nahm sich wieder den Stift, zog noch die finalen Striche und hielt den Block dann in die Luft.
„Das wird Dad bestimmt gefallen!“, prahlte er und sprang vom Bett. Dann klemmte er sein Werk unter seinen Arm, tänzelte über den Boden – um ja nicht auf eines der anderen Bilder zu treten – und lief aus dem Zimmer. Es gab einen lauten Knall von sich, als die Tür hinter ihm durch einen Zug rasend schnell zufiel. Tak erschreckte, ignorierte dann aber das Geschehene und rannte hinunter ins Erdgeschoss. Unten an der Treppe machte er eine scharfe Kurve, schlitterte etwas über den Boden und stürmte dann in Richtung des Arbeitszimmers seines Vaters.
Um diese Zeit saß sein Vater immer in seinem Arbeitszimmer, las oder sortierte Dokumente. Eigentlich wollte Tak seinen Vater dabei nie stören, wenn er arbeitete, hatte es sich aber schon in jungen Jahren angewöhnt, zumindest mit ihm im Zimmer zu sitzen und zu zeichnen. Er störte seinen Vater dann gelegentlich nur, um ihm eins seiner neuen Werke zu zeigen. Tak genoss es, bei seinem Vater zu sein, auch wenn er ihm dann keine große Aufmerksamkeit schenken konnte. Oft saß er nur neben dem Kamin und betrachtete seinen Vater dabei, wie er seine Haare raufte und sich durch Dokumente arbeitete. Jedoch verstand er nie, was die Arbeit seines Vaters wirklich war. Eigentlich wollte er es auch gar nicht wissen, das hätte nur seine Vorstellungen von einem coolen Job zerstört.
Tak, stolz auf sein neuestes Werk, wollte also gerade in das Arbeitszimmer seines Vater stürmen, als er durch die überraschend, leicht geöffnete Tür stolperte und mit einem Rumms auf dem Boden landete. Sein Block flog dabei in einem hohen Bogen durch das Zimmer. Einige Blätter lösten sich und schwebten fast durch den Raum. Langsam richtete sich Tak wieder auf, aber hielt inne, als ihm das offene Fenster auffiel. Es war weit geöffnet und er hatte einen guten Blick nach Draußen. Dort spielte sich aber eine spektakuläre Szene ab. Er erkannte eine Silhouette, die wie sein Vater aussah. Was machte er dort draußen im Schnee? Und was war dieses Etwas, das vor ihm schwebte? Tak konnte es nur als ein blaues, leuchtendes Ding identifizieren. Es hatte Haare und ein Kleid an, das sah er von der Entfernung aus. Langsam schwebte dieses Licht in Richtung des Waldes und sein Vater stapfte in Socken durch den Schnee. Er wirkte fast wie hypnotisiert.
„DAD!“, brüllte Tak und wollte fast aus dem Fenster springen.

Alayna hörte auf einmal Krach und Rufe von Unten. An der Stimme erkannte sie, dass es ihr kleiner Bruder war, der etwas von ihr wollte. Aber sie wollte nicht. Sie nahm das Kissen und hielt sich damit die Ohren zu. Warum musste er sie immerzu nerven?
„Alayna!“, brüllte er wieder und wieder.
Dann kam er hochgetrampelt und riss die Tür auf.
„Alayna, komm!“, rief er panisch.
„Lass mich in Ruhe!“, schrie sie zurück und warf ihn mit ihrem Kissen ab. „Raus hier!“
„Du musst mitkommen, Dad ist gerade von irgendetwas entführt worden!“
„Was? Ist das wieder eins deiner Spielchen!?“, ärgerte sich Alayna. Sie hatte wirklich genug von ihrem Bruder ständig genervt zu werden.
„Komm, hier ist deine Jacke!“, brüllte Tak, drückte ihr die Jacke in die eine Hand und zog sie mit der anderen Hand aus dem Zimmer. „Ich mach keinen Scheiß, ehrlich! Hier ist der Beweis. Dad hat irgendein Buch gelesen, in dem eine Nachricht für ihn steht.“
Er zog ein blaues Buch unter seiner Weste hervor, schlug es auf und zeigte es seiner großen Schwester. Alayna sah in die dunkelblauen Augen ihres Bruders. Normalerweise entdeckte sie nun ein Flackern der Schadenfreude. Heute aber waren seine Augen so dunkel. Er grinste auch nicht. Das alles verunsicherte das Mädchen.
„Hier steht“, fing Tak an zu lesen, „Wie lange habe ich nur nach Ginta gesucht und ihn endlich gefunden. Das muss doch irgendwas bedeuten!“
Vorsichtshalber zog Alayna ihre Jacke an und ging mit ihrem Bruder nach unten, während sie sich den Satz im Buch etwas genauer ansah. Die Schrift war ziemlich zart, also musste es eine Frau gewesen sein, die das geschrieben hatte.
„Schnell, zieh dir deine Schuhe an“, hetzte er seine große Schwester und steckte das Buch wieder unter seine Weste. Sie setzte sich also auf die untersten Stufen der Treppe und zog sich gemütlich ihre Turnschuhe an.
„Kannst du nicht ein wenig schneller machen?!“
Alayna gab nur einen Seufzer von sich. Sie zweifelte gerade an der ganzen Situation. Was, wenn er doch einen Scherz machte? Dann setzte es aber was!
Nun stürmte Tak wieder in das Arbeitszimmer und Alayna folgte ihm langsam.
„Da!“, brüllte er und zeigte aus dem geöffneten Fenster. „Komm her!“
„Ist ja gut, was ist denn?“, entgegnete Alayna kühl. Sie seufzte wieder und fuhr sich mit ihrer rechten Hand einmal durch ihr weißes Haar.
„Dort, siehst du die Fußspuren?“, schoss es aus Tak vor lauter Aufregung. „Da, da ist Dad entlanggelaufen. Er lief irgendeinem leuchtendem Ding hinterher. Als ich nach ihm gerufen habe, hat er nicht reagiert. Vielleicht war das ein Alien und hat ihn hypnotisiert! Bitte, bitte lass uns nachschauen gehen!“
„Was… was faselst du denn da, Takeru?“ Alayna kam bei den schnellen Erklärungen ihres Bruders nicht ganz mit. Ihr Vater sollte also irgendeinem Alien hinterhergelaufen sein? In den dunklen Wald?
„Bitte lass uns nachschauen!“, bettelte Tak sie an.
„Kannst du das nicht alleine machen?“, fragte Alayna und zog dabei vorwurfsvoll eine Augenbraue nach oben.
„Du weißt doch, dass… dass… dass ich wenn es so dunkel ist, nicht in den Wald darf“, bastelte sich Tak eine Antwort zusammen, während er dabei rot anlief. Seine Schwester wusste, dass er einfach Angst hatte. Dabei prahlte er immer so oft, dass er sich traute. Aber in den dunklen Wald wollte er nie gehen.
„Nun gut…“, murmelte Alayna und stieg mit Tak aus dem großen Fenster. Sie folgten den Fußspuren ihres Vaters in den Wald.
Die Kälte umgab die Zwei genauso schnell, wie die Dunkelheit des Waldes sie verschluckt hatte. Sie kamen nur langsam voran. Vorsichtig mussten sie durch den dicken Schnee und dabei auch noch aufpassen, dass sie nicht über irgendwelche Wurzeln stolperten.
„Tak, ich warne dich. Wenn das wieder nur einer deiner blöden Scherze ist…“, warnte Alayna ihren Bruder.
„Nein, glaub mir! Dad ist hier wirklich entlanggelaufen. Nur weiß ich nicht, in welche Richtung er nun… gegangen ist…“
Ein eigenartiges Geräusch unterbrach die Stille des Waldes.
„Oh nein… hast du das gehört!? Was war das?“, schnaufte Tak.
„Jetzt sei mal nicht so ein Angsthase! Das wird wohl irgendein Tier gewesen sein.“
„Und was, wenn das ein Bär oder so ist?“
Takeru hatte in der Schule gelernt, dass in den Wäldern ziemlich viele verschiedene Tiere hausten. Er war auch oft vor den großen Raubtieren gewarnt worden, die in letzter Zeit häufiger in der Gegend anzutreffen waren. Ein Bär, fiel ihm ein. Er hatte es nicht darauf angelegt, von einem Bären verspeist zu werden.
„Du bist so ein Schisser…“, beschwerte sich Alayna und trampelte weiter durch den Wald.
Tak schluckte und sah sich nervös um. Gleich würde bestimmt ein Bär auf die Beiden zugestürmt kommen, oder ein Wolf oder ein anderes Tier und dann war es das mit dem Leben.
Es knisterte und raschelte. Viele kleine Wölkchen bildeten sich durch Taks schnelles Schnaufen. Die Dunkelheit nahm den Zweien die Sicht, jedoch ermöglichte es ihnen aber, besser zu hören.
„Da war irgendwas“, flüsterte Tak, in der Hoffnung, dass dieses Etwas nicht aufmerksam auf sie wurde.
„Da war nichts“, seufzte Alayna. Es raschelte wieder. Diesmal dachte Tak sogar eine Silhouette hinter den Bäumen gesehen zu haben.
„Schon wieder! Ich weiß doch, dass da was war!“, beschwerte sich Tak in einem weinerlichen Ton.
„Ich hab langsam genug von diesem Scheiß hier!“, brüllte Alayna. „Du kannst deine Spielchen echt lassen. Was weiß ich, ob du das Buch gefälscht hast und die Schritte nicht schon vorher in den Schnee gemacht hast, aber Paps ist bestimmt mit Mama zusammen zum Einkaufen gegangen! Lass deine blöden Spielchen endlich Tak, ich hab echt die Schnauze voll!“
„Aber, das ist kein Spielchen!“, entgegnete Tak und hätte fast das weinen angefangen, wäre er vor Schock in diesem Moment nicht erstarrt.
Die Silhouette, die er vorher wahrgenommen hatte, tauchte plötzlich hinter Alayna auf. Es war eine Person und er erkannte, dass diese Person ihr eine Hand auf den Mund legte, damit sie still war. Jedoch erschreckte sich Alayna in diesem Moment so sehr, dass sie schrie, in die Hand biss und der Person hinter ihr ihrem Ellbogen in die Magengegend rammte. Die Silhouette krümmte sich und ließ ein lautes „Autsch!“ von sich. Nachdem die Person etwas umhergetaumelt war, richtete sie sich wieder auf und kam etwas näher.
„Was macht ihr Kinder so spät am Abend in einem so dunklen Wald wie diesem?“, schimpfte ein Mann mit dunkler Hautfarbe, der etwa in dem selben Alter wie ihr Vater zu sein schien. Er hatte einen weiten Kimono an und an seiner Hüfte hing ein Schwert. „Antwortet! Was macht ihr hier!?“
„Wer… wer sind Sie überhaupt!? Und warum greifen Sie mich an!?“, brüllte Alayna und stemmte dabei ihre Hände in die Hüfte.
„Wir, wir suchen unseren Vater!“, verteidigte sich Takeru, der sich langsam aus seinem Schock wieder löste.
„Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, irgendwen zu suchen! Hier laufen gerade ganz viele Dinge schief, ihr solltet besser zu Hause sein“, meinte der Mann und sah sich noch einmal um. „Ihr kommt aus der Richtung? Ich bring euch wieder Heim.“
„Das ist eine gute Idee“, seufzte Alayna. „Ich hab wirklich keine Lust mehr hier durch die Nacht zu stiefeln und Paps zu suchen. Er ist sicherlich bei Mama.“
„Hört zu. Hier in der Gegend sind gerade ziemlich üble Typen unterwegs. Es ist sicherer, wenn ihr nach Hause geht“, schlug der Mann vor. Alayna machte einen Anfang und stapfte den Weg zurück, den sie gerade gekommen waren. Der Mann folgte ihr, hielt dann noch kurz inne und sah nach dem Jungen, der einfach noch da stand.
„Tak, komm endlich!“, brüllte Alayna. Tak sah sich um. Er wollte aber seinen Vater suchen. Doch er konnte nichts machen. Er hatte Angst, allein durch den Wald zu gehen, also folgte er seiner Schwester und dem Mann. Auf dem Rückweg umschlang er fest das Buch, das in seiner Weste steckte. Der Weg zurück war einfacher zu gehen. Alayna musste nur wieder in die Fußstapfen treten, die sie bisher in den Schnee getreten hatten. Es dauerte nicht lange, da standen sie wieder am Rande des Waldes in der Nähe ihres Hauses. Jedoch konnten sie nicht zurück zum Haus.
„Oh mein…“, stammelte Alayna, bevor sie sich auf ihre Knie fallen lies.
„Was, was ist passiert!?“, brüllte Tak und rannte auf das Haus zu, das in Flammen stand, stolperte dann aber wieder zurück, als ihm die Hitze wie eine Peitsche ins Gesicht schlug. Aus den Fenstern heraus züngelten riesige Flammen. Das Knistern des Feuers übertönte die Unruhe der Nacht.
„Verdammt“, meinte der Mann und sah sich um. In der Ferne sah er einige schwarze Gestalten in die Dunkelheit huschen. „Ich bin zu spät.“
„Das… das ist doch nicht wahr!“, brüllte Tak mit Tränen in den Augen. Alayna zitterte vor dem großen Schock, vor der Angst und vor der Kälte des Schnees, in dem sie saß. Ihr Zuhause stand in Flammen.


