KKZ 2 – Kapitel 50 – 56

Kapitel 50 – Das Tagebuch – Teil 1
Kapitel 51 – Der Doppelagent
Kapitel 52 – Das Tagebuch – Teil 2
Kapitel 53 – Ein machtloses Band
Kapitel 54 – Das Tagebuch – Teil 3
Kapitel 55 – Die Opferung
Kapitel 56 – Die Hilfe der Schutztruppe

Kapitel 50 – Das Tagebuch Teil 1

Als sich Alayna durch die Felsspalte drückte, um ihrem Bruder zu folgen, wurde es ihr schnell sehr unangenehm. Die Luft in dieser Höhle war schlecht und irgendetwas roch nicht mehr ganz so frisch. Nicht wirklich zu wissen, wohin sie gingen, machte Alayna nicht nur Sorgen, sondern weckte eine merkwürdige Panik in ihr. Logischerweise konnten sie den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückgehen und dadurch sicher nach draußen zurückkehren, wenn der Sandsturm aufhörte, aber sie war sich gar nicht mehr so sicher, ob sie diesen Weg überhaupt noch finden würden.
„Hast du keine Angst, Tak?“, fragte sie ihren kleinen Bruder, der voranging. Als sie sprach, hörte sie ihre Stimme als dumpfes Echo widerhallen. Es war schwierig einzuschätzen, wie groß dieses Höhlensystem wirklich war.
„Ich habe richtig Schiss“, sagte Takeru ehrlich, was seine große Schwester erstaunte. So, wie er schnurstracks durch die Gänge lief, ohne zu zögern, machte er eigentlich einen anderen Eindruck auf sie.
„Ich hasse so enge Räume, wie hier. Ich habe das Gefühl, dass ich keine Luft bekomme.“
„Warum sagst du mir das nicht vorher?“, warf sie Takeru vor, ohne eine Antwort zu erwarten. „Wenn das so ist, sollten wir dann nicht lieber umkehren?“ Es beruhigte sie keineswegs, was er da sagte. Ganz im Gegenteil, es verunsicherte sie noch mehr.
„Weil ich es vorher noch nicht so wahrgenommen habe“, sagte er mutig, dennoch hörte sie in seiner Stimme ein Zittern. „Jetzt bekomme ich richtig Angst. Aber wenn ich es dir sage, habe ich das Gefühl, dass ich die Angst besiegen kann.“
Für einen Augenblick hatte Alayna das Gefühl, dass der Junge, der vor ihr ging, nicht mehr der Bruder war, mit dem sie diese Reise begonnen hatte. Takeru war so oft nervig und weinerlich gewesen. Aber nun? Nun sagte er so etwas und sie wusste nicht, woher diese Entwicklung kam. Für sich selbst hatte sie das Gefühl, dass sie seit einiger Zeit einfach stehengeblieben war. Wo entwickelte sie sich weiter? Wo war sie mutig? Oder war sie es schon längst gewesen? Diese Gedanken lenkten sie glücklicherweise etwas von der Angst ab, die sie in sich trug, als Takeru plötzlich stehenblieb.
„Das Licht wird stärker“, sagte er ruhig und sah sich um. Dann ging er weiter, drückte sich durch eine weitere Felsspalte und Alayna folgte ihm, ohne zu zögern.
Die Spalte war kalt und rau. Der Fels kratze an ihren Armen und Beinen und sie musste den Bauch einziehen, um schlank genug dafür zu sein, hindurchzukommen. Sie schätzte, dass die Spalte etwa fünf Meter lang sein musste, denn es dauerte etwas, bis sie es hindurch schaffte. Auf der anderen Seite angekommen, entdeckte sie, dass ihr Bruder in der Mitte eines kleinen Raumes stand. Vor ihm auf dem Boden lag eine offene Tasche, aus der verschiedene Bücher herausragten. Eines der Bücher, mit einem blauen, gemusterten Einband hatte Takeru in der Hand und hielt den Kompass ganz nah daran.
„Was ist das für ein Zeug?“, wunderte sich Alayna, als sie näherkam. „Woher kommt das?“
„Ich weiß nicht, wem das gehört“, antwortete Takeru schnell und blätterte zum Anfang des Buches. „Alayna, das ist das Tagebuch! Schau! Es stehen ganz viele Sachen darin!“
Beide setzten sich. Keins der Geschwister wollte die Tasche durchsuchen, um herauszufinden, wem sie gehörte. Ihre Blicke waren auf die Einträge im Buch fixiert, das nun von vorne bis hinten beschrieben war. In einer zarten Handschrift befanden sich nun etliche Tagebucheinträge darin.
Dann fing Takeru, im schwachen Schein des Lichts, das der Kompass ausstrahlte, die Einträge vorzulesen:

Eintrag 1
Dies soll mein Tagebuch werden.

Um zu verstehen, in welcher Situation ich gerade stecke, um mich irgendwann einmal daran erinnern zu können – so meint Gaara – soll ich alles aufschreiben, was ich erlebe und an das ich denke. Dies werde ich nun tun.

Ich bin auf den Namen Shiana Aroya getauft worden und er bedeutet in einer sehr alten, fast vergessenen Sprache „Licht“. Gaara hat mir erzählt, dass er und ein Freund mich so getauft haben. Woher ich komme und wer ich einmal gewesen bin, weiß keiner. Es scheint, als wäre ich plötzlich einfach da gewesen. Ich habe auch keine Erinnerungen an ein anderes Leben als dieses. Jedoch fühlt es sich nicht so an, als würde ein Teil von mir fehlen, als wäre ich kein ganzer Mensch. Es fühlt sich einfach so an, wie es sich anfühlt. Ich muss gestehen, dass es eigentlich nur Gaara ist, der darüber redet, herausfinden zu wollen, wer ich bin. Er hat einmal gemeint, dass ich ihm wohl sehr bekannt vorkomme. Mir kommt hingegen gar nichts bekannt vor.

Gerade sitze ich in einem Zimmer in einem alten Schloss, das ich nicht allein verlassen darf. Aus meinem kleinen Fenster kann ich den blauen Himmel sehen. Ich sehe auch die Stadt, die sich um das Schloss als Zentrum herum aufbaut. Die Stadt ist riesig und dort, wo sich Himmel und Erde berühren, sehe ich eine kahle Landschaft. Einmal am Tag bringt mir Uzryuuk etwas zu essen und zu trinken. Ich weiß nicht viel über sie, aber sie scheint nett zu sein. Neben Gaara, der mich regelmäßig durch das Fenster besuchen kommt, gibt es da noch einen anderen jungen Mann namens Miraa. Gaara hat mir erklärt, dass sie Freunde sind. Miraa ist ebenfalls sehr nett und wenn er mich besucht, führt er mich meistens in einen anderen Raum, der voller merkwürdiger Geräte und Bücher ist. Miraa hat mir erklärt, dass man mich oft untersuchen muss. Das würde helfen, mich zu erinnern, wer ich bin, hat er erklärt. Wenn das passiert, bekomme ich eigentlich nicht viel mit. Aber das scheint wohl in Ordnung zu sein.

Ich höre, wie jemand – wahrscheinlich Gaara – die Holzleiter hochkommt. Ich schreibe morgen weiter.

Eintrag 2
Heute schreibe ich etwas über das Lernen. Miraa hat mir vor einer Weile schon das Schreiben und Lesen beigebracht und ab und an darf ich alte Schriften lesen. Ich kann nun auch rechnen und wenn Miraa mich zu den Untersuchungen führt, mache ich einige sportliche Übungen. Mit Uzryuuk rede ich viel über die Dinge, die ich träume. Aber am meisten lerne ich von Gaara.

Wenn er mich besucht, erzählt er mir von der Welt. Ich lerne, wie sie aussieht, dass es viele verschiedene Nationen, Länder und Kontinente gibt. Es gibt wohl Länder, in denen die Menschen ganz anders sprechen, essen und aussehen wie die Menschen in diesem Land. Gaara erzählt mir von Dingen wie Freundschaft, Liebe und Mut, von Abenteuern, Gefahren und auch Langeweile. Er spricht über das Land und dass wir uns im Krieg befinden. Als ich gefragt habe, was Krieg bedeutet, hat er innegehalten und in die Ferne gesehen.

Krieg sei etwas Schreckliches, hat er ganz leise gesprochen.

Ich habe die Trauer in seinen Augen gesehen und habe es gespürt. Ich habe gespürt, was er damit meint. Augenblicklich bin ich vom Fenster weggetreten und mir ist kalt geworden. Danach hat er sich wieder mir zugewandt und hat mir erklärt, dass er zwar in der königlichen Armee ist, jedoch alles dafür tun würde, dass diese schreckliche Zeit des Krieges ein jähes Ende findet.

So habe ich gelernt, dass die Welt nicht nur aus schönen Dingen besteht.

Bald darauf habe ich gelernt, was Sehnsucht ist. Ich vermisse die Dinge, von denen mir Gaara so leidenschaftlich erzählt und die ich eigentlich nicht vermissen kann. Von den Sachen, die er mir erzählt, die er erlebt und von denen wahre Erfahrungen stammen, kann ich lediglich träumen. Ich kann nicht auf einer Wiese liegen und den Duft von Frühlingsblumen riechen. Ich kann nicht durch die Straßen rennen und alle Leute grüßen. Ich habe mein Zimmer und meine Besuche und mehr aber auch nicht. Aber Miraa sagt mir immer, dass dies in Ordnung sei. Denn es gibt viele Menschen, die kein Zimmer haben, denen nicht täglich etwas zu essen gebracht wird und die nicht untersucht werden. Es gibt auch viele Menschen, die nicht lesen, schreiben und lernen können. Ich solle dies wertschätzen, meint er immer zu mir.

Ich stelle mir jedoch die Frage, was ist das für eine Welt, über die ich so viel lerne?

Eintrag 3
Es sind wieder einige Tage vergangen, die genauso gewesen sind wie die Tage zuvor. Meine Sehnsucht auf etwas Neues wächst und wächst. Am gestrigen Morgen, als ich aufgewacht bin, habe ich einen unglaublichen Traum von einem Jungen in einem Schloss gehabt. Ich habe das Gefühl gehabt, dass er nach mir sucht. Er hat zwar Ähnlichkeiten mit Gaara, ähnliche weiße Haare, jedoch hat seine Kleidung ganz anders ausgesehen. Bevor ich im Traum mit ihm sprechen konnte, bin ich aufgewacht. Ich habe geweint, weil ich so traurig gewesen bin. Zuvor habe ich noch nie deshalb geweint. Diese merkwürdige Fremde, die dieser Traum erweckt hat, hat sich nicht schlecht angefühlt. Ganz im Gegenteil; es hat Gefühle in mir geweckt, die ich schwer beschreiben kann. Bisher ist der einzige Grund für Tränen der gewesen, dass Gaara mich zum Lachen gebracht hat. Diese Traurigkeit legt sich auf meinen Alltag wie ein schweres, mich erstickendes Tuch. Ich fühle mich antriebslos. Gaara hat mich nun zwei Tage in Folge nicht besucht. Irgendetwas Merkwürdiges muss passiert sein.

Eintrag 4
Als mir heute Morgen Uzyruuk wie immer das Essen gebracht hat, habe ich ihr von meinem Traum erzählt. Während ich die einzelnen Sätze zögerlich über meine Lippen gebracht habe, habe ich bereits sehen können, wie sich ihre Miene verdunkelt hat und ihre Augen einen traurigen Ausdruck angenommen haben. Dennoch habe ich mich nicht getraut, sie darauf anzusprechen. All unsere Gespräche finden stets in einem kleinen und runden Raum statt, der mit Stofftüchern aus unterschiedlichsten Mustern und Farben geschmückt ist. Manchmal sitzt eine dritte Person mit uns an dem kleinen, runden Holztisch, die jedoch nie etwas sagt und auf mich einen sehr strengen Anschein macht. Die Falten des Mannes sind tief und er hat kleine Narben im Gesicht und an seinen Händen.

Ich habe es in ihren Augen gesehen, dass sie nicht glücklich gewesen ist, als ich ihr das erzählt habe. Genauer genommen hat sie etwas nervös gewirkt und die andere Person hat gegrinst. Obwohl der Raum so schön dekoriert gewesen ist und ich mich darin immer wohl fühle, ist mir plötzlich ganz kalt geworden und ein Unwohlsein ist durch meinen Körper gekrochen. Habe ich etwas falsch gemacht? Dann bin ich kurz darauf von Miraa abgeholt worden, der mit mir die doppelte Anzahl an Untersuchungen durchgeführt hat wie sonst.

Von den Anstrengungen bin ich so müde, dass dies alles ist, was ich heute schreibe.

Eintrag 5
Ich zittere. Gaara ist bis vor einem Augenblick noch hier gewesen und ich finde es unfassbar, was gerade geschehen ist. Als ich das Klacken der Holzleiter an meinem Fenster gehört habe, bin ich so glücklich gewesen, ihn zu sehen. Die letzten Tage bin ich schon etwas verzweifelt darüber gewesen, ob er überhaupt noch einmal zu Besuch kommen würde. Ich habe ihn willkommen geheißen, jedoch hat er keinen so fröhlichen Eindruck gemacht wie sonst. Ich habe Verzweiflung und Nervosität in seinen Augen gesehen. Er hat eine Tasche dabei gehabt und einige Pergamentblätter hervorgekramt, die er zu einem Buch voller Notizen zusammengenäht hatte. Er hat sie mir in die Hand gedrückt.

Er hat mich in einem sonderbaren Ton gebeten, diese Blätter zu verstecken, als würde er verfolgt werden. Er hat gesagt, dass er diese Blätter nicht dorthin mitnehmen kann, wo er nun hingehen muss. Ich habe nicht verstanden, was Gaara damit gemeint hat. Ich habe ihn gefragt, was passiert ist.
Gaara hat gesagt, ich solle gut zuhören und hat es dabei nicht geschafft, mir direkt in die Augen zu blicken, wie er es sonst immer tut. Dafür ist er in meinem Raum ständig auf und ab gelaufen. Nervös hat er mir erklärt, dass er eingezogen wird und für eine Weile an der Front kämpfen muss. Die feindlichen Truppen sind viel zu weit nach vorn gestoßen und das Königreich wird nun mehr Soldaten an die Front schicken. Es ist ein schreckliches Massaker und Gaara muss dafür sorgen, dass die Brüder, Söhne und Väter seines Volkes nicht sinnlos sterben. Verzweifelt hat er beschrieben, was für ein sinnloser Krieg gerade herrscht und dass so viel Blut vergossen wird.
Gaaras Anspannung ist auch auf mich übergegangen und zitternd habe ich das Buch hochgehalten und gefragt, was ich damit anfangen solle.
Als er seine Hand in seinen Nacken gelegt hat, hat er einen Verdacht ausgesprochen und dabei in die Leere gestarrt. Er hat mir befohlen, mein Tagebuch und seine Notizen versteckt zu halten, denn er würde etwas Schlimmes befürchten. Gaara hat meine Hände fest in seinen gehalten, während er diesen Wunsch geäußert hat. Seine Hände sind stark und kalt. Dennoch habe ich ihn in diesem Moment gefühlt und es ist gut gewesen. Obwohl ich gerade immer noch Angst habe, bin ich bei Gaara sicher; das weiß ich. Ich befürchte jedoch, dass diese Sicherheit bald ein Ende hat. Zum Abschied hat er mir in die Augen gesehen und irgendwie habe ich gespürt, dass er mir „Auf Wiedersehen“ hat sagen wollen, es jedoch nicht gekonnt hat.

Was hat das zu bedeuten?

Eintrag 6
Es sind drei Tage seit Gaaras Verschwinden vergangen. Nun werde ich dreimal täglich von Miraa in den Untersuchungsraum geführt. Die Untersuchungen werden immer anstrengender, weswegen man meine Nahrungsration erhöht hat. Uzryuuk meditiert nun mit mir nach und vor jeder Untersuchung und ich habe das Gefühl, dass ich gar nicht mehr dazu komme, in mein Tagebuch zu schreiben. Bisher weiß keiner davon, dass ich diese Bücher besitze.

Eintrag 7
Ich bin müde. Die Einsamkeit verzehrt meine Freude. Keine Spur oder Antwort von Gaara. Ich mag gerade einfach nichts mehr.

Eintrag 8
Ich verliere mein Gefühl für die Zeit. Ganz verschwommen habe ich Unterhaltungen im Nebenraum gehört, als mich Miraa untersucht hat. Sie waren jedoch so dumpf, dass ich sie kaum klar hören konnte. Beim Versuch sie besser zu verstehen, wurde ich abgelenkt, worauf mich Miraa auf meine Konzentration hingewiesen hat. Allgemein hat er weniger mit mir gesprochen. Was ist nur los?

Eintrag 9
Heute ist etwas Merkwürdiges passiert. Seit langem hat es keine Untersuchungen mehr für mich gegeben und auch keine Meditation mit Uzryuuk. Miraa hat mich zwar wie gewohnt abgeholt, jedoch hat er mich nicht in den Untersuchungsraum gebracht. Er hat sehr müde und überarbeitet gewirkt. Jedoch ist er auf die Frage, wie es ihm geht, nicht eingegangen. Er hat mir eine Augenbinde angelegt, was mich zunächst verunsichert hat, aber ich habe ihm vertraut, dass mir keinen Schaden zufügen würde. Als er mir die Augenbinde wieder abgenommen hat, habe ich in einem verspiegelten Raum mit zwei weiteren Personen gesessen.

Ein junger Mann mit pinken Haaren hat mir gegenüber gesessen. Er hat die gleichen Klamotten wie ich getragen. Zu meiner Rechten hat ein anderer junger Mann gesessen, der eine leicht sonnengebräunte Hautfarbe gehabt hat. Er hat grüne Haare gehabt. Beide haben besondere Augen gehabt, die mich eindringlich beobachtet haben. Wir haben nicht gesprochen. Keiner hat gesprochen. Ich weiß nicht, warum das passiert ist.  Dennoch haben unsere Augen Informationen ausgetauscht. Die beiden jungen Männer haben etwas gewusst, das ich nicht weiß. Haben sie nichts gesagt aus dem gleichen Grund, wie ich? Sind wir eigentlich Verbündete, wissen es aber noch nicht?

Nach einer Weile hat mir Miraa wieder die Augenbinde aufgesetzt und hat mich zurück in mein Zimmer geführt. Warum habe ich die anderen nicht angesprochen?

Eintrag 10
Uzryuuk hat mich heute abgeholt. Sie hat mich in den gleichen verspiegelten Raum geführt, wie am gestrigen Tag, das habe ich bemerkt. Obwohl mir die Augenbinde diesmal nicht abgenommen worden ist, habe ich gespürt, dass die zwei Männer von gestern auch anwesend gewesen sind. Ich habe den Versuch gestartet und habe sie begrüßt. Jedoch hat mich Uzryuuk unterbrochen und Stille gefordert. Der Ton, in dem sie es mir befohlen hat, klang harsch und unfreundlich. Wegen des Schocks habe ich nicht mehr gesprochen. Sie hat mit uns meditiert; es sind ähnliche Übungen gewesen wie sonst in den Sitzungen, die ich mit ihr allein gehabt habe. Nach einer Weile hat sie mich in mein Zimmer gebracht.

Eintrag 11
Der Prozess der Gruppenmeditation hat sich nun fast eine Woche lang wiederholt. Uzryuuk hat einen glücklichen Eindruck auf mich gemacht, so gut kenne ich sie schon. Jedoch hat sie diese Gefühle mit etwas oberflächlichen Getue zu überspielen versucht. Ich weiß nicht mehr, was um mich herum passiert. Der Antrieb, sich für die Meditation anzustrengen, fehlt. Von Gaara fehlt weiterhin jede Spur.

Alayna und Tak starrten sich gegenseitig an.
„Merkst du den Unterschied zu den anderen Einträgen, Alayna?“, fragte Takeru neugierig und wies somit auf den auffälligen Unterschied.
„Sie hängen alle zusammen, richtig?“, vermutete seine Schwester. „Sollen wir nicht lieber herausfinden, wem diese Tasche gehört und warum das Buch hier ist?“
Sie dachte dabei daran, dass Anon meinte, er hätte es einem Freund gegeben, der sich darum kümmert. Also konnte ihnen nichts geschehen, weil ein Freund Anons hier in der Nähe war?
„Schau, es geht noch weiter! Lass uns noch weiterlesen, bevor die Einträge wieder verschwinden“, schlug Takeru neugierig vor und ohne auf die Reaktion seiner Schwester zu warten, las er weiter.

 

Kapitel 51 – Der Doppelagent

„Ich habe überall im Hotel nach ihnen gesucht, aber sie waren nirgends!“, erklärte Sora aufgebracht, als Kioku und Eimi, Anon, Oto und auch Ryoma die Treppe herunterstürzten, um Genaueres zu erfahren.
Während Oto sofort zu ihrer Freundin Sora ging, sie kurz in den Arm nahm, um sie zu beruhigen, sahen sich Kioku und Eimi besorgt an. Als sich ihr Blick traf, wussten beide, dass sie zu langsam gehandelt hatten, Matra noch einmal aufzusuchen. Takerus Drang, seinen Vater zu finden, war wohl so stark, dass sie sich bestimmt auf eigene Faust aufgemacht hatten, etwas ohne die Hilfe Matras über ihren Vater herauszufinden. Vielleicht hätten sie vorher doch gemeinsam mit Takeru Matra überreden sollen, ihnen die Informationen zu geben, die Takeru über seinen Vater haben wollte. Aber wo waren die beiden hingegangen, um nach Hinweisen über ihren Vater zu suchen?
„Mir reicht es!“, brüllte Ryoma plötzlich und packte Eimi an der Schulter, während er ihn dabei an die Wand presste. „Ihr hattet einen Job zu erledigen!“
Eimi griff nach Ryomas Arm, um sich irgendwie zu verteidigen, bemerkte dabei erneut, wie stark Ryoma eigentlich war. Dabei verzerrte sich Ryomas Gesicht vor Wut und Eimi hatte für diesen Moment wirklich Angst. Er hatte nicht etwa Angst vor Ryoma und seiner Stärke, es war diese merkwürdige Spiegelung in Ryomas Augen, in der er sich selbst sah und die ihm verriet, dass er es nicht geschafft hatte, seine Freunde zu beschützen. Hatte jemand nicht gerade erwähnt, dass ein Sandsturm wütete? Es war zwar wahrscheinlich, dass Alayna und Takeru rechtzeitig in einem Gebäude Schutz gesucht hatten – abgesehen davon, dass die Stadt sowieso durch ihre Stadtmauern vor Sandstürmen größtenteils geschützt war – aber ihm beschlich dennoch ein ganz merkwürdiges Gefühl. Es war ein feines, zwickendes Kribbeln in seiner Magengegend, das ihn daran zweifeln ließ, dass Alayna und Takeru in Sicherheit waren. Irgendetwas war sicherlich passiert und Ryoma hatte recht.
Dann passierte alles ganz schnell. Kioku sprach davon, dass es nicht Eimis, sondern ihre Schuld war, genau in dem Moment, als Ryoma mit seinem Arm ausholte und Eimi wahrscheinlich eine verpassen wollte. Dabei sah er Kioku nicht von hinten kommen und hätte sie fast geschlagen, wäre Anons Reaktion nicht schneller gewesen. Er streckte seinen Arm nach vorne und eines seiner Bänder wickelte sich um Ryomas Arm, sodass er niemanden schlagen konnte, wodurch sich Kioku so erschreckte, dass sie zurücktaumelte und dabei ihr Gleichgewicht verlor. Ein weiteres Band Anons schnellte nach vorn und umwickelte ihre Hüfte, sodass sie nicht stürzte. Ryoma war von Anons Reaktion etwas überrascht, weswegen sich sein Griff löste und Eimi sich befreien konnte. Bevor auch nur einer von ihnen etwas sagen konnte, mischte sich Oto ein, holte mit ihrem Arm etwas aus und verpasste Ryoma eine Ohrfeige, die so laut klatschte, dass man das Echo dessen noch ein paar Sekunden danach hören konnte.
„Genug jetzt!“, forderte sie, stellte sich in die Mitte und streckte ihre Arme drohend aus, während sich Ryoma die schmerzende Wange hielt. „Ich erkenne dich gar nicht wieder, Ryoma! Auf diesem Weg kommen wir einfach nicht weiter, das weißt du genau. Wir sollten uns nun auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Wenn dort draußen der Sturm wütet, werden die zwei sicherlich irgendwo Schutz gesucht haben. Weit können sie nicht gekommen sein. Anstatt nun in wilde Panik zu verfallen, teilen wir uns halt einfach auf, die zwei zu suchen. Sora und ich suchen einen Teil der Stadt ab und ihr werdet auch losgehen und sie suchen. Ich werde auch das Personal des Hotels bitten, uns Bescheid zu geben, falls sie wieder auftauchen sollten.“
Oto wirkte dabei so stark und bestimmt, dass die anderen zunächst nichts darauf erwiderten. Irgendwie hatte sie recht damit, dass man sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren sollte, dachte sich Eimi. Er wusste zwar, dass er lieber bei Alayna und Takeru hätte bleiben sollen, jedoch war die Situation nun nicht mehr zu ändern. Er wollte, wie Oto vorgeschlagen hatte, sie einfach suchen gehen.
Als dann Sora und Oto gerade gehen wollten, sagte Ryoma: „Was meinst du damit, dass es deine Schuld sei?“
Damit meinte er Kioku, die sich gerade bei Anon bedankte, sie aufgefangen zu haben. Anon hatte mittlerweile seine Bänder wieder eingezogen. Als dann alle zu Kioku schauten, blickte sie selbst kurz zu Anon, der den Kopf schüttelte.
„Ich habe euch belauscht“, erklärte sie den anderen. „Damals, als ihr euch in Otos Praxis getroffen habt und alles besprochen habt. Ich habe Takeru davon erzählt, dass Matra hier seinen Vater gesehen hat.“
Ryomas Gesichtsausdruck wurde wieder sehr ernst, diesmal hielt er sich mit seinen Emotionen jedoch zurück, also sprach Kioku weiter. „Ich musste es ihm sagen. Es hätte sonst sein Herz gebrochen.“
„Weiß er auch, dass Matra sich getäuscht hat? Dass das, was gesehen wurde, etwas ganz anderes war?“, sagte Ryoma kühl und wandte sich ab, als hätte er nichts mehr zu sagen und müsste die Fehler, die begangen worden waren, sich selbst bestätigen lassen. „Ginta ist nicht hier.“
Ryoma ging zur Treppe, um zurück zum Verhandlungsraum zu gehen, blieb aber noch für einen kurzen Moment auf der ersten Stufe stehen. „Viel Glück bei der Suche. Tut mir nur einen Gefallen, ja? Geht uns einfach aus dem Weg. Ich kann mich nicht um euch auch noch kümmern.“
Dann, ohne dass jemand etwas dazu sagte, ging er zurück zum Verhandlungsraum. Oto und Sora gingen los und schenkten den Freunden dabei noch einen Blick, als sollten sie sich über das Gesagte keine Gedanken machen. Eimi und Kioku blieben noch für einen Augenblick mit Anon allein im Foyer.
„Es ist nicht deine Schuld“, sagte Anon mit einer sanften Stimme, die Eimi so bisher noch nicht gehört hatte. Er legte dabei eine Hand auf Kiokus Schulter. Sie sah dabei so aus, als müsste sie in jedem Augenblick weinen. Dabei wurde sie etwas rot im Gesicht. Für einen winzigen Moment fühlte sich Eimi total fehl am Platz. Er war sich nicht sicher, ob er sich diese besondere Verbindung nur einbildete, die er gerade zwischen Kioku und Anon sah oder ob dies einzig und allein der besonderen Situation geschuldet war.
„Ich hätte mir einen besseren Plan ausdenken sollen“, warf sich Anon vor. „Du kennst Takeru besser als ich, darum hätte ich mich gleich von vorneherein anders um ihn kümmern sollen.“
Kioku rieb sich die die Schultern, als würde sie die Situation damit einfach loswerden können. Dabei antwortete sie nichts auf Anons Worte und sah anschließend Eimi an.
„Dann gehen wir sie wohl suchen“, sagte sie mit einem anschließenden Seufzer, nachdem die eingekehrte Stille unangenehm wurde. Eimi konnte in letzter Zeit Kioku gut einschätzen, war nun aber verwundert davon, wie leicht sie die Worte Ryomas wohl doch nicht so an sich heranließ, wie er selbst es tat. Vielleicht hatte es einfach damit zu tun, dass Anon da war und sie versuchte, sich selbst zu beruhigen. Vielleicht war jetzt aber wirklich nicht die Zeit dafür, alles auszudiskutieren, wer an was schuld war.
In diesem Moment ging die Tür am Ende der Treppe zum Verhandlungsraum auf und Tsuru trat heraus, diesmal ohne Kûosa. Sie lief die Treppe hinab und ging schnurstracks auf Eimi zu.
„Ryoma war gerade ziemlich sauer, was ist los?“, war das erste, was Tsuru zu ihm sagte. Nachdem Eimi ihr erklärt hatte, was gerade passiert war, wirkte sie wenig überrascht. „Na dann, gehen wir sie suchen, oder?“
Sie nickte motiviert Kioku und Anon zu.
„Wie wäre es, wenn wir uns aufteilen? Dann können wir die Stadt schneller absuchen“, schlug Anon vor. „Kioku und ich gehen einfach den Osten der Stadt ab, ihr könnt ja den Bereich um das Hotel und den Westen absuchen? Passt aber bitte auf euch auf; obwohl die Stadt so gut geschützt ist, herrscht dort draußen trotzdem ein Sandsturm. Vielleicht solltet ihr euren Kopf schützen.“
„Geht klar“, sagte Eimi und nickte Kioku zu, die sich schon ihre Kapuze aufgesetzt hatte. Einmal wieder trennten sich die Wege der Freunde. Ein Glück, dass Tsuru an Eimis Seite blieb.