Kapitel 2 – Ohne Ruhe

Der Schnee, der bis vor einigen Stunden noch strahlend weiß auf dem Boden gelegen hatte, verfärbte sich nun in ein tiefes, schweres Grau. Die Abenddämmerung hatte schon lange nachgelassen und ein weiter, mit Sternen besetzter schwarzer Himmel lag über dem Land. Der Mond war nicht zu sehen, dafür jedoch eine satte Rauchwolke die in der Ferne über den Kronen der Bäume hing.
Durch die Dunkelheit und Kälte des Waldes stapften drei Personen bis sie sich einer kleinen Lichtung näherten. Unter ihnen war ein 13-jähriger Junge, dessen schwarzen Haare ihm vor die Augen hingen. Dies störte ihn aber nicht sonderlich, da es sowieso dunkel war. Eigentlich war er immer ein fröhlicher Junge gewesen. Doch gerade konnte er nur teilnahmslos in die Ferne starrend einen Schritt nach dem anderen durch den kalten Schnee tun. Er war der erste, der die Lichtung erreichte. Er blieb stehen, drehte sich um, rieb seine Waden aneinander und wartete auf die zwei anderen Personen. Direkt hinter ihm lief ein Mann, dessen Rastalocken kraftlos in einem Zopf seinen Rücken hinab hingen. Der Mann murmelte etwas vor sich hin und kam dann auch auf zur Lichtung. Er blickte den Jungen an und erkannte, wie fern er in seinen Gedanken gerade war. Der Mann wollte so gern etwas tröstendes sagen, aber er wusste, dass dies den Jungen gerade nicht erreichen würde. Zusammen warteten sie auf die letzte Person.

Die Schwester des Jungen, sie war gerade erst vor einigen Monaten 16 Jahre alt geworden, saß an einen Baum gelehnt im Schnee. Sie wollte einfach nicht weitergehen. In einem unregelmäßigen Rhythmus zog sie ihre Nase hoch und wischte sich immer wieder die kälter werdenden Tränen von den Wangen. Ihre dünne Jacke schützte sie nicht vor der Kälte, die um sie herum und auch in ihr drin herrschte.
Der Mann hatte keine Geduld mehr. „Bring mir etwas Holz“, befahl er und der Junge schlenderte langsam davon. Dann stapfte er selbst zurück durch den Schnee in den Wald und stellte sich vor das Mädchen hin.
„Es ist kalt. Steh auf, ich mache ein Lagerfeuer an. Dann reden wir“, sprach er in der Hoffnung, dass das Mädchen auf ihn hörte.
„Lassen Sie mich in Ruhe!“, brüllte sie, ohne dabei aufzusehen. Ein unangenehmes Gefühl fuhr durch den Mann. Lange war er nicht mehr angebrüllt worden.
„Steh auf, sage ich“, wiederholte er sich.
„Gehen Sie einfach weg!“, entgegnete das Mädchen.
„Brüll hier nicht so rum“, meinte der Mann in einem ruhigen Ton. Dann fasste er sie am Oberarm und zerrte sie auf.
„Fassen Sie mich nicht an! Ich kenne Sie nicht einmal!“, verteidigte sich das Mädchen und versuchte sich von dem festen Griff des Mannes zu befreien. Doch sie schaffte es nicht. Für den Moment war sie zu schwach und sie war einfach viel zu geschafft von der momentanen Situation, als dass sie sich nun gerne viel bewegen wollte. Der Mann zerrte sie zur Lichtung, dann ließ er sie los und sie fiel in den Schnee. Mittlerweile hatte der Junge einige Zweige und auch einen größeren Ast gefunden, den er mit viel Mühe durch den Schnee bis zur Mitte der Lichtung schleppte.
„Wenn du im Schnee liegen willst, ist das deine Sache“, sprach der Mann zum Mädchen, „Aber wenn du herumbrüllst, hat das keinen Sinn. Oder willst du etwa, dass sie auf uns aufmerksam werden?“
Das Mädchen schlug mehrmals in den Schnee. Ihr kleiner Bruder sah nur still dabei zu.
„Ist gut“, sagte der Mann zum Jungen. „Danke für die Hilfe.“ Der Junge nickte und ging vor dem Haufen Zweige in die Hocke. Dann zog er mit seinem Finger einige Linien in den Schnee. Der Mann nahm sein Schwert samt Scheide von seiner Hüfte, arrangierte mit der anderen Hand die Zweige über den Ast zu einem großen Haufen und dann hielt er sein Schwert darüber. Er zog es ein Stück aus der Scheide, sodass man das rot-schwarze Metall der Klinge sehen konnte. Auf einmal flogen einige Funken von dem Schwert aus auf den Haufen und entzündeten das kalte Holz. Mit etwas Pusten entfachte er die Funken zu einem größeren Feuer. Erstaunt starrte nun der Junge in die schnell auflodernden Flammen, bis er sich wieder an das Ereignis erinnerte und den Schock wieder wachrüttelte. Er ließ sich auf seinen Hintern fallen. Die Hitze des Feuers taute ihn zwar körperlich wieder auf, aber seine Gedanken waren dafür immer noch festgefroren. Nachdem das Mädchen all ihre Tränen vergossen hatte und nur noch schwer atmete, setzte sie sich auch ans Feuer. Dabei sah sie aber weder ihren Bruder, noch den Mann an.
Der Mann kramte aus einer kleinen Tasche, die er dabei hatte, noch ein kleineres Stück Brot heraus, brach es in drei Teile und gab jeweils dem Jungen und dem Mädchen davon.
„Ich habe keinen Hunger“, murmelte das Mädchen, das ihre Knie angezogen und ihren Kopf darauf gestützt hatte.
„Iss“, meinte der Mann kühl. „Es ist wichtig, zu essen.“
„Wir haben immer mit ihnen gegessen“, sagte der Junge während er weinend in das Stück Brot biss und es sich dann ganz in den Mund stopfte.
„Ich weiß…“, antwortete der Mann nur. Dann hatte er aber das schlechte Gefühl das nur gesagt zu haben, um überhaupt etwas gesagt zu haben, denn er konnte diese peinliche Stille nicht leiden.
„Nein, sie wissen eben nicht!“, wurde das Mädchen wieder lauter.
„A… Alayna…“, stotterte ihr Bruder.
„Wer sind Sie, was machen Sie hier und warum verdammt nochmal wurde unser Haus angezündet!? Was ist mit unseren Eltern!? Und WER zur Hölle soll uns nicht bemerken!? Klären sie uns mal auf!“, forderte Alayna, die dem Mann wütende Blicke zuwarf.
„Ryoma heiße ich. Ryoma Sakamoto. Ihr seid Takeru und Alayna, so wie ich das verstanden habe?“, hakte Ryoma nach. Tak nickte und Alayna gab nur ein Brummen von sich.
„Ich verstehe schon.“ Ryoma seufzte, nahm einen Bissen vom Brot, ließ sich zeit darauf herumzukauen und dann sprach er weiter, als er das Stück runtergeschluckt hatte. „Ich bin ein alter Freund eures Vaters. Eigentlich wollte ich ihn wegen eines Problems aufsuchen. Aber anscheinend ist er nicht mehr Zuhause.“
„Das wissen wir nun auch…“, brummte Alayna wieder.
„Das Problem ist dabei, ich weiß weder was mit eurem Vater passiert ist, noch was mit eurer Mutter geschehen ist. Ich hoffe, dass beide nicht in die Hände dieser radikalen Gruppe gelangt sind.“
„Radikale Gruppe?“, sorgte sich Tak und sah Ryoma dabei mit großen Augen an. Er hatte wirklich Angst um seine Eltern.
„Ja. Deswegen wollte ich mit eurem Vater reden. Anscheinend wollten sie auch irgendetwas von eurem Vater. Deswegen haben sie wohl das Haus angezündet. Was sie wollen, weiß ich jedoch nicht. Die anderen Details spielen keine Rolle.“
„Wieso spielen die keine Rolle!? Unser Zuhause wurde abgefackelt! Unser Vater wurde von irgendeiner Lichtgestalt entführt und unsere Mutter, keine Ahnung, was mit der ist!“, beschwerte sich Alayna lautstark.
„Sei bitte etwas leiser. Oder willst du etwa, dass sie euch auch noch angreifen?“, entgegnete Ryoma abermals.
„Und was sollen wir jetzt machen?“, fragte Alayna mit einer etwas leiseren, aber dennoch genervten Stimme.
„Habt ihr Verwandte, zu denen ihr gehen könntet?“
„Nein“, antwortete Alayna. „Wir haben die Eltern von Paps nie kennengelernt. Und die Eltern von Mama sind kurz nach Taks Geburt gestorben.“
„Mh…“, dachte Ryoma nach. „Enge Freunde eurer Eltern? Irgendwer, der sich um euch kümmern kann?“
Alayna schüttelte den Kopf. „Unsere Eltern haben schon einige Freunde, aber bei all den Familien… das würde nicht gehen.“
„Verstehe“, murmelte Ryoma und schluckte das letzte Stück Brot hinunter.
Der kalte Wind hauchte über den Schneebedeckten Boden und hob einige Flocken wieder hinauf in den Himmel. Das Knistern des Feuers wurde immer lauter, je stiller es zwischen den drei, am Feuer sitzenden Personen wurde.
„Das Beste wäre…“, fing Ryoma an zu sprechen. Dann blieb er aber stumm. In seinem Kopf wirbelten Gedanken und Ideen umher. Er konnte einfach nicht klar denken. Was sollte er mit Gintas Kindern machen? Sie konnten nirgends hin. Er selbst hatte kein festes Zuhause mehr. Ob sie stark genug waren auf Reisen zu gehen? Und wohin sollten sie gehen?
Tak hob seinen Kopf und sah sich um.
„Ich habe gerade etwas gehört“, meinte er nur und umklammerte das Buch unter seine Weste immer fester.
„Das war bestimmt wieder einer deiner dummen Bären“, brummte Alayna sarkastisch.
Ryoma wurde aufmerksamer. Er wollte sicher gehen, dass das wirklich Personen waren also wartete er ab. Dann war es wieder still. Tak war sich sicher, gerade knackende Äste und knirschenden Schnee gehört zu haben. Vielleicht hatte er es sich doch auch nur eingebildet. Er war müde und einfach geschafft. Für einen Abend war das viel zu viel. Er fuhr mit seinen Händen einmal über sein Gesicht, dann rieb er sich sie und hielt sie gegen das Feuer. Die Wärme tat gut. Auf einmal vernahm er aber wieder ähnliche Geräusche. Er hob seinen Kopf wieder und horchte. Tak versuchte zu verstehen, was dort im Wald vor sich ging. Das Knirschen des Schnees und die knackenden Äste und Zweige, ja da war er sich sicher, da mussten einige Personen sein.
„Leute, ich glaube da ist wer“, flüsterte Tak leise und sah fragend Ryoma an. Die Geräusche wurden nun lauter.
„Sie haben uns gefunden“, flüsterte Ryoma. „Bleibt ruhig. Gleich werden sie uns angreifen.“
„Das ist nicht ihr Ernst!“, gab Alayna geschockt von sich. „Was wollen die überhaupt von uns!?“
Vorsichtig warf Ryoma einige Blicke in den Wald hinein. Er versuchte dabei seinen Kopf nicht auffällig schnell zu drehen und etwas in der Dunkelheit der frühen Nacht zu erkennen.
„Ich weiß es nicht, Alayna. Tak du hattest Recht, es sind einige Leute hier. Wenn sie uns angreifen, werde ich sie aufhalten. Ihr solltet dann am besten fliehen. Checkt die Lage gut ab, ich bin sicher, dass es eine Fluchtmöglichkeit gibt.“
Ryoma sah sich langsam um. Alayna und Tak blickten sich gegenseitig erschrocken an, dann sahen sie sich auch um.
„Habt ihr verstanden?“, wiederholte er sich leise. Tak nickte. Der Plan machte irgendwie Sinn.
„Was ist, wenn im Wald noch mehr von diesen Kerlen lauern?“, hakte Alayna nach.
„Keine Sorge, ich werde sie gut genug ablenken und die Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Dann komme ich so schnell wie möglich nach“, erklärte Ryoma. Alayna sah genervt zu ihrem kleinen Bruder hinüber, der sie mit einem bettelnden Blick dazu brachte, mit dem Plan einverstanden zu sein. Sie ließ einen schweren Seufzer los und nickte.
Doch bevor sie ihrem Bruder überhaupt signalisieren konnte, dass sie einverstanden war, sprangen einige Männer in gepanzerten Mänteln aus dem Wald heraus, es waren etwas mehr als zehn Stück und stürmten auf die Gruppe zu. Wie Ryoma es richtig vorhergesehen hatte, gab es eine Richtung, aus der die Männer nicht kamen. Sofort sprangen Alayna und Tak und sahen sich um. Ryoma zog sofort sein Schwert und fuhr damit über das Lagerfeuer. Dabei ging das Lagerfeuer aus und sein Schwert fing an zu brennen. Er stürzte sich in den Kampf gegen die bewaffneten Männer, die nun durch Ryoma gut abgelenkt waren. Das war die Chance für Tak und Alayna um abzuhauen. Sie rannten in den Wald, ohne sich noch einmal umzudrehen.