Nach einer Weile, als Eimi und Tsuru den Bereich des Hotels abgesucht hatten, vergrößerten sie ihren Radius. Immer wieder klopften sie an den Türen der Bewohner, um nach ihren Freunden zu fragen. Aber bisher schien niemand die beiden gesehen zu haben, deswegen machten sie sich auf, die nächsten Straßen abzusuchen.
„Du bist so ruhig“, sprach Tsuru Eimi an.
In diesem Augenblick spürte er, dass sie damit auf die Situation mit seinen Freunden und Ryoma anspielte. Sie brauchte nicht danach zu fragen, es war offensichtlich. Und was sollte er sagen? Er hätte besser auf Takeru hören sollen, um ihm zu helfen. Er hatte es schon einmal versucht und mit angesehen, was aus ihm wurde. Dieses Bild von Takeru, wie er in einer finsteren Druckwelle explodierte, verpasste ihm immer wieder eine Gänsehaut. Eimi hätte besser darauf vorbereitet sein sollen, dass Takeru so impulsiv war, dass es mittlerweile unberechenbar war, was er als nächstes tat. Als er Tsurus besorgten Blick erwiderte, erinnerte er sich an all die Sachen, die in letzter Zeit passiert waren. Nur konnte er diesmal die Erinnerungen aus einer etwas entfernteren Position betrachtet. Die harschen Worte Ryomas zwangen ihn nun, alles von außen zu betrachten. Die Ereignisse im Labor hätten viel schlimmer ausgehen können und als er danach entschieden hatte, mit Takeru und Ea loszuziehen, hätte alles ebenfalls einen anderen Lauf nehmen können. Dass Ea mit Laan verschwand, hatte er nicht wirklich unter Kontrolle gehabt, genauso wenig die Situation in Yofu-Shiti. Nur durch die Hilfe der Vastus Antishal – deren Vorgehen Eimi immer noch nicht wirklich billigte – und Ryoma hatten Alayna und Kioku vor größeren Gefahren beschützt werden können. Passierte das alles, damit ein Mann gefunden wurde, den Eimi selbst noch nicht einmal kannte? Für einen Vater, der seine Kinder in einer solch gefährlichen Welt zurückgelassen hatte? Ihm gefielen diese Zweifel nicht.
Es schien, dass Tsuru seine Gedanken hören konnte.
„Du weißt, dass Ryoma nur so hart ist, weil Ginta sein bester Freund ist. Die beiden haben Sachen zusammen erlebt, die einen mehr als zusammenschweißen. Sie haben die Welt gerettet. Sie haben mich gerettet. Jetzt, nachdem Ginta verschwunden ist, bürdet er sich alles auf, was nur geht. Ich erinnere mich an ein sehr frühes Gespräch mit ihm und Sayoko, als er sich selbst vorwarf, Takeru und Alayna nicht begleitet zu haben. Er hatte die Hoffnung, dass sie sich irgendwie aus allem raushalten würden. Da hat er sich echt getäuscht.“ Sie machte eine kurze Pause und zog sich die Kapuze ihrer Jacke noch etwas tiefer ins Gesicht, als der sandige Wind etwas stärker zu werden schien. Das dumpfe Sonnenlicht wurde immer schwächer, je später es wurde.
„Aber ich kann das gut verstehen. Würden Sayoko oder Aisah verschwinden, würde ich genauso ausrasten; die beiden bedeuten mir mehr als meine leiblichen Eltern.“
Das war etwas, das Eimi sehr gut verstand. Wenn es um Familie und Freunde ging, konnte er all die Meinungen von allen immer sehr gut nachvollziehen. Dennoch hatte er darin versagt, bei Takeru zu bleiben, so, wie er es sich eigentlich vorgenommen hatte. Wieder hatte er das Bild im Kopf, wie Takeru in einer gewaltigen Energiewelle explodierte.  
„Es sind nur diese Vorwürfe, die ich mir mache, dass ich die beiden nicht gut genug beschütze“, sagte Eimi ganz offen und ehrlich. „Ryoma hatte recht, ich habe meinen Job nicht richtig gemacht.“
„Diese Vorwürfe machen wir uns alle. Die macht sich Ryoma, genauso wie ich und Sayoko. Aber jeder ist auch für sich selbst verantwortlich. Vielleicht ist es gar nicht deine Bestimmung, an der Seite von Takeru und Alayna zu bleiben, um sie zu beschützen. Es ist doch auch gut möglich, dass du ihnen hilfst, indem du woanders bist und etwas anderes tust.“
Eimi sah sie verwundert an. Er brauchte noch einen Moment, um wirklich zu verstehen, was sie damit sagen wollte.
„Das ist das, was Sayoko Ryoma gesagt hat, damals bei diesem Gespräch. Irgendwie glaube ich auch an diese Worte. Es macht auch total Sinn. Wir waren damals acht Freunde um Ginta. Heute hat jeder von uns einen eigenen Weg gefunden, die Suche nach ihm zu unterstützen. Jetzt wird es einfach Zeit, dass du auch deinen Weg findest, Einfluss auf all das zu nehmen. Das ist doch das, was du willst?“
„Ja, ich will etwas beitragen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass das, was ich tue, einem größeren Zweck dient. Das ist kein Vergleich zu meiner Arbeit im Kinderheim … und ich will das mit dem Heim keinesfalls schlecht reden, aber das hier ist eine ganz andere Sache.“
„Außerdem“, sagte Tsuru kichernd und gab Eimi einen sanften Stoß an die Schulter, „bist du verliebt, nicht wahr?“
Eimi wusste gar nicht, was er darauf antworten sollte, weil er sich mit diesem Gedanken noch gar nicht auseinandergesetzt hatte, konnte aber auch nicht darauf antworten, weil Tsuru weiter sprach: „Ich bin es auch, Eimi. Verrückt, was man alles tut, wenn man verliebt ist, nicht? Dabei ist es egal, ob es Liebe zwischen zwei Personen ist oder zwischen einem Kind und seinem Vater. Ich denke, es wird Zeit, dass du selbst herausfindest, was deine Aufgabe ist und dir nicht ständig von Ryoma vorschreiben lässt, was zu tun ist. Ebenfalls kannst du Ryoma nicht vorschreiben, was zu tun ist.“
„Warum arbeitet er mit Toni zusammen?“, lenkte Eimi das Thema schnell in eine andere Richtung. Er wäre verliebt? Mit diesem Gedanken hatte er sich noch nicht auseinandergesetzt. „Für die Sachen, die Toni angestellt hat, müsste er eine gerechte Strafe durch die Schutztruppe bekommen. Ich bin nicht einverstanden, dass Ryoma seinen Willen durchsetzt.“
„Der Rat hat entschieden“, bestätigte Tsuru. „Persönliche Meinungen sind manchmal nicht so wichtig, wenn es um das Wohl von etwas Größerem geht. Mach dir keine Gedanken, Ryoma bekommt das schon hin.“
Gerade, als sie das sagte, bogen beide an einer Häuserecke auf einen kleinen Platz ein. Eimi blieb keine Zeit, auf die Worte Tsurus zu antworten, da reagierte sie schon.
In einer sehr fließenden Bewegung ging sie in die Knie und führte dabei eine Art Tanzbewegung aus, um etwas auf dem Boden zu berühren. Eimi nahm an, dass es sich dabei um Dreck, Steine und pflanzliches Material handeln musste. Schon bevor er überhaupt erkennen konnte, was geschah, signalisierte ein starkes Leuchten, dass Tsuru ihre Fähigkeiten einsetzte. Das Material, das sie berührt hatte, fusionierte zwischen ihren Händen zu einem Gegenstand, den Eimi dann als Streithammer erkannte. Am Ende des langen Stabes befand sich ein steinerner Hammerkopf, der an einer Seite wie ein Hammer abgeflacht und an der anderen Seite wie ein Reißzahn angespitzt war. Drohend streckte sie die Waffe in Richtung der Person, die in aller Seelenruhe dem Ereignis zugesehen hatte und ihr lediglich mit einem kühlen Blick antwortete.
„Khamal, du elender Verräter!“, rief Tsuru ihm zu und begab sich in Kampfhaltung.
Als er den Namen hörte, erinnerte sich Eimi an diese Person, die er selbst nur einmal kurz gesehen hatte, als sie damals der Schutztruppe zum Labor gefolgt waren. Der dunkelhäutige Mann hatte graue kurze Haare und einen weißen Mantel aus festem Stoff an, auf dem mehrere Kreuze gestickt waren. Auf Brusthöhe hing ein kleiner Anstecker mit dem Emblem der Schutztruppe. Da Eimi die Sondereinheit der Schutztruppe kannte, schlussfolgerte er, dass es sich um den einen Mann handeln musste, der im Labor zu Vaidyams Gruppe übergelaufen war und ihm zur Flucht verholfen hatte.
Jedoch schien der Mann keine Anstalten zu machen, sich zu verteidigen. Er blieb regungslos stehen, zog nur neugierig die Augenbrauen nach oben und lenkte Eimis Blick auf ein dunkles Tattoo auf seiner Stirn, das ebenfalls ein Kreuz war.
„Tsuru Gappei, schön dich wiederzusehen“, begrüßte Khamal Salaba – erinnerte sich Eimi an seinen Namen – sie ruhig.
„Was hast du hier verloren!?“, brüllte sie aggressiv. „Was du Pecos angetan hast, werde ich dir nie verzeihen! Du warst sein bester Mann! Dein Verrat wird dir teuer zu stehen kommen!“
Ohne auf eine Antwort zu warten, sprintete sie los und holte mit ihrem Streithammer aus, um ihn anzugreifen. Eimi zückte sein Schwert und machte sich bereit, ebenfalls auf diesen Gegner loszustürmen, als ihn eine Hand, die seine Schulter berührte, davon abhielt.
„Tsuru, halt!“, forderte eine beiden bekannte Stimme.
Eimi drehte sich um und sah dabei aus dem Augenwinkel, dass Tsuru ebenfalls ihren Kopf zu der Person drehte, die gesprochen hatte. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und stürzte neben Khamal zu Boden. Pecos, der zuvor gesprochen hatte, ging an Eimi vorbei.
Und obwohl es Pecos war, dem Eimi vertraute, wurde sein Griff um das Schwert zunächst noch fester. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er sich in Pecos getäuscht und dieser arbeitete nun auch für Vaidyam? War er daran schuld, dass Vaidyam ständig erfolgreich fliehen konnte? Tsuru rappelte sich auf und sah zu, wie Pecos Khamal begrüßte, als wäre nie etwas gewesen.
„Pecos, was hat das zu bedeuten?“, wunderte sie sich. Pecos ging auf sie zu, reichte ihr eine Hand und half ihr auf. „Khamal hat dich doch damals verraten?!“
„Es ist etwas komplizierter, als das“, erklärte Pecos und deutete auf einen unauffälligen Hauseingang in der Nähe. „Lasst uns das doch drinnen besprechen.“
Eimi wusste gar nicht, was das jetzt zu bedeuten hatte, vertraute Pecos jedoch und steckte sein Schwert wieder weg. Tsuru schien genauso wie er komplett verwirrt zu sein. Beide folgten Pecos zum Haus, zögerten einen kurzen Moment vor der Tür und tauschten dabei einen nachdenklichen Blick aus, bevor sie das Gebäude betraten. Komischerweise fiel Eimi genau jetzt auf, dass die Art und Weise, wie Tsuru Pecos ansah, ihm verriet, in wen sie verliebt zu sein schien.
Im Haus bemerkte Eimi, dass sich dort mehrere Mitglieder der Schutztruppe befanden, die alle etwas Unterschiedliches zu tun hatten. Einige Männer reinigten Waffen, während andere über Pläne und Dokumente hingen und sie genauer studierten. In einer Ecke saß Tresna, ein weiteres Mitglied von Pecos‘ Sondereinheit, und notierte etwas in ein Buch. Er begrüßte Pecos mit einem bestätigenden Nicken.
Pecos und Khamal gingen geradewegs in einen Raum, der sich am Ende eines Ganges befand und luden Tsuru und Eimi ein, sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen. Zwischen weiteren Dokumenten, Plänen und Karten standen ein paar Gläser, eine leere Wasserflasche und dreckige Kaffeetassen. Khamal setzte sich als erster, dann Pecos. Tsuru blieb noch für einen Moment stehen, dann tat sie es Pecos gleich. Erst als Eimi die Tür geschlossen hatte, fing Pecos wieder an zu sprechen und auch erst dann löste sich Eimis Anspannung etwas.
„Es tut mir richtig leid, dass ich dich so lange im Glauben lassen musste, dass Khamal ein Verräter ist“, grinste Pecos und nahm seinen Hut ab, sah aber gleichzeitig auch so aus, als würde es ihm auch leidtun, diese scheinbare Lüge so lange am Leben gelassen zu haben. Seine schwarzen Haare waren schweißverklebt und plattgedrückt. Er fuhr sich einmal durch seine wuscheligen Haare. „Ich bin ein richtig guter Schauspieler, findest du nicht?“
Tsurus Gesichtsausdruck blieb verwundert, dann verschränkte sie ihre Arme und schien sich beleidigt wegdrehen zu wollen, als Pecos seine Hand nach ihr ausstreckte.
„Bitte, verzeih mir. Es musste so sein“, verteidigte sich Pecos. „Es hätte die ganze Mission gefährdet.“
„Ist das so eine Doppelagentensache?“, wunderte sich Eimi, der sich jetzt zu Wort meldete und allmählich verstand, was vor sich ging. Wenn Pecos so tun musste, als ob Khamal ein Verräter wäre, musste so etwas dahinterstecken. „Ich verstehe aber nicht, wieso.“
„Da hast du vollkommen Recht“, bestätigte Pecos ihn und sah in die Runde. „Jetzt, wo Khamals Einsatz offiziell beendet ist, darf ich endlich darüber reden.“
„Aber warum hast du es mir nicht schon zu einem vorherigen Zeitpunkt gesagt, Pecos?“, wollte Tsuru wissen, die ihre verschränkten Arme wieder löste. „Du sagst mir doch alles.“
„Ich weiß“, versuchte Pecos, sie zu beschwichtigen, „aber es ging leider nicht anders. Hätte es auch nur einen geringen Zweifel an Khamals Treue zu Vaidyam gegeben, wäre die ganze Operation den Bach runter gegangen.“
„Wir haben uns einer Strategie bedient, die Ryoma einst ebenfalls verwendet hat. Ein Wunder, dass es funktioniert hat“, erklärte Khamal kurz und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. „Deswegen, Pecos, ist es wichtig, dass du die Informationen bekommst. Vaidyam denkt, dass ich auf einer Mission bin, die Schutztruppe abzulenken, um die Verteidigung dieser Stadt zu schwächen. Mittlerweile muss er bemerkt haben, dass ich als Doppelagent aktiv war. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“
„Nicht mehr viel Zeit für was?“, wollte Eimi neugierig wissen.
„Bevor der erste Angriff startet. Es wird Krieg geben.“
„Krieg?“, wiederholte Tsuru leise.
„Das ist genau das, was Toni auch gesagt hat!“, erkannte Eimi und brannte darauf, mehr zu erfahren. „Was bedeutet das?“
„Das bedeutet, dass wir bald alle in großer Gefahr schweben. Wie ihr gerade schon gesehen habt, bereiten sich meine Schutztruppler auf alle Eventualitäten vor“, erklärte Pecos und deutete dabei auf die Tür. Dann wandte sich Pecos wieder Khamal zu. Sein Blick verfinsterte sich vor Sorgen. „Khamal, was ist mit Borroka?“
Eimi erinnerte sich, dass Borroka ebenfalls ein Mitglied seiner Sondereinheit war. Der Muskelberg mit den langen grünen Haaren fiel nicht nur besonders dadurch auf, dass eines seiner Augen, wahrscheinlich aufgrund einer Verletzung, verbunden war, sondern auch dadurch, dass er der Waffenexperte der Schutztruppe war. Er war ebenfalls übergelaufen und hatte für Vaidyam gekämpft, wobei er fast Alayna, Takeru und Kioku verletzt hätte.
„Borroka wusste natürlich nicht, dass unser Plan war, dass ich überlaufe“, erklärte Khamal. „Er war besonders überrascht, als ich mich ebenfalls auf Vaidyams Seite stellte. Es war zunächst schwierig, sein Vertrauen zu gewinnen. Mithilfe eines Tricks meiner Lichtfähigkeiten und den schauspielerischen Künsten einiger Schutztruppler konnte ich jedoch so tun, als hätte ich diese für Vaidyam umgebracht. Das sicherte mir genug Vertrauen, dass ich in Vaidyams engeren Kreis aufgenommen wurde. Bevor Borroka und ich getrennt wurden, ging es ihm noch gut. Vaidyam hatte mit ihm andere Sachen vor als mit mir. Ich war der Denker. Borroka hatte Muskeln. Ich vermute, dass Borroka sich für Vaidyams Experimente freiwillig zur Verfügung gestellt hat. Warum er das gemacht hat, konnte ich nicht herausfinden. Ich weiß also nicht, wie es ihm geht.“
„Wir haben ihn also verloren“, sagte Pecos leise und drehte sich weg. Wie es schien, trauerte er über den Verlust eines weiteren Mitglieds seiner Sondereinheit.
„Das muss es nicht heißen“, versuchte Khamal, ihn zu beruhigen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Bis wir nicht alles versucht haben, kann er noch gerettet werden.“
„Ich hoffe es.“
Dann kehrte für einen Moment Stille ein und Eimis Blick schweifte für eine Sekunde durch den spartanisch eingerichteten Raum.
Dann blickte Pecos wieder auf und fragte: „Was macht ihr eigentlich hier? Ich habe euch bei der Verhandlung gesehen, aber was macht ihr hier?“
„Oh!“, meinte Tsuru, die von den Informationen, die sie gerade erfahren hatte, noch etwas abgelenkt war und stand auf. „Wir suchen eigentlich Alayna und Takeru; die beiden sind verschwunden!“
Eimi stand nun auch auf. Es war unfassbar interessant zu erfahren, was Khamal zu berichten hatte, aber die Zeit, die sie nun hier schon verbracht hatten, war viel zu lange. Die Sorgen, dass den beiden etwas passiert war, ließ sein Herz wieder etwas schneller pochen.
„Wir müssen los!“, verabschiedete sich Tsuru und zog Eimi mit hinaus. Stürmisch verließen sie das Gebäude, wobei Tsuru die Einganstür hinter sich zuknallen ließ und Eimi etwas von dem Gebäude wegzog. Tsuru ließ Pecos keine Möglichkeit, sich ordentlich zu verabschieden, geschweige denn, etwas auf die Situation zu antworten. Eimi beschlich das Gefühl, dass sie aus einem bestimmten Grund so fluchtartig von Pecos hatte wegkommen wollen und stellte sie zur Rede, während er sich genau wie Tsuru wegen des Sandsturmes wieder die Kapuze über den Kopf zog. Tsuru stand mit dem Rücken zu ihm, also konnte er ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, als sie ihm antwortete.
„Alles gut. Khamal und Pecos haben sicher wichtige Sachen zu besprechen“, versuchte sie zu erklären. „Wir wollten Alayna und Tak finden, also lass uns gehen.“
Das war eine schlüssige Erklärung, jedoch beschlich Eimi das Gefühl, dass da noch mehr dahinter war. Er ging einen Schritt auf sie zu und drehte sie zu sich um.
„Was ist wirklich los, Tsuru? Ich weiß auch, dass das wichtig ist, aber was ist los?“, erkundigte er sich. Tsuru brauchte erst zwei tiefe Atemzüge, um sich wieder zu beruhigen.
„Eimi“, fing sie an zu erklären, „ich weiß es nicht. Plötzlich habe ich so ein merkwürdiges Brennen in meiner Brust gespürt.“
Er konnte aus ihrer Stimmlage heraushören, dass sie es ehrlich meinte.
„Pecos hat mir immer alles gesagt. Wir hatten nie Geheimnisse.“
„Aber du verstehst doch, dass diese Doppelagentensache total wichtig ist, oder?“, wandte Eimi ein. Sie nickte, schaute Eimi aber nicht in die Augen. „Das bedeutet nicht, dass er dir nicht zu einhundert Prozent vertraut, Tsuru.“
Sie nickte wieder. Sie verharrten für einen Moment, ignorierten die Sandkörner, die gegen ihre Gesichter geblasen wurden und all die Dinge, die gerade so kompliziert und verwirrend zu sein schienen. Dann gingen sie weiter, um ihre Freunde zu suchen. Gerade, als sie in eine Gasse abbiegen wollten, stieß Eimi mit einer Person zusammen, die wahrscheinlich wegen des Sandsturmes einen Poncho trug. Eimi fiel zu Boden und die Person, die er als Frau erkannte, die es wohl eilig hatte, entschuldigte sich tonlos mit einer Geste ihrer Hände und ging weiter, ohne ihm aufzuhelfen.
„Wie unhöflich“, beschwerte sich Tsuru, die Eimi wieder aufhalf. Er bedankte sich und meinte, dass sie sich keine weiteren Gedanken darum machen sollte, wer unhöflich war, sondern lieber, wo sich Takeru und Alayna aufhielten. Immer wieder klopften sie an Türen, um nachzufragen, ob die beiden jemand gesehen hatte. Aber sie erlangten einfach keinen einzigen Hinweis.

Nach einer Weile, als die Verzweiflung darüber so groß war, ihre Freunde nicht zu finden, verlangte Tsuru eine kurze Pause. Zurück am großen Platz des Dorfes setzten sie sich auf die steinerne große Treppe am Tempel, da sie durch den Säulenaufgang dort gut vorm Sandsturm geschützt waren.
Eimi fuhr sich genervt durch die Haare und hielt immer noch Ausschau, ob Alayna und Takeru nicht doch noch irgendwo auftauchen würden.
 „Ich hoffe, dass die anderen schon Hinweise haben“, seufzte Tsuru und deutete auf das Gebäude, in dem die Verhandlung stattgefunden hatte.
„Oder sie schon gefunden haben“, fügte Eimi hoffnungsvoll hinzu. Langsam bereitete ihm die Suche wirklich Sorgen. Nicht nur, weil er die beiden in Sicherheit wünschte, sondern auch durch die ständigen Kommentare über den nahenden Krieg, der wahrscheinlich von irgendwo auf sie zurollte. Krieg – was bedeutete das überhaupt? Er wusste nicht wirklich, was er sich darunter vorstellen sollte.
„Siehst du das?“, wies ihn Tsuru auf etwas Leuchtendes inmitten des großen Platzes hin und rieb sich dabei ihre Augen, nur um sicher zu gehen, dass sie nicht träumte.
Erst jetzt fiel es Eimi auch auf. Inmitten des Platzes leuchtete ein senkrecht stehender schmaler Lichtstrahl, der durch seine grüne Farbe gut durch den wehenden Sand zu sehen war. Auf den zweiten Blick erkannte Eimi, dass sich dieser Strahl verbreiterte und dann, als ihm klar wurde, was da passierte, öffnete sich eine unsichtbare Tür. Sofort stand er auf und rannte darauf zu. Tsuru, die durch ihre Erschöpfung nicht so schnell aufstehen konnte, brauchte etwas, um ihm zu folgen.
Aus dieser zunächst unsichtbaren und dann leuchtenden Tür trat ein junger Mann mit grünen Haaren heraus. Hinter ihm folgte sofort ein weiterer Mann mit pinken Haaren.
„Ea!“, rief Eimi ihm zu und ging auf die beiden Personen zu.
„Hier sieht es ganz anders aus“, erkannte Laan, der die wieder unsichtbar werdende Türe hinter sich schloss.
„Viertausend Jahre sind eine ganz schön lange Zeit“, erklärte Ea und erkannte, dass Eimi auf ihn zukam. „Na schau, wen haben wir denn da? Dich suchen wir!“
Eimi blieb einen Sicherheitsabstand vor den beiden stehen und blickte sie fragend an. „Ihr habt mich gesucht?“
Laan blieb ruhig stehen und ließ Ea alles klären.
„Ja, Eimi, dich!“, bestätigte Ea mit einem nervösen Grinsen. „Weißt du, Laan und ich haben uns wieder vertragen und jetzt möchte ich mein Schwert zurück.“
„Dein Schwert? Wie habt ihr mich überhaupt gefunden?“
„Ja, mein Schwert! Bitte. Ich sage bitte, also musst du es mir auch geben“, sagte Ea und wirkte wieder so verrückt, wie Eimi ihn kennengelernt hatte. „Dass wir dich so schnell gefunden haben, ist nur Zufall. Mit dem Kompass wäre es schneller gegangen.“
„Tak hat den Kompass“, erklärte Eimi. Der Gedanke, sein Schwert abzugeben, gefiel ihm nicht. Hatte er kein Schwert, wie sollte er dann seine Freunde verteidigen?
„Weißt du, wir haben festgestellt, dass das Schwert ziemlich stark ist“, erklärte Ea und gestikulierte wild mit seinen Händen, um die schwerwiegende Bedeutung seiner Worte zu verstärken. „Wir wollen es wegsperren.“
„Wegsperren?“
„Damit niemand in Versuchung kommt, das volle Machtpotenzial dieser Waffe zu missbrauchen“, meldete sich Laan nun zu Wort.
„Wer ist das?“, wunderte sich Tsuru, die sich demonstrativ neben Eimi stellte.
„Das ist Laan; er ist ein Freund von Ea“, erklärte Eimi kurz und zuckte dabei mit den Schultern. Besser konnte er es gerade nicht erklären.
„Also könntest du mir das Schwert nun geben? Es drängt etwas, musst du wissen“, forderte Ea nun etwas direkter und tappte nervös auf der Stelle.
„Können wir nicht eine andere Lösung finden?“, meinte Eimi und ging unauffällig einen Schritt zurück. „Ich würde damit gerne noch etwas üben, um es besser unter Kontrolle zu haben.“
Ea seufzte. „Eimi, du musst verstehen, dass es die Antwort ‚Nein‘ in diesem Fall nicht gibt.“ Er ging bedrohlich auf Eimi zu. Als Eimi aber zurückweichen wollte, stellte er fest, dass er sich nicht bewegen konnte.
Laan öffnete seine Hand und zeigte auf Eimi. Eine grün leuchtende Gitterbox erschien um seine Hand und Eimi erkannte, dass er ihn damit gefangen hielt. Tsuru stellte sich verteidigend vor Eimi, um ihn zu beschützen.
„Ea, es muss eine andere Lösung geben!“, beschwerte Eimi sich.
Bevor Tsuru etwas sagen konnte, wurde sie von Laans Fähigkeiten festgehalten. Laan ließ sie etwas vom Boden schweben und schob sie durch seine Kräfte beiseite.
„Hey, lasst uns frei!“, beschwerte sich Tsuru lautstark, während Eimi versuchte, sich aus seinen unsichtbaren Fesseln zu befreien. Er hatte dabei aber keinen Erfolg. Die Kraft, die ihn umschloss, war zu stark.
Nun ging Ea auf Eimi zu und schob seinen Poncho beiseite, um nach dem Schwert zu suchen. Er klopfte seinen Oberkörper, Rücken und seine Beine ab. Dann ging er erschrocken zurück. Laan ließ die beiden wieder frei und wollte wissen, was passiert war. Tsuru ballte die Hände zu Fäusten und wollte auf Laan losgehen, wurde aber von Eimi zurückgehalten. Eimis Blick verfinsterte sich. Warum behandelte Ea ihn so? War die Waffe wirklich so mächtig, dass es besser war, sie wegzusperren? Oder war das nur ein Trick? Eigentlich nahm Eimi an, dass Ea eine Person war, der man vertrauen konnte. Nachdem er gelernt hatte, dass Tsuru und Ea eine ganz besondere Verbindung hatten, dachte er, dass ein Wiedersehen anders ablaufen würde. Er schien sich getäuscht zu haben.
„Eimi, wo hast du das Schwert gelassen? Hast du es versteckt?“, forderte Ea nervös zu wissen.
„Das Schwert habe ich …“, fing er an zu erklären und suchte dann panisch die Stelle ab, an der das Schwert sonst immer hing; nun jedoch war es nicht mehr dort. Es war merkwürdig, dass er gar nicht gemerkt hatte, wie er es verloren hatte. Eigentlich spürte er das schwere Gewicht immer an seiner Hüfte, aber durch das viele Training in letzter Zeit musste er sich so daran gewöhnt haben, dass es ihm nicht aufgefallen war, dass es weg war. Lag es noch im Haus, in dem er mit Pecos gesprochen hatte? Er erinnerte sich nicht daran, es abgelegt zu haben. „Es ist nicht mehr da!“
„Du musst es verloren haben“, stellte Tsuru fest.
„Wo habe ich es verloren?“, wunderte sich Eimi und sah sich um, als würde es irgendwo auf diesem Platz liegen, aber es war nicht in Sichtweite.
„Die Person, die dich umgestoßen hat!“, erkannte Tsuru mit Schrecken.
„Nun haben wir ein Problem“, sagte Laan kühl.

 

Kapitel 52 – Das Tagebuch – Teil 2

Gespannt blätterte Takeru auf die nächste Seite des Tagebuches und las vor. Alayna rieb sich die Arme. Ihr war kalt und sie war besorgt, dass dieser merkwürdige Zufall, genau an diesem Ort mitten in der Wüste das Tagebuch zu finden, nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Eintrag 12
Heute habe ich während der Meditation an Gaaras Notizen denken müssen, welche in meiner Matratze versteckt sind. Deswegen habe ich angefangen, sie zu lesen. Für den Fall, dass den Notizen etwas geschieht, schreibe ich die Geschichte ab.

Gaaras Aufzeichnungen
Unsere Welt besteht nicht nur aus Licht und dem Schatten, den sie wirft. Die Welt hat unendliche Zwischentöne, die wie die Morgen- und Abenddämmerung an jedem Tag, den wir erleben, eine andere Palette an Farben und Möglichkeiten zeigt. So wie am Tag Wolken die Sonne verdecken und nachts die Sterne einem den Weg durch die Dunkelheit weisen, so gibt es etliche Dinge, die ein Leben spannend, aufregend und vielseitig machen. Dies haben mir meine Eltern beigebracht, bevor sie aus meinem Leben verschwunden sind.
Mein Vater ist in einen Krieg gezogen und meine Mutter ist vor Trauer gestorben. Ich bin auf den Straßen meines Königreichs groß geworden. Mein Name ist Gaara.

Diese Aufzeichnungen sind für die Nachwelt gedacht, um zu beweisen, was sich in diesem Land zusammengebraut hat, als der zerstörerische Krieg wie eine Heuschreckenplage über uns gekommen ist.

Unser Königreich wird von einem weisen König regiert, der sich für das Wohl seines Volkes einsetzt. Unser Königreich befindet sich in einer Wüste, die früher von viel mehr Oasen durchzogen war, als sie es heute ist. Meine Eltern haben von den vielfältigen Früchten geschwärmt, die man entlang eines Flusses, der heute ausgetrocknet ist, hat pflücken können. Unser Königreich ist reich an Nahrung, Wasser und freundlichen Bürgern gewesen. Jedoch sind benachbarte Länder und Königreiche neidisch gewesen und haben einen Krieg angefangen. Ich habe nie verstanden, warum es überhaupt Krieg gibt und ich verstehe es auch heute nicht.

Als Straßenkind bin ich von der königlichen Armee aufgenommen und großgezogen worden. Mein Leben lang habe ich unserem König Soreiyuu ewige Treue geschworen. Als Soldat der Stadt habe ich Zugang zu königlichen Räumen bekommen, unter anderem zu der riesigen Bibliothek, die sich im Schloss befindet. Dort habe ich begonnen, jedes Buch über die Welt zu lesen, in die ich als junger Mensch nicht habe ziehen dürfen. Dort haben meine Träume über eine Welt, die nicht meine ist, angefangen. In jeder möglichen Sekunde habe ich mich in diesen Räumen befunden, habe gestöbert und gelernt. Mein immerwährender Begleiter ist die Sehnsucht gewesen, der Wunsch nach dem Fremden. Die Geschichten, Märchen, Sagen, Sachbücher und Biografien haben jedoch irgendwann diese Sehnsucht nicht mehr gestillt. Dann habe ich Miraa getroffen.

Miraa gilt als gutaussehender junger Mann, der bei Frauen und Männern beliebt ist. Er ist ein Sohn einer Priesterfamilie und ein Gelehrter. Er hat schon viel früher als ich die Schriften der Bibliothek studiert und kennt sie alle in- und auswendig. Wir haben uns kennengelernt, als wir zufällig nach demselben Buch gegriffen haben. Er ist erstaunt gewesen, dass sich ein junger Soldat wie ich in einer Bibliothek befunden hat. Normalerweise haben sich meine Kumpanen in der Stadt getroffen, um sich schon früh in Kneipen und Bars hineinzuschleichen, ihre Macht als Soldat auszunutzen und dort Gelage zu feiern. Mir erscheint das heute noch als eine reine Zeitverschwendung.
Wir haben uns unterhalten und als merkwürdiges Paar, das wir nun einmal gewesen sind, haben wir eine ganz besondere Freundschaft entwickelt, die in den folgenden Jahren noch enger und fester geworden ist. Wir haben uns in der Bibliothek getroffen, uns in geheimen Gängen versteckt, um für uns zu sein und von einer neuen Welt zu schwärmen, die voll ist von schönen Landschaften, geeinten Nationalitäten und Frieden. Damals habe ich noch nicht gewusst, dass sich unsere Vorstellung, wie wir diesen Frieden erlangen könnten, in einer ganz einfachen Frage unterschieden hat: Wie stellt man das an?
Ich träume noch heute von einer Welt, in der man sich die Hände reicht und sich nicht die Schädel vom Hals mit Säbeln trennt. Ich träume von einer Welt, in der man akzeptiert, anders zu sein, denn durch Anderssein entsteht ein „Mehr“. Man stelle sich einmal vor, einer wäre blau und der andere rot. Getrennt voneinander gleichen sie sich nicht. Doch zusammen gesehen entsteht eine Harmonie und sie wären blau und rot und alle Töne dazwischen.
Miraa hingegen scheint es nie in Frage gestellt zu haben, dass man Frieden nur erlangt, wenn einer durch seine Macht dem ganzen Chaos ein Ende setzt. Als jemand, der seinen Vater im Krieg verloren hat, ist es mir schon immer schwer gefallen, dies so zu sehen. Überhaupt habe ich in den letzten Jahren nicht gesehen, was vor sich geht. Ich bin blind gewesen. Bis ich dann sie getroffen habe.

Shiana habe ich durch Miraa kennengelernt, als ich ihn einmal gesehen habe, wie er sie durch das Schloss geführt hat. Ich habe fröhlich auf ihn zu stolzieren wollen, habe es jenem Tag jedoch nicht getan, als er mir mit einem so durchdringenden Blick zu zeigen versucht hat, dass ich es nicht soll. Er ist damals umzingelt gewesen von anderen Gelehrten. Tags darauf habe ich ihn zur Rede gestellt. Ich versuche, die Konversation, so gut es geht, aus meinem Gedächtnis wiederzugeben:

„Sie ist niemand“, sagte er schüchtern und sah zu Boden, um meinen Blicken auszuweichen.
Ich jedoch ließ mir dies nicht gefallen und suchte seinen Blick. Ich wusste, dass ich ihn dadurch überreden konnte.
„Wer ist sie?“, wiederholte ich immer wieder. Wir kannten damals kaum Mädchen; als Soldat des Königreichs wurde mir nicht erlaubt, mich mit Mädchen zu treffen. Er war den ganzen Tag im Schloss tätig und lernte so auch niemanden kennen.
„Du kannst dich nicht mit ihr treffen!“, verteidigte er sich.
„Aber du darfst das schon? Du weißt ganz genau, wie lange wir schon davon träumen, jemanden an unserer Seite zu haben.“
„Es ist ganz anders, als du denkst“, sprach er und wurde dabei rot.
„Deswegen nimmst du gerade auch diese Farbe an“, prustete ich und zerrte an seinen Armen.
„Mir wurde verboten“, erklärte er, „irgendwie Kontakt mit ihr zu haben. Jedoch versuche ich, mit ihr zu sprechen, wenn ich sie zu ihren Untersuchungen führe.“
„Also, du darfst mit ihr reden, aber ich nicht? Miraa, das ist unglaublich unfair!“
Es dauerte eine Weile, dann konnte ich ihn weichkochen. Er erklärte mir, in welchem Zimmer sie sich befand. Da ich als Soldat wusste, wo sich so einige Sachen im Schloss befanden, klaute ich kurzerhand eine Leiter und kletterte zu ihrem Fenster hoch. Dafür, dass ein fremder Mann die Außenwand hochgekrochen kam, war sie wenig überrascht. Im Gegenteil schien sie sich unglaublich zu freuen, jemand neues kennenzulernen.

So hat unsere geheime Freundschaft angefangen, von der eigentlich sonst nur Miraa weiß. Er tut jedoch sein Bestes, dies geheim zu halten. Irgendwie – er hat mir nicht erzählen können, wie – hat er die Erlaubnis bekommen, sie regelmäßig zu besuchen und ihr das Lesen und Schreiben beizubringen. Wir haben dies gemeinsam getan und Shiana schien eine schnelle Lernerin zu sein. Unsere Gespräche sind geprägt gewesen durch ihre tausend Fragen, die sie gestellt hat. Sie leidet noch heute an einer unstillbaren Neugier über die Welt, die sich dort draußen befindet und die sie nicht erreichen kann. Aus irgendeinem Grund darf sie ihr Zimmer nicht verlassen und dadurch, dass sie nicht weiß, wer sie ist und woher sie gekommen ist, habe ich das für den allerersten Augenblick akzeptieren können. Ich habe ihr alles über die Welt beigebracht, die sie nicht kennt, habe mich durch das angehäufte Wissen, welches ich selbst nur aus der Bücherei kenne, bei ihr beweisen können und habe ihr von allen Geschichten erzählt, die mir eingefallen sind. Durch sie habe ich eine lange Zeit jemand sein können. Ich habe jemand anderes sein können als der Junge, der seine Eltern durch den Krieg verloren und sein ganzes Leben lang die gleichen, stupiden Dinge in der Armee zu tun bekommen hat. Ich bin jemand gewesen und das hat mir gefallen. Vielleicht hat es mir zu sehr gefallen, denn ich habe nachts angefangen, davon zu träumen, wie ich mit Shiana verschwinden würde, um die Welt zu entdecken, die vor uns verborgen liegt.

Dann haben die Zweifel angefangen.

Ich möchte nicht sagen, dass ich meinem König und meinem Volk untreu gewesen wäre. Jedoch habe ich angefangen, die Dinge zu hinterfragen. Ich habe wissen wollen, wie unser Königreich entstanden ist und was an dem Krieg, der dort draußen auf irgendeinem Kontinent wütet, schuld ist. Ich habe Dinge herausgefunden.

Schreckliche Dinge.

Als ich Miraa zur Rede gestellt habe, ist er in meiner Wohnung in Tränen ausgebrochen. Er hat so wütend und so unglaublich machtlos gewirkt. Damals bin ich noch überzeugt gewesen, dass meinem Freund Unrecht widerfahren ist. Mir ist nicht klar gewesen, dass er an all jenen Dingen, die geschehen sind, beteiligt gewesen ist. Bis er sie mir gestanden hat. Hat er sie geliebt? Hat er sie beschützen wollen? Mir ist es nicht klar gewesen.

Miraa ist Mitglied einer Wissenschaftsdivision, die aufgrund eines Beraters des Königs agiert hat. Vor einigen Jahren haben sie einige Straßenkinder entführt, an denen sie schreckliche Experimente ausgeführt haben. Die Kinno-Bujin, wie sich diese Division nennt, handelt im Geheimen. Ich habe herausgefunden, dass es dem König gänzlich unbekannt ist, was diese Menschen in den Katakomben des Schlosses treiben. Diese Organisation hat ein starkes Netzwerk an Mitgliedern, die sich durch das ganze Land erstrecken und nur ein schwaches Glied hat: Miraa. Diese Informationen sind nirgends geschrieben zu finden. Allein dadurch, dass ich diese Zeilen verfasse, gelte ich wahrscheinlich schon als Staatsverbrecher.
Viele der Kinder haben die Experimente nicht überlebt. Jedoch konnten drei gerettet werden. Nun, eigentlich ist von einer Rettung nicht zu sprechen, denn die Bürde, die den dreien zuteilwurde, ist mit nichts zu vergleichen. Miraa hat mir nicht erklären können, wie es zustande gekommen ist; er ist damals nur ein Helfer des Verfahrens gewesen, jedoch ist er dabei gewesen, als es passiert ist. Ich vermute, dass vieles, das für jenes Geschehnis verantwortlich ist, mitunter Grund dieses schrecklichen Krieges ist, welcher immer noch dort draußen das Leben zahlreicher Unschuldiger kostet.

Dieses Experiment hat – so hat es mir Miraa erklärt, was ich bis heute noch nicht verstehen kann – die Macht des Universums in gleichwertige Wesen aufgespaltet, deren Kraft und Macht in drei schon herangewachsene Kinder übertragen worden ist. Es ist mir anhand von drei grundlegenden Einheiten erklärt worden, aufgrund derer unser Universum überhaupt existiere: die Zeit, der Raum und die Materie. Laut meinem Bauchgefühl erscheint mir dies sinnvoll, denn ohne diese Einheiten wäre Leben undenkbar. Stelle sich nun einer einmal eine Welt ohne Zeit vor, in der man nicht altert. Ein unsterbliches Leben. Es gäbe keinen Kreislauf, kein Älterwerden, keine Geburt und keinen Tod – eine schreckliche Vorstellung, in meinen Augen.

Es hat sich herausgestellt, dass Shiana eine von diesen Personen ist, die nun diese Bürde mit sich tragen muss. Ich kann mir vorstellen, dass sie durch die geheime Macht, die sich in ihr befindet, als Waffe verwendet wird. Das kann ich nicht zulassen.

(An dieser Stelle fehlen einige Blätter.)

Nun wurde ich in den Krieg gerufen. Was bleibt mir jetzt zu tun? Ich möchte Shiana beschützen, aber ich kann nicht bei ihr bleiben. Hat jemand gemerkt, dass ich mich in den letzten Wochen verbotenerweise ins Schloss geschlichen habe, um zu spionieren? Ist das meine Strafe dafür? Aus Angst, Miraa in Gefahr zu bringen, habe ich mich lange nicht mehr mit ihm getroffen. Wenn jemand diese Aufzeichnungen findet, ist Shiana sicherlich in Gefahr. Das Beste ist es, sie ihr zu überlassen. Sie wird wissen, was sie damit anfangen kann.

Takeru machte eine kurze Pause und klemmte einen Finger als Lesezeichen in das Tagebuch.
„Bedeutet das, dass Shiana eine Göttin ist?“, fragte er, ohne wirklich eine Antwort darauf zu erwarten.
„Auf jeden Fall schien sie in großer Gefahr zu schweben. Ich hoffe, sie wurde nicht als Waffe verwendet“, antwortete Alayna. „Tak, was hat das zu bedeuten? Warum finden wir genau jetzt diese merkwürdigen Einträge?“
„Ich weiß es nicht“, sagte er ganz leise und öffnete das Buch wieder. „Ich schätze, wir müssen noch etwas weiterlesen, bis wir auf die Antwort kommen.“

Eintrag 13
Ich habe Gaaras Geschichte nun ein dutzend Mal gelesen und denke viel darüber nach.