 


Kapitel 3 – Ziele

Etwas Unheimliches lag in der Luft. Die Kälte und der hohe Schnee machten es für Alayna und Takeru nicht einfach, schnell voranzukommen. Ryoma, ein angeblicher Freund ihres Vaters, hatte sich kurz um die Beiden gekümmert, nachdem ihr Vater von einer Lichtgestalt entführt und ihr Haus danach in Brand gesteckt worden war. Als dann jedoch Männer in schwarzen Mänteln die Gruppe angegriffen hatte, hatte Ryoma sich in den Kampf gestürzt und die Kinder hatten in den Wald flüchten können.
„Tak… Tak…“, presste Alayna mit letzter Kraft aus sich heraus. Sie atmete schwer und langsam, während sie mit aller Kraft taumelnd einen Schritt vor den anderen setzte.
„Kannst du nicht mehr?“, wunderte sich Tak, der ebenfalls schon ins Schnaufen geraten war. Das Lächeln, das er dabei auf dem Gesicht hatte, bestand aus einer Mischung aus Freude über seine größere Ausdauer und der nicht vorhandenen Fähigkeit, mit der Situation der heutigen Nacht richtig umzugehen.
„Tak, wir sollte eine Pause machen“, schlug seine große Schwester vor und blieb an einen Baum gestützt stehen.
„Aber was, wenn diese Männer kommen?“, entgegnete Tak und wollte weiterlaufen, hielt jedoch inne.
„Wir sind jetzt ziemlich lange gerannt und gelaufen…“, erklärte Alayna und machte eine kurze Pause um zu atmen, „Die werden uns schon nicht gefolgt sein…“
Sie glitt langsam am Baum herab und setzte sich neben eine große Wurzel auf den Boden. Es war kalt und sie fror.
„Komm zurück, wir machen besser eine kleine Pause.“
Tak blickte seine Schwester an. Fahles Mondlicht ließ ihn ihren Ausdruck im Gesicht erkennen. Eigentlich würde er jetzt gerne sagen, dass er lieber ihren Vater suchen wollte, jedoch fühlte er sich auch so schwach, dass er ohne etwas zu sagen seine Fußspuren zurück folgte und sich neben Alayna an den Baum setzte.
Neben ihr zu sitzen, verdrängte auf einmal die Kälte der Umgebung. Takeru merkte, wie sich seine Schwester etwas mehr an ihn herankuschelte. Es fühlte sich zunächst merkwürdig an, dann aber gut. Eigentlich war er von seiner Schwester an Körperkontakt höchstens nur Kopfnüsse gewohnt. Dass sie jetzt aber sich so an ihn kuschelte, war so neu für ihn. Außerdem ließ sie das auf einmal so verletzlich erscheinen. Trauer war es, was er dabei empfand. Alayna war bisher immer ein starkes, junges Mädchen gewesen, das sich durch nichts hat erschüttern lassen. Er baute immer darauf dass sie sich nicht unterkriegen ließ, wenn er dies nicht sogar für einige Scherze und Streiche ausnutzte. Dennoch musste er zugeben, dass er seine Schwester lieb hatte. Nun hätte er ihr auch gerne noch etwas erzählt. Er setzte schon an, hielt aber inne und schluckte seine Worte wieder hinunter, als er dann merkte, dass sie neben ihm eingeschlafen war. Vielleicht war sie zu erschöpft vom Rennen, oder vielleicht auch vom ganzen Abend. Das wusste er nicht. Zärtlich strich er seiner Schwester eine Haarsträhne aus dem Gesicht und merkte, wie kühl ihr Gesicht war. Ob sie schon träumte? Er atmete einmal tief ein und dann wieder aus. Während sich sein Brustkorb wieder senkte, spürte er, dass er unter seiner Weste noch das Tagebuch hatte. Vorsichtig, ohne Alayna durch seine Bewegungen wieder aufzuwecken, zog er das Buch heraus und schlug es auf. Er blätterte darin herum. Seine Finger waren taub von der Kälte, was es etwas schwerer machte, die Seiten zu greifen.
Takeru war erstaunt darüber, was er in dem Buch fand. Irgendwie waren die Worte, die vorher alle darin gestanden hatten plötzlich verschwunden. Selbst der Eintrag ganz am Anfang des Buches war weg. Hatte er sich die Nachrichten nur eingebildet oder warum waren sie plötzlich verschwunden? Er blätterte weiter. Vielleicht hatte er sich doch nur auf einer Seite geirrt. Im zweiten Sechstel des Buches entdeckte Tak einen kurzen Eintrag.
„Wusste ich doch, dass da noch was drinsteht…“, flüsterte er und las sich den Eintrag durch.

Heute haben wir uns alle wieder getroffen. Oto hatte sich entschieden zusammen mit diesem Ama in Yofu-Shiti zu bleiben. Schade, sie war eigentlich ganz nett.
Ginta war ziemlich zerstreut, nachdem er erfahren hatte, dass Ryoma einfach verschwunden war. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie ziemlich gute Freunde waren. Dass er jetzt weg ist, tut sicherlich weh. Ich hoffe für Ginta, dass sie sich wiedersehen können.
Dann haben wir unsere Reise fortgesetzt. Ginta ist ziemlich still.

Also war Ryoma doch ein Freund seines Vaters gewesen. Takeru gähnte. Er war ziemlich müde geworden. Wer war diese Oto und vor allem wer hat diesen Eintrag überhaupt geschrieben? Sein Vater konnte es auf jeden Fall nicht sein.
„Ist es nicht ziemlich unhöflich, die Tagebücher Fremder zu lesen?“
Tak zuckte zusammen. War er gerade eingeschlafen?
„Ich finde, du solltest das Buch dem rechtmäßigen Besitzer schnellstmöglich wieder zurückgeben“, sprach eine Stimme. War das Ryoma? Tak stand vorsichtig auf, immer noch bedacht Alayna nicht aufzuwecken. Das Tagebuch schlug er zu, steckte es wieder unter seine Weste und sah sich um. Als er nichts erkannte, wollte er sich wieder hinsetzen.
„Was macht ihr hier überhaupt?“, sprach die Stimme weiter.
„Wer ist da!?“, bemerkte Tak und sah sich wieder um. „Sind Sie es, Ryoma?“
„Wer ist denn Ryoma?“
„Dann bist du nicht Ryoma… Was willst du?“, fragte Tak weiter und ging einmal um den großen Baum herum.
Es war immer noch kalt und dunkel. In seiner Nähe konnte er einige Fußspuren im Schnee ausmachen. War das vielleicht einer der schwarzen Männer gewesen? Auf einmal hörte er einige Äste knacken und vor ihm kam vom einem Ast über ihn ein Kind herunter geschwungen. Kopfüber hing es vor ihm und grinste ihn an. Seine Kleidung war komisch. Das Kind trug eine schwarze, weite Jacke aus leichtem Stoff mit riesigen Ärmeln und um seinen Kopf herum ein schwarzes Stirnband. Die kurzen, ungestuften Haare hatten in der Dunkelheit eine schwache, pinke Farbe. Seine Haut war ziemlich blass. Das Kind war vielleicht etwas jünger als Tak, der vor dem Schreck etwas zurück taumelte.
„Du bist aber ein ziemlich schreckhafter Junge“, kicherte das Kind und grinste bis über beide Ohren.
„Wer bist du!?“, staunte Tak, nicht wissend was er wirklich sagen sollte.
„Mein Name ist Ea. Ea Noacks um genauer zu sein. Wer bist du, du Tagebuchschnüffler?“, stellte sich Ea vor. Takeru zögerte erst, bevor er antwortete. „Mein Name ist Tak. Was machst du hier?“
„Oh, das kann ich dir leider nicht sagen“, antwortete Ea kurz und grinste wieder.
„Und warum hängst du von dem Ast herab?“
„Weil es Spaß macht. Wieso sonst?“
Ea sah Tak verwundert an. Tak sah verwundert zurück. Was war das für ein Kind?
„Also, Tak. Wie schon gesagt, bin ich dafür, dass du das Tagebuch demjenigen zurück gibst, dem es gehört.“
„Aber ich weiß nicht mal, wem das Buch gehört“, versuchte er sich rechtzufertigen.
„Wo hast es gefunden?“, hakte Ea nach.
„Im Zimmer meines Vaters.“
„Dann gehört es deinem Vater, ganz einfach!“, grinste Ea. Machte irgendwie Sinn. Es musste seinem Vater gehören… oder dieser Lichtgestalt. Aber konnten Lichtgestalten überhaupt Tagebuch schreiben?
„Aber ich kann es meinem Vater nicht zurückgeben…“, erklärte Tak, während er mit seiner Hand über das Buch unter seiner Weste fuhr. Schwer atmete er ein und wieder aus. Wo sein Vater gerade nur war?
„Wieso nicht?“
„Er ist entführt worden“, sagte Tak. Es war schwierig das zu sagen, ohne dass ihm die Stimme versagte.
„Sag mal, war das ein Mann mit weißen Haaren?“
Tak nickte wie wild. „Ja! Das muss mein Dad gewesen sein!“
Das zu hören, dass jemand anderes seinen Vater gesehen hatte, füllte seine Brust mit etwas Hoffnung. Vielleicht konnte er so Hinweise bekommen, wie er seinem Vater folgen konnte. Wenn Ea es ihm jetzt nur noch sagen würde, dann könnte er sich am nächsten Morgen mit Alayna gleich auf den Weg machen und seinen Vater einholen und mit ihm und seiner Schwester zurück nach Hause zurückkehren und alles wäre wieder gut.
„Bitte sag mir, wohin er gegangen ist!“, bettelte Takeru, faltete seine Hände und ließ sich auf die Knie fallen.
„Also, wenn das dein Vater ist… Dann ist er zusammen mit irgendeiner Frau in Richtung Nordwesten gegangen. Er brabbelte irgendetwas von einem Hafen. Mehr konnte ich aber auch nicht heraushören“, erklärte Ea und machte dabei ein nachdenkliches Gesicht.
„Nordwesten? Welche Richtung ist das?“, fragte Tak, stand wieder auf und klopfte sich den Schnee von den Beinen. Ea zeigte mit dem Finger in eine Richtung.
„Danke“, meinte Tak, bückte sich herunter und zeichnete in den Schnee einen Pfeil in die Richtung, die Ea ihm gerade gezeigt hatte. „Damit ich das morgen nicht vergesse…“ Als er sich wieder aufrichtete, war Ea verschwunden.
„Ea?… Ea?“, wiederholte Takeru um herauszufinden, wo Ea hin verschwunden war, aber er bekam keine Antwort mehr. So plötzlich wie das Kind aufgetaucht war, so war es auch wieder verschwunden. Eigenartig.
„Danke, Ea“, bedankte sich Tak, „Dann haben wir jetzt ein Ziel. Ich muss nach Nordwesten um Dad zu treffen…“
Es verging eine Weile, während er einfach nur neben dem Baum stand und wartete, ob Ea nicht doch wieder zurückkommen würde. Nach einiger Zeit aber setzte er sich wieder neben Alayna, das Tagebuch fest umschlungen und schlief wieder ein.