Eintrag 14
Ich habe die letzten Nächte wieder von dem Jungen geträumt, der so aussieht wie Gaara. Was hat das zu bedeuten? Ich vermisse Gaara.

Ich starre immer wieder auf die Seiten, die Gaara geschrieben hat und verstehe kein Wort darüber. Ist das die Antwort darauf, dass ich nicht weiß, wer ich bin? Weil ich ein wertloses Straßenkind gewesen bin, welches für Experimente missbraucht worden ist?
Wer bin ich? Wer ist Shiana Aroya?
Was ist das für eine Macht, die sich in mir befindet? Bin ich nichts mehr als eine Waffe?
Ich brauche Antworten.

Eintrag 15
Bei der heutigen Meditation ist etwas Erstaunliches passiert. Ich habe etwas in mir gespürt, eine Wärme und Energie, die ich sonst noch nie gespürt habe. Uzryuuk hat einen besorgten Eindruck gemacht, als sie mich zurückgebracht hat. Sie hat mich auf dem Weg in mein Zimmer ganz leise gefragt, was ich heute anders gemacht habe als sonst. Ich habe ihr geantwortet, dass ich an einen Freund gedacht habe. Sie hat nicht glücklich darüber gewirkt, als ich das gesagt habe.
Ich weiß, dass niemand erfahren darf, dass ich eine Freundschaft mit Gaara und Miraa habe, aber mir ist es falsch vorgekommen, in diesem Moment zu lügen.

Nun sitze ich hier und schreibe diese Zeilen und es ist fast so, als würde diese Wärme wiederkommen. Ich wünschte, Gaara könnte mir erklären, was hier vor sich geht.

Eintrag 16
Gaara, wo bist du nun? Ich sitze hier und weine.

Heute hat mich Uzryuuk wieder in den verspiegelten Raum gebracht. Als man mir die Augenbinde abgenommen hat, hat sie nicht mit mir im Raum gesessen. Auch die anderen zwei Männer sind nicht dabei gewesen. Es ist Miraa gewesen, der vor mir an einem Tisch gesessen hat. Ich habe mich verwirrt umgesehen, doch außer die unendlich wiederholten Spiegelbilder von uns ist nichts zu sehen gewesen. Miraa hat dunkle Schatten unter den Augen gehabt. Er hat abgemagerter und schwächer als sonst gewirkt. Er hat sehr leise gesprochen, mit wenigen Bewegungen seiner Lippen, als würde er nicht gehört werden wollen.

Er hat mir erklärt, dass sie wohl wissen würden, dass ich mit jemanden gesprochen habe. Dabei hat er mich unentwegt mit einem strengen Blick angeschaut. Er hat vermutet, dass sie wissen, dass er geheimen Kontakt mit mir gehabt hat. Als ich angesetzt habe, etwas zu sagen, hat er seine Hand hochgehalten, um mir zu deuten, nichts zu sagen.
Miraa hat gemeint, dass er mich momentan nur beschützen könne, wenn niemand erfahren würde, dass wir befreundet sind. Diese Worte haben sich wie ein Pfeil durch mein Herz gebohrt. Der Gedanke daran, dass Gaara nicht hier ist, hat mir in diesem Moment wehgetan.
Er hat von mir verlangt, dass ich behaupte, mir einen Freund einzubilden, dass ich davon träumen würde, einem Menschen zu begegnen. Ich solle niemanden davon erzählen. Als er hat wissen wollen, ob ich das verstanden habe, habe ich vorsichtig genickt. Ich bin mir immer noch nicht sicher, was das zu bedeuten hat.
Vorsichtig habe ich leise gefragt, wo Gaara ist. Zur Antwort hat er seinen Kopf geschüttelt.
Auf die Frage, wer ich bin, hat er nur mit meinem Namen geantwortet. „Shiana Aroya“.
Als ich gefragt habe, was ich bin und auf seine Antwort gewartet habe, hat mein Körper angefangen zu zittern. Es schmerzt zu wissen, dass er etwas weiß, es mir aber nicht verrät.
Nach einer Weile hat er ein Wort gehaucht: „Mächtig.“

Ich bin auf mein Zimmer gebracht worden.

Eintrag 17
Heute ist vieles anders gewesen als sonst. Die vielen Eindrücke, die ich heute gesammelt habe, haben meine Gedanken an Gaara und seine Notizen für eine Weile beiseite geschoben. Ich habe Ea, Laan, Natoku und Servant kennengelernt.
Alles hat angefangen, als Uzryuuk mich nicht wie gewöhnlich zum Spiegelraum, sondern in einen geschützten Innenhof, der nur einen Ein- und Ausgang hat, geführt hat. Auf dem staubigen Boden sind einige verdorrte Gräser gewachsen und der Bereich ist von rotgoldenen, hohen Wänden umgeben gewesen. Der Platz ist groß gewesen und es haben sich einige Geräte und Gegenstände darauf befunden, die ich bisher noch nie gesehen habe. Später hat sich herausgestellt, dass einige davon Waffen gewesen sind.

Kurz nachdem mir Uzryuuk erklärt hat, dass das Training nun einen Schritt schwieriger werden soll, ist der junge Mann namens Ea mit seinem Begleiter Servant und Laan mit seinem Begleiter Natoku auf den Platz eingetroffen. Ea hat ein einfaches schwarzes Gewand getragen, seine pinken Haare haben struppig und ungepflegt gewirkt. Nervös hat er ständig umher geschaut und seine Umgebung genau untersucht. Uzryuuk hat mir Servant vorgestellt, der die gleichen Aufgaben für Ea übernimmt wie sie für mich. Servant ist ein schmaler, älterer Herr mit Halbglatze, dessen braune Haare langsam ergrauen. Laan hat beige Klamotten getragen und hat glattes, grünes Haar. Er wirkt auf mich sehr streng, jedoch aber auch ruhig. Er hat unentwegt in den blauen Himmel geblickt. Dann hat mir Uzryuuk Natoku vorgestellt, einen Mann mit kurzen grau-orangenen Haaren und Kinnbart.

An diesem Tag haben wir zusammen trainiert. Erst hat mir Uzryuuk einige Übungen gezeigt, die ich mithilfe der zuvor erwähnten Geräte absolvieren sollte. Es ist ganz schön anstrengend gewesen, aber Uzryuuk hat mich ständig motiviert, weiterzumachen. Nach einer kurzen Pause und einer gemeinsamen Meditation hat jeder von uns mit seinem jeweiligen Begleiter einige Techniken des Nahkampfes geübt. Uzryuuk hat mir versichert, dass dies alles nur zu meiner eigenen Verteidigung dient. Ich habe an Gaara gedacht und es hat Sinn gemacht, mich verteidigen zu müssen. Wer weiß, was bald auf mich zukommt.

Während des ganzen Trainings haben Ea, Laan und ich nicht miteinander gesprochen; ich konnte aber spüren, dass sie mich öfters beobachtet haben.

„Ea und Laan kennen Shiana!“, stieß es aus Takeru. „Waren die beiden die anderen Straßenkinder, die auch dem Experiment unterzogen worden sind?“
„Ich kann mir das gut vorstellen“, fügte Alayna hinzu.
„Vielleicht … Vielleicht ist Shiana die Person, die Ea ständig so angedeutet hatte, als sie sich stritten? Die beiden suchen nach ihr und deswegen haben wir das Buch gefunden. Meinst du, ob Ea es die ganze Zeit hatte, um damit Shiana zu finden? Vielleicht ist das Buch genauso ein Schlüssel wie der Kompass, der Laan befreit hat.“
„Ich verstehe kein bisschen davon, was passiert, Tak“, gab Alayna zu, der die Geschichte etwas zu kompliziert war.
„Ich habe es im Gefühl, dass wir kurz davor sind, das Geheimnis zu lüften!“, gab Takeru euphorisch von sich. Jedoch konnte Alayna tatsächlich kaum einschätzen, was das alles zu bedeuten hatte. Irgendwie ergab nichts Sinn. Obwohl sie sich gerade sehr unwohl fühlte, gab sie sich noch für einen weiteren Moment der Neugier hin und ließ ihren Bruder lesen.

Eintrag 18
Ich verliere mein Gefühl für Zeit. Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage und Nächte vergangen sind, seitdem mein körperliches Training angefangen hat. Die letzten Tage und Wochen ist mein Training immer schwieriger und härter geworden. Bisher bin ich zu müde gewesen, darüber zu berichten.

Heute hat mich Uzryuuk nach dem Frühstück abgeholt und wir sind wieder zum Training in unseren Hof gegangen. Auf dem Weg dorthin und zurück habe ich bisher nie andere Personen im Schloss getroffen. Manchmal wundere ich mich darüber, ob es wirklich einen König gibt, der darin lebt.
Ich berichte heute, weil etwas Besonderes passiert ist. Zum ersten Mal habe ich mit Ea und Laan gesprochen. Das Training mit Uzryuuk ist schon vor einer Weile beendet gewesen und die drei Begleiter haben uns gegeneinander antreten lassen. Die spielerischen Kämpfe gegen Ea und Laan sind sehr anstrengend, da die zwei Jungs sehr stark und schnell sind. Während unserer Schlagabtäusche haben wir bisher nie gesprochen. Als Uzryuuk, Servant und Natoku sich aber kurz in eine Ecke verzogen und etwas besprochen haben, haben sie für eine Weile den Hof verlassen und wir sind allein gewesen. Das ist bisher nie passiert. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und habe Ea und Laan unterbrochen, die gerade miteinander trainiert haben.

Ich habe beide höflich angesprochen und gesagt, dass ich eine Antwort darauf hätte, wer sie seien, in der Annahme, dass es ihnen bisher genauso ergangen ist wie mir. Sie haben ihr Training gestoppt, haben sich einfach nur hingestellt und mich mit großen, traurigen Augen angesehen. Es war, als hätte ich in diesem Moment eine Mauer eingerissen und es hat keine Sekunde gedauert, da habe ich eine tiefe Verbundenheit zu den beiden gespürt.
Laan hat mich mit einem verbitterten Ton gefragt, woher ich das wissen wollte. Ea ist jedoch einen Schritt auf mich zugegangen und hat gegrinst. Ich habe nicht gewusst, ob er das aus Neugier oder aus Verzweiflung getan hat. Ich habe gewusst, dass sie die gleiche Angst haben wie ich. Ich habe mir vorgenommen, mit Bedacht zu antworten.
Darum habe ich erklärt, dass ich einen Freund außerhalb der Schlossmauern habe, der es mir erzählt hat. Ea hat sich darüber gefreut, dass dieser Freund wohl ihnen auch erzählen könne, wer sie seien. Leider habe ich diese Vermutung verneinen müssen, da Gaara doch gerade im Krieg ist. Als Laan festgestellt hat, dass Gaara es ihm nicht erzählen kann, hat er sich von mir abgewandt und wütend gewirkt. Das hat mich richtig nervös gemacht, deswegen habe ich ihnen gesagt, dass ich es ihnen sagen könne. Ea ist mir näher gekommen und hat mich an den Schultern gepackt. Er hat ziemlich verzweifelt gewirkt und mich geschüttelt, als würde er mich aufwecken wollen. Laan hat immer noch mit dem Rücken zu mir gestanden.

Dann habe ich alles erzählt, wie es Gaara mir geschrieben hat.

Bevor jemand etwas darauf hat sagen können, haben wir ein Geräusch gehört und Uzryuuk, Natoku und Servant sind zurückgekommen. Wir haben nicht weiter darüber gesprochen und es hat den Anschein gehabt, als hätten sie nicht mitbekommen, dass wir uns unterhalten haben. Nach der Meditation, die besonders gut gelaufen ist, sind wir auf unsere Zimmer gebracht worden.

Eintrag 19
Heute bin ich als letzte in den Hof gekommen.

Ea, Laan, Natoku und Servant haben bereits in der Mitte des Hofes gewartet und auf dem Boden gesessen. Uzryuuk hat erst gesprochen, als wir beide auch gesessen haben. Alle haben plötzlich ziemlich aufgebracht gewirkt; Ea hat auf den Boden gestarrt, während Laan nachdenklich den Himmel betrachtet hat.
Uzryuuk hat mich gefragt, ob es wahr sei, was ich gestern erzählt habe. Sie hat mir dabei direkt in meine Augen geblickt. Im ersten Moment bin ich so überrascht gewesen, dass ich nicht habe antworten können. Ich habe erst Blickkontakt mit Ea und Laan gesucht, die aber versucht haben, mich nicht zu beachten.
Ich habe leise ja gesagt.
Sie hat Natoku und Servant angesehen und hat irgendetwas davon gemeint, dass es nicht wahr sein könnte. Servant hat kommentiert, dass er ganz andere Informationen erhalten hat und dass dies nun alles ändere. Natoku hat etwas davon gesagt, dass alles Sinn mache. Außerdem hat er erwähnt, dass sie wohl deswegen nicht in den verschlossenen Bereich der Bücherei können und dass sie das mit uns wohl gut angestellt haben. Uzryuuk, die ihre Hand nachdenklich vor ihren Mund gehalten hat, hat gemurmelt, ob der König davon Bescheid wisse und ob man ihm dies sagen müsse.
Als Servant gesagt hat, dass er es für eine schlechte Idee hält, weil sie beobachtet werden, habe ich mich umgesehen, jedoch bis auf die hohen Mauern nichts Auffälliges entdeckt.
Natoku ist aufgestanden und hat erwähnt, dass die feindlichen Truppen den Berichten zufolge immer mehr zu uns vorstoßen würden. Er hat gegrübelt, während er seinen Kinnbart immer und immer wieder glattgezogen hat. Er hat zu meinem Schock gesagt, dass es wahrscheinlich sei, dass wir drei wirklich als Waffen verwendet werden würden.
Uzryuuk hat genauso schockiert wie ich gewirkt, als sie gesagt hat, dass der König dem nicht zustimmen werde, weil er niemals Kinder in den Krieg schicken werde. Servant hat sie wieder auf den Boden der Tatsachen geholt und von ihr gefordert, dass sie den Fakten ins Auge sehen solle. Dabei hat er sie „Uz“ genannt. Dann hat er noch etwas mit Vorbereitungen erwähnt und dass Uzryuuk doch wisse, was in den letzten Wochen im Schloss geschehen ist.
Uzryuuk ist aufgestanden und ich habe ihr angesehen, dass sie es nicht hat fassen können. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sich keiner von uns Dreien getraut, etwas zu sagen, doch in diesem Moment ist Laan aufgestanden, hat sich den Staub von der Hose abgeklopft und die Begleiter mit einem selbstsicheren Blick angesehen.
Laan hat eine extrem höfliche Art an sich gehabt, als er darum gebeten hat, aufgeklärt zu werden. Ich habe bemerkt, dass er gezittert hat. Ea hat, als Laan das gesagt hat, seine Beine fest an sich herangezogen und sie mit seinen Armen fest an seinen Körper gedrückt. Ich bin sitzen geblieben, denn ich habe nicht gewusst, was ich sagen soll.
Servant hat angefangen zu erklären, dass man ihnen gesagt habe, dass dieses Training dafür gedacht sei, uns wieder an unser Selbst zu erinnern. Ihm und den anderen beiden hat man eine Geschichte aufgetischt, die nun absolut keinen Sinn mache.
Natoku hat hinzugefügt, dass die Personen, die ihnen die Aufträge gegeben haben, sich als Ärzte ausgeben. Nun sei ihm klar, dass diese Quacksalber, wie Natoku sie genannt hat, ihnen etwas vorgespielt haben.
Als Uzryuuk danach festgestellt hat, dass die Indizien klar seien, sie jedoch die Puzzleteile bisher noch nicht hat zusammensetzen können, hat sie auf einmal sehr ängstlich gewirkt. Sie hat uns gegenüber erwähnt, dass die Gerüchte über die verschwundenen Kinder (dabei hat sie auf uns gedeutet), die verschlossenen Bereiche im Schloss, die merkwürdigen Forschungen der Ärzte und der näherkommende Krieg alles zusammenpasse.
Servant hat den Begriff „Kinno-Bujin“ erwähnt, welchen ich bisher nur in Gaaras Notizen gelesen habe. Er selbst hat gedacht, dass es sich dabei um eine ausgedachte Sache handle. Servant hat daran gezweifelt, dass der König bei all diesen Sachen mitmache.
Natoku hat gefordert, dass sie herausfinden müssen, wer hinter der Manipulation steckt. Uzryuuk hat daraufhin lauter werdend gefordert, dass sie uns Kinder beschützen sollen. Sie will nicht, dass Ea, Laan und ich als Waffe verwendet werden. Servant hat ihr zugestimmt und sich demonstrativ hinter Ea gestellt.
Ea jedoch, der sehr leise gesprochen hat, hat gemeint, dass wir uns selbst beschützen können. Er hat sich eine Träne aus dem Auge gewischt. Ich habe das Gefühl gehabt, dass es ihn sehr berührt hat, worüber wir gesprochen haben. Dann hat er beweisen wollen, was er behauptet hat. Er hat seinen Arm nach vorne gestreckt, den Ärmel nach oben gekrempelt und ich habe gesehen, wie sein Arm plötzlich zu leuchten angefangen hat. Vom einen auf den anderen Moment hat seine Haut gebebt und die Farbe, Form und Struktur haben sich auf einmal verändert. Es hat ausgesehen, als sei der Arm plötzlich aus Stein. Ein weiteres Leuchten hat eine weitere Veränderung angekündigt. Aus Stein ist Lava geworden, aus Lava Wasser und nach weiteren Verwandlungen hat Ea wieder einen normalen Arm vor sich gehabt. Er hat erklärt, dass er auf dem Zimmer geübt habe, immer wenn keiner zugesehen hat. Er hat erzählt, dass er erkannt hat, dass etwas komisch an ihm ist. Stolz hat er verkündet, dass er sich und uns verteidigen kann.
Laan hat ihm zugestimmt und hat ebenfalls gesagt, dass er uns beschützen kann. Als ihn jedoch alle erwartungsvoll angesehen haben, weil wir gedacht haben, er werde nun seine Kräfte demonstrieren, hat er uns mit einem Kopfschütteln enttäuscht. Er hat gemeint, dass es etwas anderes sei, das er nicht zeigen könne. Seine Antwort hat zwar nichts erklärt, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass er es ernst gemeint hat. Danach sind die Blicke auf mich gerichtet gewesen.
Ich habe erklärt, dass ich Menschen sehe und habe dabei an den Jungen mit den weißen Haaren, der Gaara so ähnelt, gedacht. Nachdem ich mich nicht habe erklären können, haben wir uns wieder hingesetzt. Unsere Begleiter haben einen Plan geschmiedet, den ich hier nicht niederschreiben werde. Die Gefahr, dass jemand dahinterkommt, scheint mir zu groß.