Kapitel 4 – Die Frau, die sich nicht erinnern kann

Die Morgensonne, deren Strahlen sich durch die flauschigen Wolken am Himmel drängten, ließ die Schneesterne, die an den nackten Ästen und Zweigen des großen Baumes hingen, funkeln und glitzern.
Die Strahlen waren so warm, dass einige dieser Kristalle schmolzen und zu Boden fielen. Jedoch landeten sie nicht dort, sondern auf dem Gesicht eines Jungen, der eng an seine Schwester gekuschelt, unter jenem Baum lag.

Allmählich wurde der Junge wach, lehnte sich nach vorne, streckte sich und stand auf. Er fröstelte, weswegen er etwas auf der Stelle trat und sich die Oberarme warm rieb.
„Was für eine Nacht…“, murmelte der Junge vor sich hin, sah sich um und ging einige Meter weit. Dann stellte er sich hinter einen Baum, überprüfte noch einmal ob seine Schwester noch schlief und ließ dann der Natur freien Lauf.
Die Wölkchen die dabei aufstiegen, nahmen eigenartige Formen an.
Während er also nun den Baum beglückte, ließ er noch einmal die Ereignisse der gestrigen Nacht an sich vorbei ziehen.
Als er mit seinen Notbedürfnissen fertig war, packte er sich wieder ein und schlenderte langsam wieder zurück zu seiner Schwester. Währenddessen kramte er unter seiner Weste das Tagebuch hervor, das er im Arbeitszimmer seines Vaters gefunden hatte und in dem vor einiger Zeit noch Einträge zu finden gewesen waren. Aber als er das Buch jetzt wieder durchblätterte, entdeckte er nichts anderes als leere Seiten.

Alayna spürte im Schlaf, wie das wärmende Etwas neben ihr verschwunden war. Die Sonnenstrahlen, die über ihr Gesicht strichen, waren dafür aber kein Ersatz, weswegen sie auch schnell aus ihrem Schlaf erwachte. Sie gähnte, machte dann langsam ihre Augen wieder auf und streckte sich, so weh es zunächst auch tat.
„Endlich bist du wach…“, sagte Tak nur, während er seufzend das Tagebuch wieder zuschlug und unter seiner Weste verstaute.
„Was heißt hier endlich?“, brummte Alayna, die aufstand, sich mit der einen Hand den Schnee von ihrer Hose klopfte und mit der anderen sich die Augen rieb.
Das war eine Nacht und das, was sie nun am wenigsten brauchte, war ein kleiner Bruder, der sie mit seinen Worten auch noch zusätzlich nervte.
„Hast du gut geschlafen?“, fragte Takeru.
„Schau ich so aus!?“, maulte sie ihren Bruder wieder an. Alaynas Haare waren ganz zerzaust, sie fror und ihre Hose war ziemlich dreckig.
„Tut mir Leid“, murmelte Tak nur und trat einen Haufen Schnee in die Luft.
„Super“, meinte Alayna nur, seufzte und fuhr sich durch ihre Haare, dann sah sie sich um. „Was machen wir jetzt? Wir haben nichts zu trinken, nichts zu essen… Wo steckt Ryoma überhaupt?“
„Schwesterchen ich…“
„Es kann doch nicht sein, dass er uns so im Stich gelassen hat, echt unmöglich! Von wegen der große Retter…“, unterbrach sie ihren Bruder.
„Alayna, hör mal…“
„Jetzt stehen wir ganz alleine da! Was sollen wir überhaupt machen? Anscheinend können wir nicht zurück nach Hause, weil diese Männer hinter uns her sind… Oder sehe ich das falsch?“, brabbelte sie einfach weiter.
„Alayna, hör mal zu!“, machte Tak seine Schwester auf sich aufmerksam. „Ich denke, ich weiß wo sich Dad aufhält! Er ist in Richtung Nordwesten gelaufen…“
„Ach, und woher weißt du das, Schlaumeier?“

Takeru war sich jetzt nicht ganz sicher, was er auf diese Frage antworten sollte. Wenn er seiner Schwester sagte, dass ihm das ein Kind erzählt hatte, während sie geschlafen hatte, würde sie das nie und nimmer glauben. Wenn er ihr das so erzählte, dann würde sie genau in die entgegengesetzte Richtung laufen, nur um ihm zu beweisen, dass er falsch lag. Also brauchte er nun eine gute Idee, aber das am besten schnell, damit sie nicht daran zweifelte. Dann spürte er das Tagebuch unter seiner Weste und dann fiel ihm etwas Gutes ein.
„Das stand im Tagebuch!“, sagte er, in der Hoffnung, dass Alayna das ohne Probleme glauben würde.
„Wirklich? Das Tagebuch ist sowieso komisch…“, murmelte sie und dachte darüber nach.
„Glaub mir“, wollte Takeru sie überzeugen, bevor sie irgendetwas dagegen sagen konnte, „Im Buch stand auch, dass dieses Lichtding Dad gesucht hat! Ich hab gelesen, dass sie zusammen nach Nordwesten gehen wollten, aber wieso weiß ich nicht. Werden wir dann ja sehen, wenn wir da sind!“
„Also gut, dann machen wir uns auf in die Richtung“, schlug Alayna vor und sah sich um. „Nordwesten, wo ist das denn genau…?“
Tak sah neben Alayna auf die Stelle, in die er mit seinen Füßen einen Pfeil gezeichnet hatte, der dorthin zeigte.
„In der Richtung“, meinte er und zeigte nach Nordwesten.
„Stimmt ja, die Sonne geht im Osten auf, dann müsste das stimmen“, erklärte sie es sich selbst.
Tak wurde etwas rot. Natürlich! Im Osten ging die Sonne auf. Richtig peinlich, dass er letzte Nacht wirklich hatte nachfragen müssen, wo Nordwesten war.
So machten sich die Beiden nun auf den Weg und durchquerten dabei den Wald mit einem grummelnden Mägen. Bald erreichten sie den Ausgang und befanden sich nun auf einem Weg, der sie über einige Felder brachte.

Die Geschwister sprachen nicht viel. Ab und an hörte man Takerus laute Gedanken. Alayna hingegen war mehr als still. Es war einfach zu kalt und außerdem war sie zu erschöpft dafür, irgendetwas anderes zu tun, als planlos durch die Welt zu laufen.
Die Ereignisse des letzten Tages waren einfach zu schockierend, als dass sie jetzt damit schon klar kommen könnte.
„Hey Tak… Meinst du, Ryoma macht sich Sorgen, wenn er uns im Wald nicht mehr findet?“, fragte sie nach. Alayna war unsicher. Einerseits war dieser Ryoma schon relativ vertrauenerweckend. Immerhin hatte er sie und Takeru retten wollen. Dagegen kannten sie diesen Mann überhaupt nicht. Er hätte ja auch einer dieser Männer sein können, die hinter ihrem Bruder und ihr her waren. Vielleicht war er deswegen nicht mehr aufgetaucht, weil er doch etwas mit ihnen zu tun hatte?
„Mh, ich weiß nicht“, meinte Tak nur und zuckte mit den Schultern. „Aber ist das nicht egal? Viel wichtiger ist jetzt, dass wir Dad finden können!“
„Du bist dir wirklich sicher, dass im Tagebuch steht, dass sie nach Nordwesten gegangen sind?“
Takeru nickte nervös, in der Hoffnung, dass seine Schwester nichts merken würde.

Plötzlich hörten die zwei ein Schreien.
„Das kommt von hinter dem Hügel!“, erkannte Tak und rannte den Hügel hoch. Auf dem Schnee rutschte er ein-, zweimal aus, fiel aber nicht zu Boden, da er gerade noch das Gleichgewicht halten konnte.
„Hey, warte!“, rief ihm Alayna hinterher und rannte ebenfalls los. „Das geht uns doch eigentlich gar nichts an!“
Als sie ihren kleinen Bruder oben auf dem Hügel einholte, rutschte sie aber auf einer glitschigen Stelle auf der Wiese aus, knallte auf Takeru und rollte mit ihm zusammen den Hügel auf der anderen Seite wieder hinab, bevor sie auch nur die Lage realisieren konnten.

Eine junge Frau mit schwarzen Haaren wurde gerade von zwei Männern in gepanzerten Mänteln festgehalten und versuchte sich irgendwie zu verteidigen. Leider waren die Männer stärker als sie und da blieb ihr nichts anderes übrig, als kräftig zu Schreien.
Sie war wirklich erleichtert, als kurz darauf zwei Menschen den Hügel hinab gerollt kamen und mit der Geschwindigkeit eine so starke Wucht besaßen, die besagten Männer während dem Aufprall zu Boden schleudern.
Selbst wurde sie zwar auch zu Boden geworfen, aber sie tat sich nichts, da sie im weichen Schnee landete. Sofort sprang sie auf und verpasste den auf dem Boden liegenden Männern gehörige Tritte in die richtigen Stellen. Das machte sie sogar so stark, dass der Schnee dadurch hochgeschleudert wurde.
Dann packte sie die Männer einem nach dem anderen am Kragen, zog sie nach oben und gab ihnen einen Tracht Prügel, die sich gewaschen hatte.
Irgendwann schafften es die Kerle, sich loszureißen und rannten mit ihren blauen Flecken, dicken Lippen und blutenden Nasen davon.
„Die Tussi hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!“, rief der eine noch. Dann waren sie verschwunden.