„Deswegen ist Ea so, wie er ist“, erklärte Takeru. „Deswegen kann er all diese merkwürdigen Dinge, wie sich zu verwandeln und so zu kämpfen, wie er es nun einmal tut. Er ist eine Waffe.“
„Genau wie Shiana und Laan“, stimmte Alayna ihm zu. Nun fühlte sie sich merkwürdig bei dem Gedanken, was das alles zu bedeuten hatte. Diese Erkenntnis hatte nichts Erfreuliches. Die Antworten, die beide nun zu haben schienen, warfen jedoch nur mehr Fragen auf.

 

Kapitel 53 – Ein machtloses Band

Eine besonders spontane und starke Windböe peitschte Sand gegen die Stufen der Treppe, die Kioku und Anon gerade hinabliefen, um zur östlichen Siedlung von Jiro-Khale zu gelangen, um zur östlichen Siedlung von Jiro-Khale zu gelangen und dort nach ihren Freunden zu suchen. Dabei mussten sie ihre Arme vor ihre Gesichter halten, um sich vor dem Sand und dem aufgewirbelten Dreck zu schützen. Als Kioku ihren Arm wieder hinunternahm, ärgerte sie sich, dass ihre Augen tränten, weil es gegenüber Anon den Anschein machte, dass sie weinte. Dabei war sie gar nicht traurig. Es war mehr so, dass sie sich unfassbar darüber ärgerte, dass ihr Plan nach los gegangen war. Sie wollte nur etwas Zeit schaffen, damit Anon und sie selbst einen Plan schmieden konnten, der Takeru und Alayna nicht noch mehr in Gefahr brachte. Aber es wirkte so, als hätte ihr Vorhaben genau das Gegenteil bewirkt. Wo lag der Fehler?
Zusammen mit Anon gelangte sie kurz darauf in eine kleine Siedlung und fing an, mit ihm zusammen an Türen zu klopfen und nachzufragen, ob jemand ihre Freunde gesehen hatte. Dabei dachte sie darüber nach, was alles schief gegangen war und musste dabei so nachdenklich gewirkt haben, dass Anon sie darauf ansprach.
„Mh?“, machte Kioku, die sich auf einmal etwas ertappt fühlte. „Was meinst du?“
„Ob du dir Gedanken darüber machst, was Ryoma euch vorgeworfen hat, habe ich gefragt“, wiederholte sich Anon noch einmal und blieb kurz bei einer Häuserecke stehen, bei der der Sand nicht so stark herumgewirbelt wurde.
„Ryoma hat recht. Wir haben unseren Job nicht getan“, bestätigte sie. „Aber er muss doch endlich verstehen, dass Takeru nichts wichtiger ist, als seinen Vater zu finden.“
„Das ist das gleiche Ziel, das Ryoma auch hat“, erklärte Anon kurz.
„Genau! Eigentlich sollte er mit Tak zusammenarbeiten, verstehst du?“, entgegnete Kioku und machte eine kurze Pause. „Aber ich sehe auch ein, wie gefährlich das alles ist. Trotzdem wünsche ich mir, dass es Tak ist, der seinen Vater findet.“
„Warum willst du, dass es ausgerechnet Takeru ist?“, betonte Anon und sah sie dabei ernst an. „Warum kann es nicht jemand anderes sein, der seinen Vater findet?“
Diese Frage machte sie besonders nachdenklich. Ihr war die ganze Reise über bewusst gewesen, warum sie die Dinge tat, die sie getan hatte. Jedoch waren so viele Dinge passiert, die ihren Blick auf ihre eigenen Beweggründe so vernebelte, dass sie ihren Grund immer mehr aus den Augen verlor. Warum war es ihr also so wichtig, dass es Takeru selbst war, der seinen Vater finden musste? Sie nahm sich einen Moment Zeit, um still darüber nachzudenken.
„Hoffnung“, sagte sie erst leise, wurde dann jedoch lauter und berührte dabei die Narbe auf ihrer Stirn. Ihr Blick richtete sich nun durch Anon hindurch ins Nirgendwo. „Wenn Takeru in der Lage ist, seinen Vater zu finden, dann schaffe ich es, mein vergessenes Selbst zu finden.“
Als sich ihr Blick wieder auf ihr Gegenüber fokussierte, erkannte sie, dass Anons Gesichtsausdruck auf einmal sehr ernst wirkte.
„Es muss einen Weg geben, wie wir uns darum kümmern können, dass Takeru und Alayna nichts passiert und sie zugleich ihren Vater finden können. Wenn wir die beiden gefunden haben, lass uns gemeinsam auf die Suche nach neuen Hinweisen gehen!“, schlug sie vor.
Statt jedoch auf ihren Vorschlag einzugehen, wandte sich Anon von ihr ab, um weiter nach den Geschwistern zu suchen. Für einen Moment war Kioku so perplex, dass sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte und verweilte noch für einen Moment auf ihrem Platz. Das musste doch etwas zu bedeuten haben, dachte sie sich. 
„Anon, wir können auch mit Toni reden, sodass er uns verrät, wie wir dich vom Fluch deines Bandes befreien können!“, schlug sie euphorisch vor. Als er nicht darauf antwortete, fiel ihr wieder ein, was er eigentlich vorhatte.
„Aber du hast Ryoma versprochen, ihm dabei zu helfen, auf Toni aufzupassen, richtig?“, erkannte sie enttäuscht und fühlte sich auf einmal wieder richtig schlecht. Ihre Gefühle und Gedanken vermischten sich zu einem gefährlichen, unaufhaltsamen Tornado, der ihr gehörige Kopfschmerzen verpasste. Sie stand nun da und sah Anon zu, wie er ihre Worte ignorierte – aus was für einem Grund auch immer. Gleichzeitig fühlte sie sich schuldig, ihren Freunden nicht die richtige Unterstützung gegeben zu haben und hatte zudem auch keine Perspektive, dass auch nur eines der Dinge, die sie für so wichtig hielt, in Zukunft in Erfüllung ging: ihren Freunden zu helfen.
„Du willst so viel, Kioku“, erkannte Anon mit einer sehr ruhigen, fast traurigen Stimme. „Und mir geht es nicht anders. Doch manchmal muss man sich für eine Sache entscheiden. Vielleicht trennen sich unsere Wege bald. Die Sachen, die Toni über den bevorstehenden Krieg gesagt hat … Wir müssen das einfach verhindern. Ich … ich will dich einfach nicht in Gefahr bringen.“
Ein unfassbar stechender Schmerz fuhr Kioku durch die Brust, als Anon noch einmal bestätigte, was sie die ganze Zeit über schon befürchtet hatte. Wenn Anon wirklich vorhatte, zu gehen, dann war sie sich sicher, dass er ein riesiges Loch in ihr hinterlassen würde. Eine Zukunft, in der er nicht an ihrer Seite war, existierte nicht für sie. Irgendwie musste es doch eine Möglichkeit geben, in der beides möglich war! Das waren alles Gedanken, die sie in ihrem Inneren nicht aussprechen konnte, jedoch fühlte. Wären da bloß nicht diese unfassbaren Kopfschmerzen, die plötzlich auftauchten. Vielleicht war dieses Band zwischen ihm und ihr doch nicht so stark, wie sie sich einbildete. Vielleicht mussten sich ihre Wege nun trennen, versuchte sie sich selbst einzureden, auch wenn sie das nicht wollte.
Aber das konnte sie nicht zulassen! Sie ging auf Anon zu und hielt ihn an seinem Handgelenk fest. Irgendwo, unter dem Band, mit dem sein Arm dauernd eingewickelt war, weil dieser beschissene Fluch ihn immer mehr gefangen hielt, vermochte sie seine warme Haut zu spüren. Es war nun nicht die Zeit, die Menschen, die einem wichtig waren, loszulassen.
„Anon, es gibt einen Weg, das alles zu lösen“, fing sie an, ihn irgendwie zu überreden. „Ich weiß es. Bitte lass es einfach zu, dass ich dir helfe.“
„Wenn ich dich in Gefahr bringe, dann …“, fing Anon an zu sprechen, hörte aber mitten im Satz auf.
„Was ist dann?“, hakte sie nach und zog an seinem Arm, sodass er sich umdrehte. „Sind wir nicht ständig in Gefahr? Immer passiert irgendetwas. Wir bewegen uns doch von einer Gefahr in die nächste, ohne Pause. Das ist mein ganzes Leben lang schon so.“
Als sie das sagte, gab sie einen traurigen Lacher von sich. Ihr ganzes Leben? Die kurze Zeit, an die sie sich erinnern konnte, hatte sie sich ständig in Gefahr befunden. Und jetzt wollte Anon ihr weismachen, dass er sie nicht in Gefahr bringen wollte? Wann realisierte er endlich, dass er es war, der sie ständig in Gefahrensituationen beschützte, angefangen damals, als das Luftschiff abstürzte und er sie gerettet hatte?
Er drehte sich zu ihr um und sie erschrak etwas, weil sie auf einmal eine unfassbare Traurigkeit in seinen blauen Augen erkennen konnte, die sie für einen Moment handlungsunfähig machte. Sein Gesicht wirkte dabei so unfassbar schön und ruhig, gleichzeitig auch stark und freundlich.
Was, wenn sie ihm jetzt in diesem Moment doch nur etwas näherkäme? Zögerlich machte sie einen Schritt auf ihn zu. Dass der Sandsturm immer noch Sandkörner durch die Luft wirbelte, war ihr in diesem Augenblick egal. Vielleicht gab es jetzt die Chance ihn mit einer Sache davon zu überzeugen, dass sie bei ihm bleiben wollte.
Auch Anon schien ihr wie verzaubert tief in die Augen zu sehen und bewegte sich langsam auf sie zu. Passierte es? Geschah es, dass sie sich küssten?
Ihr Herz pochte stark und schien ihr fast in die Hose zu rutschen. Ihre Härchen auf der Haut stellten sich auf und ein Kribbeln fuhr von ihrem Kopf abwärts ihr Rückgrat nach unten entlang. Die Zeit schien wie stehen geblieben zu sein.
Ein Kuss.
Ein Kuss, der ihn überreden konnte.
Ein Kuss, der vielleicht Abschied bedeutete.
Kurz bevor sich ihre Gesichter so nah waren, dass ein Kuss unaufhaltsam gewesen wäre, schreckten beide auf und gingen einen Schritt voneinander zurück.
„Ich kann nicht“, sagten beide gleichzeitig, nur schnürte es Kioku dabei alles zu. Sie wollte ihre freundschaftliche Beziehung nicht mit so etwas aufs Spiel setzen – vor allem nicht in der jetzigen Situation -; warum jedoch sagte er, dass er nicht könne? Ihre Kopfschmerzen waren dabei so stark, dass sie keine klaren Gedanken mehr fassen konnte.
Das Einzige, das sich wie ein Echo in ihrem Kopf wiederholte, war die Frage, ob Anon noch jemand anderes hatte. Wie ein Toxin verteilte dieses Echo ein Gefühl in ihrem Körper, das ihre Kehle zuschnürte, ihre Gliedmaßen versteifte und ihr Herz zerdrückte.
Immer wieder diese Frage. War da jemand anderes?
Dann wurde ihr plötzlich schwarz vor Augen.