Mittlerweile hatten sich Takeru und Alayna aufgerichtet und klopften sich den Schnee von der Kleidung.
„Autsch, das hat weh getan, Alayna!“, keifte Tak seine große Schwester an.
„Tut mir Leid, bin halt ausgerutscht, was erwartest du!?“, verteidigte sie sich. „Außerdem war es für mich auch nicht gerade die gemütlichste Landung!“
„Pass doch einmal auf deine Elefantenfüße auf, Mensch…“, brummte Tak und massierte seine Stirn.
„Als ob ich der Schussel wäre! Wer ist denn letzte Woche nach dem Duschen so aus dem Bad gestolpert und die Treppen nackt herunter gerumpelt, als ich gerade mit meinen Freundinnen gerade durch die Haustüre kam!?“, brüllte Alayna.
Tak wurde dabei etwas rot, diese Geschichte war wirklich eine der Peinlichkeiten, die er lieber komplett aus seinem Leben hätte streichen wollen.

Der Streit der Geschwister wurde durch ein Lachen unterbrochen.
Die Frau sah den Kindern beim Streiten zu und konnte sich dann nicht zurückhalten.
Takeru hielt sofort inne und starrte die Frau fragend an.
Alayna hingegen wurde sofort wieder böse.
„Was… was ist hier so lustig!?“, beschwerte sie sich im lautstarken Ton.
Die Frau musste erst mal Luft holen, bevor sie wieder sprechen konnte.  Dann wischte sie sich noch die Tränen aus den Augen und sah die Kinder lächelnd an.
„Also, das hättet ihr sehen müssen! Wie ihr da runter gerollt seid und dann… dann, dann sind die Typen im hohen Bogen noch in den Schnee geworfen worden“, meinte sie und unterbrach sich kurz um wieder einem kurzen Lachen nachzugehen. Als sie sich dann wieder gefangen hatte, sprach sie weiter. „Und Kleiner, die Geschichte mit dem nackt aus dem Bad die Treppe Herunterrollen ist ja zu niedlich.“
Tak wurde rot wie eine Tomate, als sie dann noch einige Schritte näher kam und ihm durch die Haare wuschelte.
„Aber ich danke euch auf jeden Fall… War echt klasse, dass ihr mir geholfen habt!“
Alayna und Takeru sahen sich fragend an. Geholfen? Die Beiden?
„Warum plötzlich so still? Gerade habt ihr euch doch noch lautstark gestritten…“, wunderte sich die Frau.
Das Einzige aber, was sie als Antwort bekam, war ein tiefes, lautes Magengrummeln von den Kindern, worauf sie wieder einmal lachen musste.
„Hey, ihr habt mich davor bewahrt, von diesen Halunken ausgeraubt zu werden, also lade ich euch gerne zum Essen ein!“
„Essen!“, kam es plötzlich aus den Geschwistern wie aus einem Rohr geschossen. Die Junge Frau musste wieder lachen.
„Darf ich mich vorstellen?“, meinte sie, „Mein Name ist Kioku. Wie heißt ihr?“
„Vielen Dank für das Angebot“, bedankte sich Alayna, „Mein Name ist Alayna Juzu Sabekaze.“
„Und ich bin Takeru Sabekaze, nett dass sie uns zum Essen einladen“, grinste Tak bis über beide Ohren.
„Kommt mit, dort hinten hab ich mein kleines Lager aufgebaut“, meinte sie und die Kinder folgten Kioku zu ihrem Lagerfeuer.

Als sich alle hingesetzt und es sich am wärmenden Feuer gemütlich gemacht hatte, holte Kioku aus ihrem Rucksack Brot, Käse und alles, was noch dazugehörte. Takeru und Alayna schlugen sich den Bauch voll. Kioku selbst aß nur ein wenig.
Während dem Essen, ließ Alayna die junge Frau aber nicht aus den Augen. Sie musterte Kioku immer wieder.
Ihre schwarzen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, jedoch nicht gerade ordentlich, da einige Haarsträhnen abstanden. An ihrer linken Schläfe fehlten jedoch einige Haare rund um eine stark sichtbare Narbe. Woher sie die wohl hatte? Alayna würde sicherlich später einmal nachfragen, falls sie es sich traute.
Kioku trug eine Lederjacke und hatte eine Hose an, an der sich ziemlich viele Taschen befanden, die wahrscheinlich mit lauter Krimskrams gefüllt waren. Um ihre Hüfte herum hatte sie ein langes Seil gebunden. Ob sie kletterte?

„Sagt mal, Kinder. Was macht ihr denn hier draußen eigentlich? Wolltet ihr im Schnee spielen?“, fragte Kioku aus Neugier nach.
Takeru hielt in seinem Kauen für einen Moment inne und schnaufte. Dann zog er seine Beine näher an sich heran und stopfte das angebissene Brot, das er noch in der Hand hielt, vollends in seinen Mund.
Kioku fiel Taks Verhalten auf, zog eine Augenbraue nach oben und fragte sich, ob sie etwas Falsches gefragt hatte.
„Wissen Sie…“, fing Alayna an zu erzählen. „Diese Männer, die sie vorhin belästigt haben… Anscheinend gehören die zu irgendeiner Organisation oder so etwas und sind hinter uns her.“
Sie wusste in diesem Moment selbst nicht, warum sie das einer völlig fremden Person anvertrauen musste. Aber sie wollte Kioku vertrauen. Immerhin war sie selbst von diesen Männern belästigt worden, was bedeutete, dass sie nicht mit ihnen zusammenarbeitete, richtig?
„Ohweh, und deswegen flüchtet ihr vor diesen Kerlen?“, meinte Kioku nur und verzog nachdenklich ihr Gesicht.
Alayna nickte. Sie wollte ihr lieber noch verschweigen, dass ihr Zuhause angezündet und ihr Vater entführt worden war. Was außerdem mit ihrer Mutter war, wusste sie überhaupt nicht!
„Ihr habt es ja schwer. Tut mir echt Leid für euch!“, versuchte Kioku die Kinder irgendwie zu trösten.
„Was, was machen Sie eigentlich?“, entgegnete Alayna, nicht nur aus Interesse heraus, sondern auch um sich etwas abzulenken.
„Oh, das ist eine gute Frage…“, fing Kioku an zu erklären, hielt aber noch inne und fuhr sich mit der linken Hand über ihre Narbe. „Wisst ihr…“
Kioku hielt wieder inne. Konnte sie es den Kindern erzählen? Sie war sich ziemlich unsicher.
Alayna sah sie verwirrt an. Tak, starrte ins Feuer und hörte nur mit einem Ohr zu.
„Ich habe mein Gedächtnis verloren. Ich weiß eigentlich gar nicht, wer ich bin und was ich mache. Kioku… Ich weiß nicht mal, ob ich wirklich so heiße. Aber irgendwie kommt mir der Name so vertraut vor, deswegen habe ich mich einfach so genannt… Und bitte, du brauchst mich nicht zu siezen, ich bin gerade einmal 25 Jahre alt. Für mich ist das immer noch so unangenehm. Da kommt man sich vor wie eine Oma!“
Kioku ließ einen falschen Lacher los, seufzte dann aber anschließend und wandte ihren Blick in die Ferne.
„Okay, also… ehm…“, murmelte Alayna, auf der Suche nach den richtigen Worten. „Das heißt, du hast eine Amnesie, oder so etwas? Darüber haben wir schon mal in der Schule geredet. Du hast wohl einige Erinnerungen… oder ich mein… alle Erinnerungen verloren, das ist echt traurig.“
„Anscheinend. Ich weiß nicht einmal, woher ich diese Narbe hier habe“, meinte Kioku und sah wieder Alayna an. „Hey, ich hab ’ne Idee! Ich bin eigentlich hier her gekommen um herauszufinden, woher ich komme und wer ich bin. Aber auf was gestoßen bin ich nicht. Vielleicht kann ich euch begleiten? Dann wärt ihr nicht allein.“
Nicht allein? Hörte sich nicht schlecht für Alayna an.
„Also… Ich hab nichts dagegen“, meinte sie und sah ihren Bruder fragend an.
Er wollte gerade ansetzen, sich gegen diesen Vorschlag zu wehren, doch Alayna erkannte das früh genug und setzte einen Blick auf, der aus Betteln und Drohen bestand.
Tak hielt sich also zurück und stimmte mit einem einfachen „Ja, klar… Kein Ding“ zu.
„Super!“, freute sich Kioku. „Dann habe ich ja endlich mal eine sinnvollere Beschäftigung gefunden.“
Alayna lächelte. Irgendwie war Kioku ihr wirklich sympathisch. Außerdem war sie ihr mehr geheuer als dieser Ryoma, der angeblich der Freund ihres Vaters war. Sie konnte das immer noch nicht ganz glauben. Aber falls mehr hinter Kioku steckte, konnte sie zumindest sichergehen, dass Kioku sich daran nicht mehr erinnern konnte.
Tak empfand die ganze Sache als nicht so toll, wie seine Schwester. Je mehr Leute von ihren Geheimnissen und Zielen wussten, desto unangenehmer wurde ihm die Sache. Er wollte doch einfach nur seinen Vater finden!
Wo er gerade wohl war und was er tat?


Kapitel 5 – Ein warmes Bett

Als sich am Nachmittag die Wolken zu einer dunkelgrauen Wand zusammenschoben, konnte man schon ahnen, dass es bald regnen würde. Leider fiel der Regen früher und stärker als erwartet und so kamen Alayna, Takeru und Kioku durchnässt in Funtraprolis an, einer großen Stadt, die zu dem Zeitpunkt wie verlassen wirkte.
Der heftige Regen vermischte sich mit dem Schnee auf den Straßen und vermischte sich zu dreckig weißem Matsch. Es war zwar etwas wärmer, als an den letzten Tagen, dennoch fror Alayna ziemlich stark.
Es glich einem Wunder, dass die Freunde bei dem schlechten Wetter und der miesen Sicht dann am Abend ein Hotel gefunden hatten. Kioku wollte Alayna und Takeru dazu einladen, eine Nacht lang in einem warmen Bett zu schlafen.

Seit einer geschlagenen halben Stunde war Kioku dabei, Überzeugungsarbeit bei der Rezeptionistin zu leisten. Sie hatte nicht viel Geld, weswegen sie irgendwie einen Handel klarmachen wollte, um doch nur für eine Nacht ein Zimmer zu bekommen. Die Rezeptionistin hatte aber nur noch die teuren Räumlichkeiten zur Verfügung und konnte diese nicht für einen geringeren Preis anbieten.
Währenddessen saß Tak auf einer Bank und blätterte gelangweilt durch einige Zeitschriften, die dort auf einem Tisch auslagen. Doch wirklich ablenken konnten sie ihn nicht. Deswegen machte er sich auf und sah sich die Eingangshalle genauer an. Alles schien so edel.
Alayna war weniger interessiert daran, wie es in diesem Hotel aussah. Zwar war sie lange nicht mehr mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einem Hotel gewesen, aber das letzte Mal war ihr genug gewesen.

Es war ungefähr vor 10 Jahren gewesen, als ihre Eltern beschlossen hatten, einen Kurzurlaub in einer anderen Stadt zu machen. Schön war der Urlaub nicht gewesen. Takeru war damals drei Jahre alt und ständig am Quängeln gewesen. Alayna selbst hatte auch wenig Spaß daran gehabt, durch die Stadt zu laufen und sich einige Sehenswürdigkeiten anzusehen. Das war zumindest das, woran sie sich erinnern konnte.
Am späten Abend hatte es plötzlich auch so zu regnen angefangen. Schon bevor sie am Hotel angekommen waren, waren sie pitschnass gewesen. Ihr kleiner Bruder war nur noch am Weinen gewesen und ihre Eltern hatten gestresst gewirkt, später hatten sie sich auch kurz gestritten. Dass das Zimmer aber wundervoll und das Bett super gemütlich gewesen war, war damals für Alayna kein wirklicher Trost gewesen. Die Stimmung war ziemlich schlecht gewesen, also hatte sie sich an die Glastür zum Balkon gesetzt und den Regen für eine Weile betrachtet.
Weswegen ihre Eltern gestritten hatten oder warum sie wirklich diesen Kurzurlaub gemacht hatten, das hatte Alayna bisher nicht herausfinden können.