Anon fing Kioku gerade noch so auf, sodass sie nicht zu Boden fiel. Besorgt trug er sie in die Nähe einer Hauswand und legte sie dort auf den Boden, sodass sie etwas vor dem Sandsturm geschützt war. Mehrmals versuchte er sie aus der Ohnmacht zu wecken und überprüfte dabei ihre Vitalfunktionen.
Hatte er gerade etwas übersehen? Warum hatte er gerade so in Gedanken versunken sein müssen, dass er nicht wahrgenommen hatte, wie es ihr ging? Kioku war ihm doch so wichtig geworden. Hätte er ihr doch gleich die Signale gegeben, dass er sie nicht küssen wollte. Wieso sollte er ihr nun Hoffnung machen, wenn sein Job doch war, Ryoma zu helfen und auf Toni aufzupassen? Um keinen Preis wollte er sie da mit reinziehen. Der Krieg war so nah und sie durfte auf keinen Fall dort mit hineingezogen werden. Seine Gefühle ihr gegenüber waren so stark; er würde es nicht verkraften, wenn ihr etwas passierte. Dieser Zwiespalt spielte in seinem Inneren Tauziehen um die Vorherrschaft, welche Seite die nächste Entscheidung treffen durfte. Ihm war, als würden sich mehrere Stimmen in seinem Kopf überlagern und alle gleichzeitig sprechen. Es war auffällig, dass er immer so durcheinander war, wenn er in ihrer Nähe war.
Kurz bevor sie wieder aufwachte, fiel Anon etwas Besonderes auf. Im Augenwinkel erkannte er eine Person, die durch die Gasse in Richtung Osten eilte. Er richtete seinen Blick auf die Person, die seine Aufmerksamkeit erregte. Die Person war in einem Umhang gehüllt und bewegte sich schnellen Schrittes fort. Erst, als er einen Moment darüber nachdachte, was er gerade sah, fiel ihm auf, dass diese fremde Person ein Schwert in ihren Händen mit sich trug, das Eimis verblüffend ähnlich war. Aber bei der Person handelte es sich nicht um Eimi; sie war zwar ähnlich groß, jedoch blitzten unter der Kapuze hellblonde Haare hervor, die nicht zu Eimi passten.
War das wirklich Eimis Schwert? Es war sehr schwierig, das durch den Sandsturm zu erkennen; Anon wusste jedoch, dass er sich sichergehen musste, als diese unheimliche Vorahnung in ihm immer stärker wurde. Diese Kinder kamen auch immer von einer Schwierigkeit in die nächste. Er hoffte inständig, dass er sich irrte.
Ein wunderbares Glück, dass Kioku in diesem Moment wieder zu sich kam. Ihren Kopf reibend richtete sie sich auf und sah sich verwundert um.
„Anon“, begrüßte sie ihn. „Wo sind wir? Was ist passiert?“
Es brauchte einen kurzen Moment, bis Anon realisierte, dass die Art und Weise, wie Kioku plötzlich sprach und danach fragte, was passiert war, darauf deutete, dass er Aoko vor sich hatte. Es bereitete ihm Sorgen, dass sie nun ihre Persönlichkeit geändert hatte, ohne sich den Kopf zu stoßen, wie es sonst immer der Fall gewesen war. Hatten diese Kopfschmerzen damit zu tun, die sie nun seit einer Weile hatte?
Ausgerechnet das noch. Die Situation verlangte schnelles Handeln. Was auch immer es bedeutete, dass jemand mit Eimis Schwert herumlief, es konnte nichts Gutes bedeuten.
„Aoko, du wurdest gerade ziemlich übel umgestoßen. Komm schnell, dann finden wir die Person, die das gemacht hat. Kannst du aufstehen?“, log er und packte sie am Arm, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Dann hielt er ihre Hand und sie liefen los.
„Ja, ja klar“, sagte sie verwirrt und rieb sich wieder den Kopf. „Ich habe ganz schöne Kopfschmerzen.“
„Wir müssen uns sputen, Aoko“, sagte er und zerrte sie so halb mit sich, achtete aber trotzdem darauf, dass er nicht zu grob mit ihr umging.
„Anon, warum ist das Wetter so komisch?“, hakte sie nach, während sie durch die Gassen eilten, um der mysteriösen Person hinterherzukommen. „Wo sind wir hier eigentlich?“
„Wir sind nach Jiro-Khale gegangen, weißt du nicht mehr? Wir wurden dann von diesem Sandsturm überrascht“, erklärte Anon kurz und ehrlich.
„Ja“, sagte Aoko überzeugt.
Anon war sich sicher, dass sie das deswegen tat, um sich damit selbst zu überzeugen, dass sie sich erinnerte. Sie tat es jedoch nicht.
„Aber Anon, mir geht es gut“, versuchte sie ihn zu überzeugen und löste sich von seinem Griff. Sie wurde dabei immer langsamer, bis sie stehen blieb. „Die Person muss sich nicht entschuldigen, das ist mir nicht wichtig.“
Anon blieb auch stehen, drehte sich jedoch immer wieder in die Richtung, in der die Person verschwunden war. Wenn sie schnell genug waren, konnten sie ihr noch folgen, jedoch nicht, wenn sie jetzt stehen blieben.
„Die Person hat mir zudem etwas gestohlen“, überzeugte er sie mit einer Halbwahrheit. „Es ist ganz wichtig, dass sie es mir zurückgibt.“
„Ein Überfall!?“, stieß es laut aus Aoko heraus; sie musste sich dabei jedoch den Arm vor das Gesicht halten, damit der wehende Sand sie nicht störte. „Warum sagst du das nicht gleich!“
Sofort lief sie wieder los und Anon folgte ihr. Gemeinsam gingen sie die Gassen entlang durch die Siedlung. An einer Kreuzung, als Anons Blick links und rechts die Lage abchecken wollte, sah er die Person, die schnellen Schrittes in Richtung des östlichen Tores lief. Froh darüber, die Person wiedergefunden zu haben, legten beide einen Zahn zu.
„Dort hinten ist sie!“, bemerkte Anon und Aoko folgte ihm.
Das Adrenalinlevel stieg in Anon. Was war das für eine beschissene Situation? Entweder blamierte er sich gleich, weil es sich doch nicht um Eimis Schwert handelte oder aber er brachte Kioku in Gefahr. Er spielte einmal alle Szenarien in seinem Kopf durch, die passieren konnten. Falls es sich wirklich um Eimis Schwert handeln sollte, hatten sie nicht nur das Problem, dass ein Fremder ihm das offensichtlich gestohlen hatte, sondern auch, dass Eimi etwas zugestoßen sein musste.
Die Schutzmauer ragte mittlerweile schon hoch über den Dächern der Siedlung. Je näher sie dem östlichen Tor kamen, desto weniger Wohnhäuser standen nebeneinander, bis ein großer Platz vor dem Tor mit nur wenigen umgrenzenden Häusern und Hütten das Ende von Jiro-Khale im Osten darstellte. Anon erkannte, dass die verhüllte Person gerade das Tor passieren wollte, um die Stadt zu verlassen.
„HALT!“, schrie er, sodass die Person ihn bemerkte. Er streckte dabei einen Arm aus, sodass eines seiner Bänder nach vorne schnellte, um die Person zu umwickeln. Die Person wehrte den Angriff jedoch geschickt ab, indem sie das Band mit einem goldenen Speer parierte, den sie wahrscheinlich unter dem Mantel versteckt gehalten haben musste. Dabei handelte es sich sicherlich um eine einklappbare Version eines Speeres, erklärte es sich Anon.
„Ach du meine Güte“, stellte die verhüllte Person fest und lachte dabei. Sie wandte sich Anon zu, der sein Band schon längst wieder eingefahren hatte. „Gleich zwei von euch heute? Das ist mein Glückstag!“
Anon und Aoko kamen näher, Anon achtete jedoch darauf, dass Aoko hinter ihm blieb. Er wusste nicht, was für Kampferfahrungen sie hatte. Deswegen fiel es ihm schwer einzuschätzen, wie er sie am besten beschützen sollte. In kampfbereiter Stellung bewegten sich langsam mehrere Bänder aus Anons Jackenärmel und formten dabei ein Schwert, wie er es schon einmal im Kampf verwendet hatte.
„Gib uns das Schwert zurück!“, forderte Anon und setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen.
„Du meinst das hier?“, lachte sein Gegenüber und präsentierte ihm dabei das Schwert, das tatsächlich Eimis war. „Es ist schön, nicht? Fast so schön wie deine Waffe.“
Die Person deutete auf das Schwert aus Bändern, das Anon in der Hand hielt.
„Gib es uns wieder!“, forderte Aoko, die sich sicherlich fragte, ob sie das Schwert schon jemals in Anons Nähe gesehen hatte.
„Nein, nein, nein“, fing die Person an, nahm die Kapuze ab und zeigte das Gesicht. Es handelte sich um eine wunderschöne, große Frau, mit wallenden blonden Haaren. Sie trug eine kleine goldene Krone in ihrem Haar. Die beiden erkannten jetzt, dass sie unter ihrem nun geöffneten Mantel einen hautengen dunkelblauen, fast schwarzen Ganzkörperanzug trug. In ihrer rechten Hand hielt sie Eimis Schwert, in ihrer linken den goldenen Speer.
„Das behalte ich“, erklärte sie weiter. „Und ich nehme euch diesen wunderschönen Stoff ab, der wohl ganz bezaubernde, wunderbare Fähigkeiten besitzt.“
„Wie willst du mir mein Band abnehmen?“, wunderte sich Anon, konnte seinen Gedanken jedoch nicht zu Ende bringen, weil sein Gegenüber schon lossprintete, um ihn anzugreifen. Kioku hätte jetzt sicher davon gesprochen, dass es sich bei dieser Person um die handeln musste, die Toni erwähnt hatte, als er über das Band gesprochen hatte. Aoko wusste davon nichts. Er deutete Aoko mit einer Hand, dass sie etwas weggehen sollte, als er den ersten harten Angriff dieser fremden Frau mit seinem Bänderschwert parieren musste. Die Kraft, mit der sie zuschlug, überraschte ihn, jedoch nicht so sehr wie die plötzliche Geschwindigkeit, mit der sie agierte. Mit einem heftigen Stakkato aus Angriffen mit ihrem Speer und Eimis Schwert bombardierte sie Anon und bald reichte es nicht mehr aus, diese mit dem Bänderschwert abzuwehren, sodass er noch weitere Bänder dazunehmen musste. Immer wieder drehte sich sein Blick dabei zu Aoko, um zu überprüfen, dass sie außerhalb der Angriffsreichweite war.
Genau in diesem Moment sah seine Gegnerin eine Lücke in seiner Verteidigung und schlug ihm mit dem Schwert heftig in den Magen, sodass Anon für einen kurzen Augenblick schwarz vor Augen wurde. Er taumelte, nun seine Bänder nicht mehr richtig kontrollierend, einige Schritte beiseite und hielt sich röchelnd den Bauch. Sein Bänderschwert löste sich dabei auf.
„ANON!“, schrie Aoko laut, verstummte aber kurz danach, als die Frau ihr mit dem stumpfen Ende des Speeres einmal auf ihren Kopf schlug und sie dadurch ohnmächtig umfiel.
„AOKO!“, schrie nun auch Anon und stand taumelnd und nach Luft schnappend auf. Es war schwierig, wieder ordentlich zu atmen; der Schlag in seinen Bauch war heftig gewesen. Sein Sichtfeld war immer noch etwas verschwommen. „Lass sie in Ruhe!“
Die Frau schien sich aber offensichtlich gar nicht für die Person Aoko zu interessieren, sondern blickte hinab auf ihr Armgelenk, das immer noch mit einem Stück Stoff umwickelt war, das Kioku schon oft zum Kämpfen verwendet hatte und ähnlich wie Anons Stoff funktionierte. Die Frau nahm es an sich und steckte es in eine Tasche ihres Umhangs.
Dann wandte sich die Frau vom bewusstlosen Körper Aokos ab und blickte Anon fest entschlossen an.
„Na, mein Süßer“, sagte sie und lächelte dabei. „Der Boss wird sich freuen, wenn die Meisterdiebin ihm gleich zwei der wertvollen Artefakte übergibt. Gib mir doch einfach deinen schönen Stoff und ich lass dich in Ruhe.“
„Was … Was redest du da? Meisterdiebin? Boss?“, stammelte Anon. Mittlerweile verwendete er einige Bänder, die ihn wie Krücken etwas stabilisierten. Wäre sein Oberkörper nicht mit dem Band umwickelt gewesen, hätte ihn der Schlag sicherlich ausgeknockt. „Gib das Schwert zurück!“
„Du kannst dich doch kaum mehr auf den Beinen halten“, lachte die Frau und kam ihm näher. Anon versuchte, einige Bänder loszuschicken, denen die Frau jedoch mit Leichtigkeit ausweichen konnte.
Die immer noch verschwommenen Bewegungen der Frau, die Anon beobachtete, wirkten ganz merkwürdig auf ihn. Es wirkte so, als wäre jede einzelne Bewegung, die sie machte, von besonderer Absicht, wie ein Tanz, der betont, wie schön sie war. Als sie endlich so nah war, dass er sie klarer sehen konnte, erkannte er in ihren dunklen Augen, dass sie ihn von oben bis unten musterte.
„Du bist ein echt schöner Mann“, erkannte sie und legte ihre Hand an Anons Wange.
Nun war der Moment, endlich war sie nah genug, dass er sie richtig angreifen konnte. Wenn er sie wenigstens in die Flucht schlagen konnte, hatte er einen Moment, um sich zu erholen. Mit aller Kraft schoss er nun mehrere Bänder gleichzeitig auf seine Feindin, deren Namen er immer noch nicht wusste. Tatsächlich überraschte sie sein Durchhaltevermögen und er erwischte sie so, dass sie einige Meter nach hinten flog. Mit einer eleganten Drehung in der Luft landete sie jedoch, ohne größeren Schaden genommen zu haben, geschmeidig wie eine Katze wieder auf ihren Füßen.
„Was willst du verdammt noch mal von uns!?“, forderte Anon zu wissen. Jemand wollte sein Band haben? Aber was sollte derjenige damit anfangen? Es war verflucht und brachte ihn langsam um. Da war wieder ein Zwiespalt. Solle er mit ihr gehen, weil sie jemanden kannte, der ihn von dem Band befreien konnte? Jedoch schien man ihr nicht vertrauen zu können. Und würde er das Band verlieren, hätte er keine Waffe mehr zur Verteidigung und könnte auch Kioku nicht mehr beschützen. Da fiel ihm wieder ein, was Toni erklärt hatte.
„Du bist bestimmt Lunja Gynav oder Nafsu Percintaan, richtig?!“, fragte er nach. Toni hatte die anderen Mitglieder seiner Gruppe aufgezählt. Nur über die zwei Personen hatte er keine weiteren Informationen. Dass sie ebenfalls eine Person kannte, die sich mit seinem Band auskannte, konnte nur bedeuten, dass sie zusammen mit Toni für die gleiche Person arbeitete.
Sein Gegenüber schien sichtlich überrascht, wie gut er informiert war, gleichzeitig jedoch auch enttäuscht.
„Richtig, mein Name ist Nafsu Percintaan, die Meisterdiebin aus Südlucdia“, stellte sie sich vor und posierte währenddessen wie ein Model. „Es ist immer wieder eine reine Enttäuschung, dass mich auf diesem Kontinent keiner kennt. Dabei erzählen sich selbst Kinder – dort wo ich herkomme – von meinen großen Raubzügen.“
„Für wen arbeitet ihr!?“, forderte er zu wissen und drohte ihr. „Toni hat uns schon alles erzählt, früher oder später erwischen wir euch alle!“
„Toni Pungrip ist also übergelaufen? Das ist ja interessant, wird den Boss sicher nicht erfreuen“, redete sie so vor sich hin. „Weißt du was, Süßer? Komm doch einfach mit, dann helfe ich dir.“
Dann wandte sich Nafsu zum Stadttor, über ihre Schulter trug sie das Schwert Eimis, das wie eine Trophäe schien. Sie hatte den Kampf gewonnen. Bevor Anon sie aufhalten konnte, war sie schon durch das Tor hinaus in die Wüste verschwunden. Was solle er nur tun? Langsam torkelte er auf Aokos Körper zu.

Als Kioku ihr Bewusstsein wieder erlangte, war ihr erster Reflex sich zur Seite zu beugen und sich zu übergeben. Die Übelkeit kam in drei Wellen, bis sich dann endlich ihr Mageninhalt entleert hatte. Sie merkte, dass sie schwitzte, als ihre Haare anfingen, in ihrem Gesicht zu kleben. Mit ihrem Arm wischte sie das letzte bisschen von ihrem Mund und richtete sich auf. Anon saß neben ihr und sah sie nachdenklich an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als sie aufwachte.
Dieser leere Blick, den Anon ins Nichts richtete, machte ihr unfassbare Angst. Dazu kam, dass sie sich an kein bisschen erinnern konnte, was geschehen war. Wenigstens waren ihre schlimmen Kopfschmerzen nun durch andere, schlimmere ersetzt worden, dachte sie sich.
„Anon, was ist passiert?“, wunderte sie sich, richtete sich auf und berührte Anon am Arm, weil er zunächst gar nicht auf sie reagierte. Er schreckte aus seinem Gedanken auf und blickte sie an.
„Du bist wieder da!“, stellte er fest, konnte sich aber nicht wirklich freuen.
„Was war denn los? Haben wir nicht gerade noch Tak und Alayna gesucht? Wo sind wir?“, suchte sie Antworten und sah sich dabei um, als würden irgendwo Anzeichen versteckt sein, was geschehen war.
Anon zögerte erst mit seiner Antwort, was Kioku ein unbehagliches Gefühl bereitete.
„Ich muss los.“
Anon stand auf.
Kioku zog sich mit aller Kraft nach oben. Sie war etwas wackelig auf den Beinen.
„Was heißt das, du musst los?“
Anon wandte sich von ihr ab.
„Dass du zurück ins Hotel musst. Takeru und Alayna sind sicherlich schon zurückgekehrt.“ Er machte eine kurze, nachdenkliche Pause. Kioku konnte sich keinen Reim darauf machen, was passiert war. „Du musst zu Eimi zurück, ich habe ein merkwürdiges Gefühl bei ihm.“
Dann machte er einen Schritt nach vorne, wurde von Kioku jedoch am Ärmel festgehalten. Was auch immer er gerade versuchte, ihr nicht zu erzählen, war wohl sehr wichtig.
„Es reicht mir jetzt, Anon!“, zog sie einen Schlussstrich in einer weinerlichen, lauten Stimme. Die Emotionen, die in ihrem Inneren wieder nach oben quollen, vermochte sie gerade nicht zu kontrollieren. „Du musst mir verdammt noch mal sagen, was los ist! Du kannst mich nicht aus allem raushalten, da mach ich nicht mit!“
Die ersten Tränen flossen aus ihren Augen. Sie klammerte sich an Anons Rücken fest und presste ihr Gesicht ganz nah an seinen warmen Körper. „Wann verstehst du endlich, dass ich dich nicht allein lasse!“
„Kioku!“, warnte er sie und drehte sich um. Dabei packte er sie an ihren Schultern, um ihr irgendwie zu signalisieren, wie schwierig die Situation für ihn war. Er wirkte dabei sehr aggressiv. „Ich kann es nicht! Hörst du? Ich kann dich verdammt noch mal nicht noch mehr in Gefahr bringen! Schau einmal auf dein Handgelenk. Wir kämpften gerade und du wurdest so schnell ausgeknockt, das konnte keiner kommen sehen. Dir wurde das Band genommen und … und …“
Kioku ging erschrocken einen Schritt zurück und sah sich ihre Handgelenke an. Das was Anon gesagt hatte, stimmte und als sie ihn so ansah, erkannte sie, dass er ziemlich mitgenommen aussah. Er konnte kaum auf beiden Beinen stehen.
„Das Band? War da jemand, der dir mit deinem Band helfen kann!?“, stellte Kioku fest.
Anon antwortete nicht, was ihr Antwort genug war.
„Wirst du der Person hinterhergehen?“, fragte sie zögerlich. Auch darauf bekam sie keine Antwort. Anon ballte nur seine Fäuste und schien ziemlich verzweifelt.
„Du willst mich nicht weiter in Gefahr bringen“, erkannte sie und ging wieder einen Schritt auf ihn zu. „Anon, wie willst du dich dem allein stellen, wenn wir zu zweit schon keine Chance hatten?“
„Ich werde mir schon irgendetwas überlegen.“
„Wirst du nicht. Du wirst draufgehen. Anon, wenn dir so etwas zustößt, weiß ich nicht, was ich mit mir anfangen soll“, erklärte sich Kioku und spürte, wie ihre Kehle von ihrer Angst zugeschnürt wurde. Dann sagte sie ganz leise: „Ich brauche dich.“
Anons Gesichtsausdruck wurde etwas entspannter, dann legte er eine Hand auf ihre Wange und sagte: „Ich brauche dich auch.“
Kioku spürte, wie ihr Herz leichter wurde und eine wohlige Wärme ihren Körper durchströmte. Und noch etwas spürte sie: Hoffnung. Hoffnung, dass alles gut werden und sich fügen würde, solange sie nur bei Anon bleiben konnte. „Dann lass mich mitkommen.“ Ihre Stimme war voller Entschlossenheit.
Anon sah sie einen Moment lang zögernd an; er schien sehr mit sich zu hadern. Schließlich stieß er einen großen Seufzer aus. „Also gut. Du gibst ja doch nicht nach.“
„Stimmt“, erwiderte Kioku grinsend.
„Lass uns Hilfe organisieren. Ryoma oder jemand von den Vastus Antishal wird uns sicher helfen können.“
„Wenn wir nicht schnell handeln, verlieren wir ihre Spur“, wandte Anon ein und deutete auf das Osttor. Ihre Spur verlieren? Dann konnte sie noch nicht lange weg sein.
„Dann …“, fing Kioku an, zögerte jedoch einen kurzen Moment, bis sie weitersprach. „Lass uns gehen. Wir finden zusammen etwas heraus. Aber nur unter einer Bedingung: Ich werde dich niemals allein lassen.“
„Das ist das Dümmste, was ich jemals gemacht habe“, erklärte Anon.
„Ich glaube, ich auch“, erwiderte Kioku, bevor sie lächelte. „Aber wenigstens …“ Sie fühlte sich danach, nach seiner Hand zu greifen, setzte an, ließ es aber bleiben, „… begehen wir diese Dummheit gemeinsam.“

 

Kapitel 54 – Das Tagebuch – Teil 3

„Meinst du nicht, wir sollten das Buch mitnehmen und zurück zur Stadt?“, hakte Alayna nach. Sie fühlte sich immer noch so unfassbar unsicher, in irgendeiner Höhle in der Wüste zu sitzen.
„Der Sandsturm hat sicherlich noch nicht nachgelassen“, wimmelte Takeru sie ab. „Es sind immer noch Einträge darin. Lass uns noch etwas lesen, vielleicht klären sich dann tatsächlich all unsere Fragen.“
Alayna erkannte, dass es wahrscheinlich keinen Sinn machte, sich durch den Sandsturm zurückzukämpfen. Die Neugier, mehr über die Einträge zu erfahren, über die sie so lange schon gerätselt hatten, ließ sie entscheiden, noch etwas zu bleiben.

Eintrag 20
Es ist eine Woche her, seitdem wir das Gespräch mit unseren Begleitern gehabt haben. Nun, Begleiter ist eigentlich nicht ganz das richtige Wort. Diese Woche über haben wir Uzryuuk, Natoku und Servant auf eine ganz andere Art und Weise kennengelernt, sodass ich nun sagen kann, dass wir drei Freunde gewonnen haben. Damit unser Plan nicht auffällt, haben wir uns wie gewöhnlich verhalten. Wir sind abgeholt und zum Training gebracht worden. Das Training jedoch ist nun weitaus härter und intensiver als zuvor. Die Energie, um dies durchzustehen, habe ich durch die Motivation und den Zusammenhalt genommen, der sich in unserer kleinen Gruppe entwickelt hat. Wenn Gaara sehen würde, wie ich mich anstrenge, wäre er sicherlich stolz auf mich.

Nach dieser Woche habe ich selbst große Fortschritte gemacht. Ich weiß nun mehr über mich selbst: Meine Energie ist das Licht und ich sehe Visionen aus der Zukunft.

Nachdem Ea und Laan uns ihre Kräfte schon gezeigt haben, haben sich Servant und Natoku bemüht, die beiden darin zu unterstützen, ihre Kräfte zu kontrollieren. Uzryuuk sagt mir immer wieder während des Trainings, dass ich nichts überstürzen solle. Aber irgendwie ignoriere ich diesen Rat. Ich habe gesehen, was die beiden Jungs schaffen und will auch etwas schaffen. Dabei denke ich immer und immer wieder an Gaara und die Ungewissheit, gegen die er jeden Tag kämpfen muss. Er strengt sich sicherlich an, uns zu beschützen. Ich will auch etwas beitragen. Außerdem will ich stark genug sein, für den Fall, dass ich auch Miraa beschützen muss.

Ich habe in dieser Woche gelernt, wie wichtig Freunde sind.