Als Kioku auf einmal lauter wurde, schreckte Alayna aus ihrer Erinnerung wieder hoch und wurde aufmerksam auf das Gespräch. So wie es schien, würden sie für diese Nacht kein Zimmer mehr bekommen.
Sie seufzte, fuhr sich durch ihr feuchtes Haar und lehnte sich an eine Wand. Da hätte man einmal die Chance gehabt, in einem Hotel zu schlafen und dann wurde man vom Pech verfolgt. Vielleicht hatten sie aber in einem anderen Hotel bessere Chancen? Aber dafür mussten sie wieder durch den Regen. Dieser Regen! Nichts regte Alayna gerade mehr auf als dieser unangenehme, eklige Regen.

„Psst“, hörte Alayna jemanden machen.
Sie sah sich um, entdeckte aber niemanden.
„Psst“, wiederholte sich die Stimme. Dann machte Alayna einen Schritt nach vorn und sah sich um. Links neben ihr, einige Meter entfernt war ein Gang, der zu einigen Zimmern und einer Treppe führte. Dort stand ein junger Mann in schwarzen Klamotten und winkte Alayna zu sich her.
Was wollte dieser Kerl? War das eine schlechte Anmache?
Alayna reagierte nicht darauf und lehnte sich wieder zurück an die Wand und sah genervt in eine andere Richtung.
„Jetzt komm doch schon her, ich hab das, was ihr braucht“, sagte der Kerl und winkte wieder. „Ihr braucht doch ein Zimmer, oder?“
Alayna wurde aufmerksamer. Eigentlich ließ sie sich von zwielichtigen Typen nie etwas sagen, aber sie wollte wieder in einem Bett schlafen.
Sie verschränkte ihre Arme und ging auf den Typen zu, der dann ein breites Grinsen auflegte. Er schien nur etwas älter als sie zu sein, obwohl er durch seine Kleidung jünger wirkte. Sein Mantel war breit und er trug ein schwarzes Stirnband, worüber einige, pinke Haarsträhnen fielen. Ob der Typ muskulös war, konnte sie nicht erkennen, aber er war etwa einen Kopf größer als sie, was Alayna schon etwas einschüchterte.

„Hör mal, ich will dir echt nichts böses“, fing der Kerl an zu erzählen und grinste wieder, diesmal aber auf einer viel unheimlicheren Art als vorher. „Ich hab mir das Zimmer für zu viele Tage gebucht, eigentlich muss ich jetzt schon wieder abreisen. War kurz davor, mir das Geld wieder zurückzuholen, aber wenn ich euch etwas gutes tun kann…!“
Er holte aus seiner Hosentasche einen Schlüssel, an dem eine kleine Metallplatte hing, auf der eine Nummer eingraviert war.
„Ich weiß, das kommt dir jetzt bestimmt komisch vor, aber nimm das einfach an, ich brauch das Zimmer wirklich nicht mehr. Und es sieht super aus, das Zimmer wurde heute wieder geputzt“, erklärte der Typ und hörte nicht mit seiner Grinserei auf.
Bevor Alayna darauf irgendetwas antworten konnte, drückte er ihr den Schlüssel in die Hand und verabschiedete sich. Dann stürmte er aus dem Hotel und war weg.
Alayna sah ihm hinterher, nicht in der Lage etwas zu sagen. Was für ein eigenartiger Kerl das doch war. Und diese Haarfarbe, schrecklich!

Kioku gab auf. Sie hatte einfach keinen Weg gefunden, ein Zimmer klarzumachen. Genervt ließ sie sich auf die Bank fallen, die ein lautes Knarren von sich gab. Takeru, der mittlerweile die ganze Eingangshalle unter die Lupe genommen hatte, setzte sich neben sie.
„Und?“, fragte er nach.
Kioku schüttelte den Kopf. „Einfach nichts zu machen. Wir werden wohl auf der Straße schlafen müssen…“
„Nicht ganz“, kündigte Alayna an, die gerade herkam. „Wir haben ein Zimmer.“ Sie streckte ihren Arm aus und zeigte ihrem Bruder und Kioku den Zimmerschlüssel. „Da war ein Typ, der hatte zu viele Tage gebucht, musste aber schnell weg… oder so. Auf jeden Fall hat er mir den Schlüssel gegeben, was heißt, dass wir für heute Nacht doch ein Zimmer haben.“
Kioku sprang sofort auf und ließ einen Freundschrei heraus. „Das ist ja klasse! Wo ist dieser Typ? Ich würde mich gern bei ihm bedanken!“
Alayna schüttelte den Kopf. „Er ist schon weg…“
„Schon weg? Auch egal!“ Kioku krallte sich den Schlüssel, las die Zimmernummer vor und stiefelte dann ganz glücklich voraus. „Wo bleibt ihr denn!?“
Takeru sah seine große Schwester verwundert an und sie zuckte nur mit den Schultern, dann folgten sie ihrer neuen Freundin.

„Herrlich!“, meinte Kioku nur, nachdem sie das Licht im Zimmer eingeschaltet hatte.
Das Zimmer war groß und gemütlich. In einer Ecke stand ein großer Schrank, gegenüber an den Wänden waren zwei Doppelbetten, an deren Kopfenden edle Lampen befestigt waren. Über den Betten hingen Landschaftsgemälde. Der Leuchter in der Mitte des Zimmers war schön geschmückt und erhellte den kleinen Tisch, der darunter stand, am stärksten.
Tak machte einen Satz und sprang auf eines der Doppelbetten und wälzte sich darin etwas.
„Man, das ist so gemütlich!“, jubelte er.
„Ich würde das lassen…“, meinte Alayna nur und seufzte, während sie ihrem Bruder bei dem Spaß zusah. „Du machst das ganze Bett nass und dreckig…“
„Hupps“, gab Tak von sich und wurde schnell rot, dann stand er auf und legte erstmal seine Kleidung auf einen Stuhl, bis er nur noch im Shirt und in Unterhosen dastand.
Dann kroch er unter die Decke und kuschelte sich ein.
„Das ist so warm und gemütlich“, meinte er, als er den ganzen Platz im Bett für sich beanspruchte hatte.
Kioku lachte.
„Damit wär die Frage, wer in welchem Bett schläft, wohl geklärt“, sagte sie und lächelte dabei Alayna an.
„Scheint so“, meinte das weiß-haarige Mädchen. „Ich werde erst einmal eine heiße Dusche nehmen.“
Alayna verschwand im Bad.
„Ist gut“, lächelte Kioku und setzte sich an den Tisch. „Was für ein Glück wir heute doch haben.“

Nach einer halben Stunde kam Alayna frisch geduscht aus dem Bad und Kioku begab sich als nächste ins Bad.
Tak hatte es sich mittlerweile so gemütlich gemacht, dass er eingeschlafen war. Alayna machte das Licht aus und setzte sich an die Glastür zum Balkon und hörte einfach nur dem Prasseln des Regens zu.
Sie blickte zu ihrem kleinen Bruder.
„Du hättest auch eine Dusche nötig“, flüsterte sie und lehnte dann ihren Kopf an die kalte Scheibe.
Der an die Glasscheibe prasselnde Regen beruhigte ihren warmen Körper, regte aber zur gleichen Zeit ihre Gedanken an.
Das Atmen strengte sie an. Gerade fühlte sie sich, als wäre all ihre Kraft auf einmal herausgesogen worden. Alayna wollte doch nur wieder nach Hause. Sie wollte zurück in ihr Zimmer, zurück in ihr Haus und vor allem zurück zu ihren Eltern. Was ihr Vater gerade wohl machte und wo ihre Mutter nur war? Sie wusste es nicht. Was diese Männer in den komischen Klamotten von ihr und ihrem Bruder wollten? Sie wusste auch das nicht. Wo dieser Ryoma geblieben war?
Es waren momentan einfach viel zu viele offene Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Dann war da ja noch dieses Tagebuch, das Tak schützte wie seinen größten Schatz. Aber gut, was sollte sie auch anderes von ihrem kleinen Bruder erwarten? Er hatte schon immer alles, was er von ihrem Vater bekommen hatte, wie einen Schatz behandelt. Ihr Dad war wohl seine einzige Bezugsperson gewesen, die Person zu der er am meisten Vertrauen hatte.
Sie selbst war eher distanziert zu ihren Eltern, was ihr genau jetzt auffiel, da die Distanz zu ihren Eltern größer als jemals zuvor war.
Klar, sie konnte ihre Mutter gut leiden und ihr Vater war sehr fürsorglich. Dennoch hatte sie nie so eine enge Beziehung zu ihnen aufbauen können, wie es Tak getan hatte. Alayna hatte sich schon immer wohler dabei gefühlt, wenn sie ihre Ruhe hatte und sie für sich war, mal abgesehen von den vielen Momenten mit ihren besten Freundinnen. 

Alayna wachte wieder auf, als Kioku sich neben sie setzte und mit ihr sprach.
„Was?“, hakte Alayna nach, die Kiokus Worte nicht mitbekommen hatte.
„Ich hab dich gefragt, über was du nachdenkst“, wiederholte sich Kioku und grinste. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Glasscheibe, an der Alayna immer noch saß.
„Ach, über nichts…“, gab Alayna als Antwort und fuhr mit ihrer linken Hand über ihr Gesicht.
„Seh ich“, meinte Kioku nur und lächelte. „Sag mal… was ist denn wirklich passiert? Ich merke doch, dass ihr mir immer noch etwas verschweigt.“
Alayna konnte erst nichts sagen, so schockiert war sie, so leicht durchschaut worden zu werden.
„Wirklich, mir kannst du das anvertrauen, ich will euch nichts Böses. Ist ja nicht so, dass ich nicht selbst von diesen Typen überfallen wurde!“
Kioku lachte und versuchte irgendwie die Anspannung in diesem Gespräch zu lockern.
Irgendwie fühlte sich Alayna gerade ertappt. Und was sollte sie nun tun? Ihr wirklich die ganze Geschichte erzählen? Sie wollte es so gerne. Sie wollte ihre Probleme wirklich gern erklären, damit ihr irgendwie geholfen werden konnte, aber sie traute sich noch nicht.
„Weißt du, diese Typen verfolgen mich schon länger. Ich hab keine Ahnung, was die von mir wollen. Ich kann mich ja kaum mehr an irgendetwas erinnern. Ich weiß nicht mehr, wo ich aufgewacht bin, woher ich komme und wer ich überhaupt bin… Leicht ist das nicht für mich. Aber deswegen gebe ich nicht auf. Klar ist das ein Problem, aber Probleme können immer gelöst werden! Und ich finde schon noch heraus, was passiert ist…“, erklärte Kioku, deren Lächeln für einen kurzen Moment aussetzte. Dann fuhr sie mit ihrem Zeigefinger über die Narbe an ihrer Schläfe. „Du kannst es mir ruhig anvertrauen.“
„Also gut…“, fing Alayna an, nachdem sie sich dazu entschlossen hatte, die Geschichte zu erzählen. „Es war so…“
Dann erklärte sie Kioku die Ereignisse der letzten Tage.

 


Kapitel 6 – In Brand gesetzte Nacht

Alayna streckte sich und gähnte, bevor sie sich an den massiven Holztisch in der Küche der Hütte setzte. Erstmal rieb sie sich die Augen, gähnte noch einmal herzhaft und rutschte dann mit ihrem Stuhl näher an den Tisch heran.
Der Tisch war wie üblich gedeckt. Jedoch hatte ihre Familie anscheinend schon gefrühstückt. Natürlich war der Platz ihres Bruders voller Krümel und Milchflecken. Ihre Mutter hatte nur einen Kaffee getrunken, was man von der Sauberkeit ihres Besteckes her sehen konnte. So kannte sie ihre Familie.
Alayna nahm sich also ein Brötchen aus dem schon fast geleerten Korb in der Mitte des Tisches. Dann schnitt sie ihn mit dem Messer entzwei und setzte die zwei halben Brothälften wieder zurück auf den Teller.
Verschlafen tastete sie den Bereich neben sich ab und wollte das Glas mit der Marmelade finden, fand es aber nicht.
„Was suchst du denn, Mäuschen?“, hörte sie plötzlich ihren Vater sagen, der ihr gegenüber saß.
„Nur die Marmelade, Paps…“, antwortete sie und fühlte sich dabei komisch.
Stimmt, es fiel ihr wieder ein. Sie waren in der Hütte auf dem Hügel, weit weg von Zuhause und erholten sich vom Alltagsstress.
„Hast wohl mal wieder lange geschlafen. Dein Bruder ist übrigens Draußen. Vielleicht könntest du später nach ihm schauen?“, erzählte ihr Vater in einer so beruhigenden Stimme, dass Alayna hätte einschlafen können, so wie sie es früher immer getan hatte, als er ihr Geschichten vor dem Schlafengehen erzählt hatte.
Alayna war zufrieden. Es fühlte sich gut an.
Sie tastete weiter nach der Marmelade, sie konnte sie einfach nicht sehen und finden. Warum half ihr Paps nicht?
Auf einmal schlugen die Fenster zu und ein starker Wind kam auf, der die Fensterläden immer wieder abwechselnd gegen die Hüttenmauer und die Fenster schlagen ließ.
„Scheint heute zu stürmen und das so früh am Tag?“, murmelte ihr Vater, stand auf und ging hinaus.
Alayna sah ihrem Vater hinterher. Warum hatte sie nicht sein Gesicht gesehen?
Irgendwie bekam Alayna Bauchschmerzen. Aber nicht, weil sie Hunger hatte, sondern weil sie ein komisches Gefühl hatte. Sie hatte Angst.
„Paps, warte!“, rief sie ihm hinterher und stand vom Tisch auf, der nicht mehr so massiv wirkte wie vorher. Sie musste zunächst ihr Gleichgewicht finden, bevor sie loslaufen konnte. Sie schwankte durch die Küche, bis sie die Tür nach draußen erreichte.
Vor der Hütte angekommen ,sah sie sich erstmal um. Sie stand auf dem Hügel und konnte in der Ferne nur weite Wiesen erkennen. Der Wind wehte nicht und die Luft war trocken. Sie bekam schlecht Luft.
Unsicher über das, was gerade passierte, lief sie um die Hütte herum und suchte ihren Vater. Dabei stellte sie fest, dass nicht mal ihr Bruder oder geschweige ihre Mutter zu finden war. Nach einigen Runden war sie so müde, dass sie das Laufen aufgab. Sie setzte sich auf den Boden und wusste nicht, was sie tun sollte. War ihr Vater schon wieder in der Hütte? Sie stand wieder auf und kurz bevor sie ihre Hand auf den Türknauf legen wollte, schlug die Tür auf einmal auf und etwas hellblaues, transparentes kam ihr entgegen und fuhr durch sie hindurch. Dabei erschreckte sie sich so sehr, dass sie nach hinten auf den Boden fiel. So schnell sie konnte, richtete sie sich wieder auf und blickte in die Richtung, in die das transparente Etwas zu fliehen schien. Sie erkannte plötzlich ihren Vater, der diesem Etwas hinterherrannte.
„Paps!“, rief sie, doch ihr Vater hörte nicht. Alayna wollte losrennen um ihn zurückzuholen, doch ihre Beine waren so schwer, dass sie keinen Schritt mehr machen konnte.
„Paps, Paps!“, wiederholte Alayna ihre Rufe, doch sie wusste, dass er sie nicht hören würde…

„Paps!“, rief sie noch einmal auf, als sie aufwachte.
Sie richtete sich aus Schreck auf. Ihre Haare klebten in ihrem Gesicht. Sie schnaufte und versuchte ihre Atmung etwas zu normalisieren.
„Nur ein Traum…“, murmelte sie und sah sich um, als sie sich wieder beruhigt hatte.
Kioku schien fest zu schlafen wie ihr Bruder, der so oder so schon immer einen festen Schlaf gehabt hatte.
Sie holte noch einmal tief Luft und fuhr sich durch die Haare. Doch irgendetwas war komisch. Von draußen roch sie etwas Verbranntes. Also entschloss sie sich, aufzustehen und einmal nachzusehen. Sie torkelte zum Balkon und zog die Vorhänge beiseite und öffnete die Glastür.
Alayna konnte ihren Augen erst nicht trauen, als sie erkannte, wie das Haus von Gegenüber lichterloh in Flammen stand. Auf den Straßen liefen panisch einige Menschen in ihren Schlafanzügen umher und suchten Schutz. Einige dieser Leute waren schwarz gekleidete, gepanzerte Männer, die die Bewohner der Stadt durch die Straßen jagten.
„Was, was ist hier los!?“ Alayna war so geschockt, dass sie sich erst einmal nicht bewegen konnte.
Der Gestank des brennenden Hauses und der Häuser, die in der Ferne der Stadt ebenfalls brannten, lag schwer in der Nase. Die Hitze schlug Alayna unangenehm ins Gesicht. Das laute Flackern der Flammen wurde nur noch von dem Gröhlen der Männer in Schwarz und von dem Schreien und Flehen der Stadtbewohner übertönt. Es war ein schrecklicher Anblick.
Alayna wollte gerade wieder zurück ins Zimmer, um ihren Bruder und Kioku zu wecken, wurde jedoch aufgehalten. Vom Zimmer nebenan sprang ein bärtiger, muskulöser Mann auf ihren Balkon, hielt sie fest und stieß dabei die Glastür zu.
„Ah!“, schrie Alayna auf, „Lassen sie mich los!“
Sie versuchte sich mit allen Mitteln zu wehren, schlug zu und schrie so laut sie konnte. Doch es half nichts. Mit einem gezielten Schlag des Mannes in die Magengegend Alaynas, sackte sie in die Arme des Rüpels zusammen. Dieser warf sich Alayna über die Schulter und sprang zum nächsten Balkon, um dann auf das Dach des Hauses zu klettern. Dann sprang er von Dach zu Dach, bis man ihn nicht mehr sehen konnte.
Ein lautes Klopfen und Rufen an der Tür des Zimmers riss Kioku auf einmal aus dem Schlaf. Ungeduldig wie die Person vor der Tür war, brach sie die Tür auf und kam ins Zimmer herein.
Es war ein Mann, anscheinend der Hausmeister, der Kioku anblickte und ihr sagte, dass sie sofort das Gebäude verlassen sollte.
Kioku war geschockt und konnte mit der Situation zunächst nichts anfangen, bis sie dann die Wortbrocken, die ihr der Mann noch zuwarf, bevor er verschwand, zu einem sinnvollen Zusammenhang zusammensetzte.
„Die Stadt wird angegriffen!“, schoss es aus ihr heraus und sie blickte neben sich. Alayna war verschwunden. Gegenüber im Bett war aber noch Tak. Wo konnte Alayna nur sein?
Sie sprang auf und versuchte den Jungen aufzuwecken, was sich als schwerer herausstellte als sie vorerst gedacht hatte. Sie rüttelte an ihm, so fest sie konnte, bis er dann doch endlich aufwachte.
„Tak, pack sofort deine Sachen zusammen, die Stadt wird angegriffen und wir müssen deine Schwester finden!“, sprach Kioku.
Tak war damit total überfordert.
Kioku sprang zum Bad und bemerkte, dass Alayna dort nicht war. Sie warf schnell einen Blick in den Gang hinaus, auf dem die Menschen schon panisch ihre Räume verließen.
Schnell sprintete sie zurück, warf ihre Sachen alle in eine Tasche hinein und tat dasselbe auch mit Alaynas Sachen.
Tak versuchte sich in der Zwischenzeit anzuziehen, doch Kioku sah ihn verwundert an.
„Dafür ist jetzt keine Zeit, wir müssen sofort los!“, meinte sie und Tak schluckte erst schwer. Was war denn jetzt überhaupt los? Er raffte die Situation immer noch nicht ganz.
Genau in diesem Augenblick sprang jemand durch die Glastür des Balkones in den Raum. Die klirrenden Glasscherben flogen in jeder Richtung durch den Raum. Durch die Flammen des gegenüberliegenden Hauses schob sich die Hitze schlagartig in das Zimmer hinein.
Diesmal stand ein dicker Mann vor ihnen, dem der gepanzerte schwarze Mantel nicht ganz passte. Seine dicke, behaarte Wampe sah darunter hervor.
Geschockt hielt Tak in seiner Bewegung inne. Kioku, die schneller reagierte, als sie nachdachte, packte Tak und zerrte ihn hinter sich her. Sie versuchten das Zimmer so schnell es ging zu verlassen und von diesem Typen wegzukommen.
„Mist aber auch!“, rief sie und rannte so schnell sie konnte in den Gang.
„Warum werden wir angegriffen!?“, fragte Takeru, der sich keinen Reim darauf machen konnte, was gerade passierte.
„Ich weiß es nicht!“, antwortete Kioku und sah sicherheitshalber noch einmal hinter sich. Der fette Typ stand vor dem Raum und grinste. Dann brachte er sich in Position und rannte los.
Tak warf auch einen Blick nach hinten und entdeckte diesen Kerl, der mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit auf Kioku und ihn zu sprintete. Jedes Mal, wenn er mit seinen Stiefeln auf dem Boden aufkam, spürte man es beben.
„Verdammt, wieso ist der so schnell!?“, rief Tak, der aus Panik schon drei Schritte schneller machte.
„Ich hab keine Ahnung…“, murmelte Kioku und sah sich um. Irgendwo musste es doch eine gute Möglichkeit geben, ihn abzuhängen.
Der Gang war ziemlich lang und hatte kaum Abzweigungen. Weiter hinten entdeckte Kioku einen geöffneten Aufzugsschacht. Das war es!
„Hör zu, dort hinten ist ein Aufzugsschacht, ich hab eine Idee, wie wir diesen Kerl los werden, aber du musst mir vertrauen“, sprach sie so leise, dass nur Tak es verstehen konnte.
Nachdem sie ihm den Plan erzählt hatte, schluckte Tak erst einmal, aber tat so, als würde es ihm nichts ausmachen. Eigentlich hatte er Angst, wollte aber dennoch seinen Mut beweisen.
Der fette Kerl holte immer mehr ein. Auf der Höhe des leeren Aufzugsschachtes aber liefen Kioku und Tak etwas langsamer. Sie sahen noch einmal nach, ob die Entfernung zu dem Kerl stimmte und dann machten die Beiden einen Satz nach links, hinein in den leeren Schacht und hielten sich an den Seilen des Aufzuges fest. Der Schwung des Sprunges war so gut, dass sie sich an der, von der Tür gegenüberliegenden Wand mit den Füßen wieder abstoßen konnten. Mit vollem Karacho traten sie dem Fettwanzt, der nun vor dem Aufzug stand, ins Gesicht, sodass er zu Boden fiel.
„Super gemacht!“, freute sich Kioku, die noch einmal kräftig in den dicken Typen trat, damit er nicht wieder aufstand.
„Das… das hat echt Spaß gemacht!“, jubelte Tak. Er hatte vorher gar nicht gewusst, wie aufregend es war, gegen jemand anderes zu kämpfen.
Doch lange hielt die Freude nicht an. Aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, sprangen auf einmal noch mehr von diesen Manteltypen in den Gang und liefen auf die Beiden zu.
„Du weißt was das heißt?“, seufzte Kioku.
Tak schüttelte den Kopf.
„Wir rennen erst vor denen davon und dann suchen wir deine Schwester, die noch irgendwo sein muss! Wenn sie nicht hier ist, dann ist sie woanders in der Stadt“, meinte Kioku und griff dabei nach Taks Hand.
Sofort sprinteten sie los, bis sie die Treppe erreichten und hinunterliefen.


Kapitel 7 – In der Mangel

Der Nachthimmel war schwärzer als sonst. Die dicken Rauchschwaden über der Stadt und schienen diese zu erdrücken. Das Licht der Flammen, die aus den brennenden Häusern züngelten, erhellten die Stadt.
Takeru und Kioku versuchten gerade Alayna zu finden, die entführt worden war.
„Wir finden sie nie“, keuchte Takeru, als er sich an eine Laterne lehnte. „Die ganze Stadt ist in Panik, woher sollen wir denn wissen, wo Alayna steckt!?“
Er sah Kioku entsetzt an. Dann hustete er. Der Rauch in der Lunge kratzte unangenehm.
Kioku fuhr sich einmal durch die Haare und sah sich um, bevor sie antwortete.
„Sicher finden wir sie. Es wird ja nicht so schwer sein, eine Stadt nach ihr abzusuchen. Da wir aber auch nicht wissen, wo wir anfangen sollten zu suchen, sollten wir das ganze anders aufrollen…“
„Du meinst, sozusagen alles ausstreichen, was nicht wahrscheinlich ist?“, grübelte Takeru.
Er beruhigte seinen Atem. Er durfte jetzt nicht zu sehr in Stress verfallen, sonst würde er seine Schwester nie finden. Das wusste er.
„Genau. Es bleiben am Ende eigentlich nur wenige Orte, die für so etwas in Frage kämen“, erklärte Kioku weiterhin. Sie wusste, dass sich Alayna auf jeden Fall in der Nähe aufhalten musste.
„Verlassene Orte“, gab Takeru von sich und setzte sich kurz auf den Boden und lehnte sich an die Wand eines Hauses.
Ein Mann mit einem großen Sack auf dem Rücken rannte an beiden vorbei. Auf Kiokus Höhe blieb er kurz stehen, sah die Freunde an, schüttelte den Kopf und rannte weiter.
Hinter dem Haus waren Schreie von Frauen zu hören. Tak fiel es nicht einfach, diese zu ignorieren. Er biss sich auf die Lippe, bis unter dem Dreck darauf wieder die rote Haut zum Vorschein kam.
„Ja. Alte Mühlen, verlassene Villen, ungenutzte Lagerhallen… Wir sollten anfangen die Stadt danach durchzukämmen.“
„Klar“, gab Takeru nur von sich und stand wieder auf. „Dann mal los!“
„Dann los!“, meinte Kioku mit einem schwachen Lächeln der Hoffnung. Dann liefen sie weiter.
An einem anderen Ende der Stadt, wurde gerade eine große Tür aufgestoßen.
„Hier kommt sie herein“, brummte ein Mann mit tiefer Stimme. Er hielt einem anderen die Türe auf, der ein Mädchen in den Raum trug. Dann setzte er es auf einen Stuhl und fesselte es.
Das Mädchen war wach und wehrte sich, so gut es konnte, jedoch schaffte es nicht, sich zu befreien.
Dann klopfte der Mann ihr auf den Kopf.
„Wir kümmern uns später um dich…“, meinte er und ging mit dem zweiten Mann aus dem Raum. Von außen hörte man, wie ein Riegel vor die Tür geschoben wurde.
Das Mädchen streckte seine Zunge heraus um das Tuch, das um seinen Mund gewickelt war, irgendwie beiseite zu schieben. Mit etwas Technik schaffte es das auch und atmete erst einmal tief ein.
„Endlich atmen!“, keuchte es, als sie die Luft wieder ausstieß. „Aber es stinkt hier… Verdammt! Warum muss so etwas auch gerade mir passieren? Ob sie Tak und Kioku auch geholt haben?“
Es war Alayna. Sie sah sich besorgt im Raum um. Es war ein kleiner, aber hoher Raum, in dem eine Menge an Kisten gestapelt waren. Weit oben war ein kleines offenes Fenster zu sehen, von dem aus man die Flammen in der Ferne der Stadt erahnen konnte.
Es war dunkel.
„HILFE!“, schrie Alayna so laut sie konnte und wiederholte das einige Male, in der Hoffnung, dass sie von draußen jemand hörte.
Aber es half nichts. Nach etlichen Versuchen gab sie auf. Ihr Hals war trocken und es war unangenehm zu sprechen. Dann wurde ihre Zunge trockener und sie verspürte Durst.
„Kann man hier mal etwas zu trinken bekommen!?“, brüllte sie durch den Raum, „So behandelt man keine Geiseln!“
Niemand reagierte auf ihr Rufen.
„So ein Scheißdreck…“
Alayna wurde leiser und flüsterte nun mehr.
„Ob es Tak gut geht? Ich hoffe, ihm ist nichts passiert…“
Takeru und Kioku suchten währenddessen einige verlassene Orte in der Stadt ab. Doch je weiter sie kamen, desto mehr panische Menschen kamen ihnen entgegen. Sie flehten nach Hilfe und einige baten Kioku darum, mit ihrem Sohn doch auch zu fliehen. Abgesehen davon, dass Takeru nicht ihr Sohn war, schafften die Beiden es doch alle Leute zu ignorieren und sich durch die Masse zu kämpfen.
Einmal trafen sie fast auf einen der Verbrecher in schwarz. Jedoch konnten sie rechtzeitig in eine Gasse ausweichen und waren so vor einer Konfrontation geschützt.
Die Suche brachte nichts.
Erschöpft ließ sich Tak an einem Zaun in einer Nebenstraße nieder und verschnaufte für einen kurzen Moment.
„Es hat doch keinen Sinn, Kioku! Wir finden Alayna nie so…“, gab er von sich und sah bedrückt zu Boden.
„Gib doch nicht so leicht auf!“, wurde Kioku lauter und gestikulierte übertrieben, „Mit so einer Einstellung finden wir sie erst recht nicht!“
„Aber, was bleibt uns denn übrig?“, verteidigte sich Tak.
„Uns bleibt eben nichts übrig, als weiter zu suchen… Mensch Tak, ich versteh doch, wie du dich fühlst aber es nützt nichts. Komm, raff dich wieder auf und dann geht’s weiter, wir haben immer noch nicht die Lagerhallen am anderen Ende der Stadt durchgesucht…“
Tak sah langsam zu Kioku hoch, die versuchte ihn mit einem Lächeln zu überzeugen.
Dann gab Takeru einen kurzen Seufzer von sich und stand auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und so gingen sie wieder weiter.
„AHH!“, schrie Alayna, als ein dritter Mann in den Raum kam und ihr an den Haaren zog.
Der Typ hatte lauter Narben in seinem faltigen Gesicht. Der Bart war ungepflegt und so sahen auch seine ergrauenden Haare aus.
„Wo ist das Buch?“, fragte er zum wiederholten Male.
„Was für ein Buch!?“, hakte Alayna nach.
„Das Buch deines Vaters, wo ist es!?“, brüllte der Mann noch lauter.
„Ich weiß gar nicht, was Sie meinen!“, brüllte Alayna zurück und spuckte dem Typen dabei zwischen die Augen.
Daraufhin zog der Mann noch fester an ihren Haaren, worauf ein schmerzverzerrter Schrei durch den Raum hallte.
„Du bist doch die Tochter, von diesem Ginta!“
Alayna schluckte. Ja, sie war die Tochter von Ginta. Aber sie wusste, dass wenn sie das jetzt zugab, sie alle, eingeschlossen Takeru, richtig Probleme kriegen könnten. Also leugnete sie weiterhin.
„Ich weiß gar nicht, wer dieser Ginto ist, von dem Sie sprechen… Was ist das überhaupt für ein komischer Name? Ginto…“, log sie, in der Hoffnung, dass der Typ das nicht erkennen würde.
„Ginta, du Göre! Ginta!“, brüllte er und wurde dabei ganz rot.
„Von was reden Sie überhaupt?“, spielte Alayna und runzelte dabei übertrieben ihre Stirn.
Der Typ massierte seine Schläfen und fuhr dann über sein Gesicht. Seine Hände zogen die schlabbrige Haut seiner Backen nach unten und als er die Hand wieder absetzte, schlabberte die Haut wieder zu ihrer ursprünglichen Form zurück. Dabei bewegten sich die Narben eigenartig.
Neben dem starken Mundgeruch, den dieser Typ versprühte, als er sprach, empfand Alayna diesen Mistkerl als sehr eklig. Seine herausquellenden Augen, die Adern die auf seiner Stirn pochte, wenn er schrie, das alles war wirklich sehr abstoßend.
Dann fuhr dieser Kerl doch auch noch mit seiner rauen Hand über ihre Wange und hielt ihr Kinn fest. Sie schnappte nach seiner Hand und schaffte es, in seinen Daumen zu beißen. Sie drückte mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, zu.
Ein Schrei weckte die Neugierde eines Untergebenen, der die Tür öffnete um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei.
„Du Göre!“, brüllte der Mann, während er seinen Daumen in der anderen Hand hielt, damit der Schmerz abklang. „Du da, du hältst nun hier drin Wache…“
Der Untergebene nickte und setzte sich neben die Tür des Raumes und starrte Alayna an, die ihm die Zunge herausstreckte.
Der alte Mann verschwand und schloss die Tür wieder hinter sich.
„Puh, endlich ist der Arsch weg. Und wer bist du?“, sprach Alayna, doch der Untergebene antwortete nicht.
„Dann halt nicht“, murmelte Alayna und starrte zum Fenster hinauf.
‚Ob die Zwei schon unterwegs sind, um mich zu retten? Jetzt wäre es praktisch, wenn Ryoma kommen würde, um mir aus der Patsche zu helfen‘, dachte sie, ‚auch wenn er nicht gerade vertrauenswürdig war, denke ich, dass er mich befreit hätte. Was er gerade wohl macht? Sich sicherlich um seinen Dreck scheren… Na toll, da wird man hier komplett allein gelassen…‘
Alayna schwenkte ihren Blick wieder zurück zur Wache, die auf einmal sehr müde wirkte.
‚Das ist die perfekte Chance, ich kann mich sicherlich irgendwie befreien, sobald dieser Typ da eingeschlafen ist…‘, dachte sie nach und gähnte dabei, um die Wache irgendwie damit anzustecken.
‚Was die wohl von Paps wollen? Welches Buch meinen sie? Das Tagebuch, das Tak ständig mitschleppt? Ich wette, dass diese Leute mit Paps‘ Verschwinden zu tun haben, da bin ich mir sicher. Aber sie selbst suchen nach ihm? Oder nur das Buch? Oh man, ich würde zu gern wissen, was hier eigentlich abgeht…‘
Die weiteren Überlegungen halfen Alayna aber auch nicht, auf eine sinnvolle Antwort zu kommen. Als sie bemerkte, dass der Wächter eingeschlafen war, versuchte sie sich aus ihren Fesseln zu befreien, was sich als schwerer herausstellte, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie bewegte ihre Hände hin und her um irgendwie das Seil zu lockern. Doch es war wirklich nicht einfach.
„Ich hoffe, sie finden mich bald und holen mich hier heraus…“
Die Flammen der Stadt züngelten noch heißer und höher in den schwarzen Himmel. Takeru und Kioku, die immer noch auf der Suche nach Alayna waren, kamen ihrem Ziel, den Lagerhallen der Stadt, schon näher. Ob sie es schaffen könnten, Alayna zu befreien? Sie hoffte auf den Moment der Befreiung.