Meine Narben sind der Beweis, dass ich lerne, wer ich bin. Ich habe von Ea und Laan im Kampftraining gefordert, dass sie wirklich keine Rücksicht auf mich nehmen sollen. Die beiden haben mich unentwegt angegriffen. Mittlerweile bin ich schnell genug, auszuweichen, jedoch hat die Waffe, die ich mir genommen habe, nichts gegen die Kraft und Wendigkeit der Jungs ausrichten können. Ea hat mich im Kampf mit seiner steinernen Faust immer und immer wieder getroffen. Ich habe mir den Schweiß und das Blut vom Körper gewischt und habe immer weiter gemacht, wenn ich einmal gestürzt bin. Die Energie ist aus meinem Körper gewichen und ich habe mich immer schwächer gefühlt. An Gaara denkend, habe ich immer wieder den Schmerz heruntergeschluckt und ignoriert. Das ist ein extrem harter Test für meinen Körper gewesen.
Als jedoch Laan mich mit seiner Faust getroffen hat und ich für einen Moment zu schweben geschienen habe, hat eine ungeheure Kraft mich an ihn herangezogen. Es hat sich so angefühlt, als sei ein Anker in meinem Magen, der mit einer unendlichen Gewalt in Richtung Laan gezogen wird. Der Schmerz ist unbeschreiblich gewesen. Für einen Moment ist mir schwarz vor Augen geworden, dann ist etwas passiert. Ein gleißendes Licht hat aus meinen Händen gestrahlt und hat Laan von mir weggeschleudert. Ich bin auf den Boden gefallen und habe gesehen, wie das helle Licht langsam verschwunden ist. Ea hat vor Bewunderung geklatscht und hat mir danach aufgeholfen.
Es scheint so, als habe ich meine Kraft geweckt. Nun gilt es, sie zu trainieren.

Meine zweite Fähigkeit habe ich durch die Meditation mit Uzryuuk entdeckt. Sie hat mich noch einmal darauf angesprochen, dass ich Menschen sehe. Sie ist sich nicht sicher gewesen, was ich damit gemeint habe und hat es mit mir zusammen herausfinden wollen. In meinem Zimmer haben wir auf dem Bett im Schneidersitz gesessen, unsere Hände sind gefaltet gewesen. Ich habe ihr von dem Jungen, der aussieht wie Gaara und der immer wieder in meinen Träumen erscheint, erzählt. Mittlerweile sehe ich so viel mehr Dinge von ihm, was er tut und mit wem er spricht. Ich habe auch einmal gesehen, wie er mit mir gesprochen hat.
Immer wieder hat sie mir gesagt, dass ich mich auf einen Menschen konzentrieren und versuchen soll, diesen zu sehen. Ich habe meditiert und versucht, Gaara zu sehen. Er ist derjenige, den ich sehen will, von dem ich wissen will, wie es ihm geht.
Während meiner Meditation bin ich in eine Dunkelheit eingetaucht, in der mir nur ein Lichtpunkt in der Ferne Orientierung gegeben hat. Ich habe mich mental auf diesen Punkt zu bewegt. In Gedanken bei Gaara, bin ich in verschiedene Träume eingetaucht. Jedoch habe ich immer und immer wieder diesen Jungen gesehen, der Gaara so ähnlich ist. Ich habe gesehen, wie er kämpft, ich habe gesehen, wie er eine Katze füttert, ich habe gesehen, wie er durch einen Wald läuft. Es ist mir nicht möglich gewesen, viel zu erkennen, aber einige Details habe ich mir merken können. Etwas Schwarzes ist in seiner Tasche gewesen. Dann, nachdem ich einige dieser kurzen und vagen Träume verlassen habe, bin ich zu einem Traum gekommen, in dem Uzryuuk eine Rolle gespielt hat. Sie hat in einem dunklen Raum gesessen und mit einer Person gesprochen. Ich habe die Worte nicht ganz verstehen können und ich habe auch nicht sehen können, mit wem sie gesprochen hat. Mir ist nur aufgefallen, dass sie älter gewesen ist, als sie nun ist. Der Raum, in dem sie sich befunden hat, ist schlicht eingerichtet gewesen und zwischen den Vorhängen, die den Raum verdunkelt haben, habe ich für einen Moment die Spitze eines weißen Berges gesehen.
Ich habe tief Luft geholt und bin plötzlich aufgewacht.
Uzryuuk hat sich besorgt erkundigt, was passiert ist und hat mir dabei liebevoll eine Haarsträhne hinter mein Ohr gestrichen. Ich habe es ihr erzählen sollen.
Als ich gesagt habe, dass ich sie mit einer anderen Person gesehen habe, hat sie von mir gewollt, dass ich ihr mehr Details erzähle. Sie hat es verwundert, dass ich einen Berg gesehen habe, weil doch in unserer Region kaum Berge sind. An ganz klaren Tagen kann man in der Ferne welche ausmachen. Aber diese Berge sind nicht mehr als dunkelblaue Schatten am Himmel im Vergleich zum weißen Gipfel, den ich gesehen habe.
Ich habe neugierig nach ihrem Zimmer und ihrer Heimatregion gefragt. Ich habe wissen wollen, was diese Träume zu bedeuten haben.
Als sie mir erklärt hat, dass sie keines dieser Details deuten könne, hat sie geschlussfolgert, dass es sich wahrscheinlich um Visionen aus der Zukunft handeln muss. Sie hat gemeint, dass ich vielleicht Dinge sehe, die einfach noch nicht passiert sind.

Ich weiß nicht, was das bedeutet.

Falls das wahr ist, darf ich auf keinen Fall jemanden davon berichten. Wenn das meine wahre Macht ist, darf ich niemanden davon wissen lassen. Das hat sie mir gesagt.

Danach hat sie mir erklärt, dass ich üben solle, diese Träume klarer zu sehen. Das habe ich in den darauffolgenden Nächten getan.

Eintrag 21
Nach einiger Zeit habe ich bemerkt, dass es für uns Grenzen gibt. Ea, Laan und ich haben im Training einen Punkt erreicht, an dem wir uns nicht mehr verbessern können. Die Abläufe und Bewegungen sind immer besser geworden. Irgendwann jedoch haben wir uns gegenseitig auswendig gekannt und haben in verschiedensten Situationen gewusst, wie wir aufeinander reagieren sollen. Im Hof eingesperrt, mit den immer selben Waffen, haben unsere Möglichkeiten unsere Entwicklung schnell begrenzt. Als wir das unseren Freunden erzählt haben, haben sie gesagt, sie würden etwas für uns vorbereiten.

In der Nacht vor diesem Tag habe ich mich auf mich selbst konzentriert und habe von Regen geträumt.

Am darauffolgenden Tag haben wir uns im Hof getroffen. In der Mitte des Hofes haben drei unterschiedlich große, in Tücher eingewickelte Gegenstände gelegen.
Servant hat gegrinst und davon gesprochen, dass sie nicht untätig gewesen seien. Natoku hat daraufhin erklärt, dass sie einen Weg gefunden haben, uns etwas zu helfen. Uzryuuk hat uns eingeladen, unsere neuen Geschenke auszupacken.
Ea, der am neugierigsten von uns ist, hat sich auf den großen Gegenstand gestürzt, der im roten Tuch eingewickelt gewesen ist. Er hat darunter ein Schwert in einer Scheide hervorgeholt. Als er es hat herausziehen wollen, hat sich herausgestellt, dass es keine Klinge hat.
Verwundert hat er den Griff genommen, damit herumgefuchtelt und unsere Freunde gefragt, was das solle.
Servant hat ihn beruhigt, indem er gesagt hat, dass er seine Kraft darauf konzentrieren solle, dann würde er schon sehen. Als Ea für einen kurzen Moment die Augen geschlossen hat, sind große Flammen aus dem Schwertgriff herausgestiegen und haben für einen kurzen Moment die Form eines Schwertes gebildet, bis die Energie sich wieder verflüchtigt hat. Ea hat vor Freude gejubelt. Während er sich mit seiner neuen Waffe beschäftigt hat, die immer mal wieder aus verschiedener Energie die Form eines Schwertes angenommen hat, hat sich Laan mit seinem Geschenk beschäftigt. Er ist vor dem grünen Tuch in die Knie gegangen und hat erst ganz vorsichtig den sehr kleinen Gegenstand, der sich darin befunden hat, beobachtet. Bedacht hat er das Tuch beiseite geschoben und ein rundes Objekt aus Metall in die Hand genommen. Ich habe zunächst nicht sehen können, was es ist, aber ein Klicken hat mir verraten, dass man es öffnen kann. Anschließend hat er sich sein Geschenk, welches an einer Kette hängt, um seinen Hals gelegt.
Natoku hat geheimnisvoll von einem Kompass gesprochen, der dafür da sei, damit er die Orientierung nicht verliert. Beide haben sich zugenickt. Anscheinend weiß Laan, für was der Kompass zu verwenden ist. In diesem Moment ist mir erst richtig bewusst geworden, dass ich immer noch nicht weiß, was nun Laans Fähigkeit ist. Vielleicht werde ich es, dank des Kompasses, bald herausfinden.
Uzryuuk hat mir einen kleinen Stoß mit ihrem Ellbogen gegeben. Nun bin ich an der Reihe gewesen, das Geschenk unter dem blauen Tuch aufzudecken. Als ich es ausgewickelt habe, habe ich ein kleines Amulett aus einem türkisenen Material in der Hand gehabt. Der Anhänger ist eine Feder, die an einer Kette hängt. Ich habe sie mir umgehängt und Uzryuuk fragend angesehen. Sie hat gelächelt, aber ich habe ihr angesehen, dass sie mir keine Antwort geben will.
Der erste, der wieder gesprochen hat, ist Natoku gewesen. Er hat uns erzählt, dass diese Gegenstände für uns hergestellt worden seien und dass sie zunächst als Katalysator für unsere Kräfte dienen sollen. Er hat die Fakten über unser Training etwas verdreht, weswegen er die Chance gehabt hat, uns die Gegenstände nun zu übergeben. Als ich nachgefragt habe, was das mit dem Katalysator zu bedeuten hat, hat er gesagt, er habe herausgefunden, dass sie ebenfalls als Verstärker für unsere Kräfte verwendet werden können. Sie würden uns helfen, unsere Kräfte zu konzentrieren und zielgenau einzusetzen. Als er dann noch gesagt hat, dass es für Ea und Laan offensichtlich sei, wie die Gegenstände funktionieren, ist mir dabei immer noch einiges unklar geblieben.
Daraufhin hat sich Uzryuuk zu mir gewendet, eine Hand liebevoll auf meine Schulter gelegt und gesagt, dass sie noch keine Antwort darauf wissen, für was mein Amulett gut sei.

Jetzt sitze ich hier und schreibe das nieder, was uns heute widerfahren ist. Ich drehe das federförmige Amulett in der Hand und ich schätze, ich werde im Bett sitzend gleich darüber meditieren. Vielleicht erfahre ich etwas.

„Dafür sind diese Artefakte also zuständig“, kommentierte Takeru, fing jedoch gleich wieder an, weiterzulesen.

Eintrag 22
Es ist früh am Morgen und ich bin gerade aufgewacht. Heute Nacht habe ich tatsächlich einen Traum vom Amulett gehabt und habe Servant gesehen, der diesen Anhänger dem Jungen überreicht hat, der wie Gaara aussieht. Ich muss ihm das heute erzählen.

Es ist nun Abend und heute ist Folgendes passiert:

Ich habe während des Trainings mit Servant über das Amulett gesprochen, über den Jungen und ob das schon einmal passiert ist. Uzryuuk hat unserem Gespräch aufmerksam zugehört. Servant verneinte die Fragen zum Traum, aber Uzryuuk wirkte dafür so, als wenn sie etwas damit anfangen könnte.
Kurz bevor sie mich abends zurückgebracht hat, hat es angefangen zu regnen. Es schien allen wie ein Wunder, dass sich über unser Königreich, in dem es ziemlich selten regnet, plötzlich ein Schauer ergossen hat. Ich habe ein merkwürdiges Déjà-vu gehabt und ich habe darüber nachgedacht, wo dieses Gefühl der Bekanntheit herkommt, bis ich mich erinnert habe, dass ich von Regen geträumt habe. Uzryuuk und ich haben uns etwas im Zimmer unterhalten und ich habe ihr von diesem Gefühl erzählt.
Sie hat meine Hände in ihre genommen und hat mir gesagt, dass sie ganz sicher sei, dass ich Visionen von der Zukunft habe.
Als ich gefragt habe, was das zu bedeuten hat, hat sie sehr kryptisch geantwortet. Sie hat gemeint, dass ich den Schlüssel, die Fragen zu beantworten und herauszufinden, was in Zukunft passieren wird, in mir trage. Ich würde wohl Dinge erfahren, die kein anderer wissen wird.
Ich habe sie gefragt, wie ich das anstellen soll. Jedoch hat sie gemeint, dass nur ich das in Erfahrungen bringen kann.
Ich mache mir Sorgen und fühle mich etwas allein und ängstlich. Was, wenn ich die Antworten auf meine Fragen nicht ertragen kann? Was, wenn ich nicht wissen will, was mit uns passiert? Mir kommt immer Gaara in den Kopf und ich mache mir auch um ihn Sorgen.
Dann habe ich meine Gedanken mit Uzryuuk geteilt und habe sie gefragt, was wäre, wenn ich die Antworten auf meine Fragen nicht ertragen könne.
Uzryuuk hat für einen kurzen Moment inne gehalten, dann hat sie meine Hand fest gedrückt und gesagt, dass sie dann möchte, dass ich weiß, dass ich nicht allein bin.

Ich möchte herausfinden, was passieren wird.

Eintrag 23
Unsere Freundschaft hat heute bewiesen, dass Offenheit eine der Eigenschaften ist, die unerlässlich dafür ist. Langsam bekomme ich das Gefühl, dass Ea und Laan mir mindestens genauso viel bedeuten wie Gaara. Allmählich entwickelt sich eine Trainingsroutine, die wieder so ähnlich ist wie vor einer Weile, als wir unsere Geschenke noch nicht bekommen haben. Übrigens weiß ich immer noch nicht, was ich mit meinem Amulett anfangen soll.
Aber vorher möchte ich vom heutigen Ereignis erzählen.
Wir haben zusammen im Hof gesessen und geredet, wie wir es manchmal tun, wenn Natoku, Servant und Uzryuuk nicht da sind.
Laan hat berichtet, dass er gehört habe, wie sich die Front langsam zurückzieht. Grübelnd hat Ea seine Hand auf sein Kinn gelegt und hat gefragt, ob das nicht bedeute, dass der Krieg näher zu uns käme. Ea hat eine sehr theatralische Art und Weise an sich, die ich manchmal sehr lustig finde. Laan befürchtet, dass Eas Vermutung aufgrund der Sachen, die ich gesagt habe, sehr wahrscheinlich sei. Laan wirkt auf mich immer sehr besonnen und entspannt, selbst wenn es um solche ernsten Themen geht. Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und versucht, alles immer sehr logisch zu betrachten. Er schätzt, dass wir bald in den Kampf geschickt werden. Servant wird es nicht geheim halten können, dass wir gute Fortschritte im Training machen.
Ich habe gefragt, was wir dann machen und musste an Gaara denken und die Möglichkeit, ihn bald wieder zu sehen.
Ea hat gefordert, dass wir einen Plan brauchen und ist aufgestanden, hat die Faust geballt und sie in die Luft gestreckt. Er will einen Plan, wie wir das alles überstehen können.
In der Hoffnung, diesem Kampf aus dem Weg gehen zu können, habe ich vorgeschlagen, dass wir uns einfach weigern, zu kämpfen.
Kühl hat Laan entgegnet, dass wir gezwungen werden und hat mir dabei tief in die Augen gesehen. Ich habe den violetten Strich in seinen Augen bemerkt, der ihm etwas Mysteriöses verleiht, jedes Mal, wenn ich ihn betrachte. Ohne den Blick von mir abzuwenden, hat Laan weitergesprochen, dass das Erste, was er wissen will, sei, wie unsere Kräfte funktionieren. Er möchte, dass wir uns gegenseitig noch besser erklären, wie unsere Kräfte funktionieren, dann könnten wir besser miteinander arbeiten. Bisher sind wir im Training immer sehr intuitiv mit den anderen umgegangen, aber wir brauchen mehr Wissen über die Fähigkeiten. Auch Ea hat festgestellt, dass wir bisher immer gegeneinander und nicht miteinander gekämpft haben und Laan hat ihn bestätigend angelächelt. Er hat vorgeschlagen, dass, wenn wir miteinander arbeiten, wir diesem Krieg vielleicht ein für allemal ein Ende setzen können. Wir müssen offener werden mit dem, was wir können. Ab sofort soll es keine Geheimnisse mehr geben, hat er verlangt.
Ea hat schelmisch gegrinst, als er den Anfang gemacht und sich dabei seine Ärmel hochgekrempelt hat. Dann hat er einmal seine Finger gedehnt, seine Hände ausgeschüttelt und seine Arme nach vorne gestreckt. Ein leichtes Leuchten hat verraten, dass gleich etwas passieren würde und kurz darauf hat sein Arm angefangen zu pulsieren. Seine Haut hat vibriert und ich habe gesehen, dass sie sich verändert hat. Im nächsten Augenblick hat sich eine harte Steinkruste darauf gebildet und es hat ausgesehen, als habe er Handschuhe aus Granit an. Danach ist das Material aufgebrochen und eine rotglühende Masse hat sich gezeigt, die ganz glatt geworden ist, nachdem sie ausgehärtet war. Nun hat sie wie Metall ausgesehen.
Ea hat beschrieben, dass er meistens an eine Eigenschaft denkt, sich dann auf einen Körperteil konzentriert und dieser sich dann verändert. Bisher hat das aber nur mit seinen Armen sehr gut funktioniert. Er hat sich anschließend gebückt und das Schwert aufgehoben, das neben ihm gelegen hat. Dann hat er den Griff aus der Scheide gezogen und nur noch den Griff in der Hand gehalten. Er hat erklärt, dass es mit dem Schwert anders klappt und als er es gerade beschrieben hat, sind Flammen aus dem Schwertgriff gestoben und haben eine Klinge geformt. Daraufhin sind die Flammen verdampft und auf einmal ist die Klinge des Schwertes so durchsichtig und flüssig wie klares Wasser gewesen. Nach seiner Vorführung hat sich Ea theatralisch verbeugt, was mich zum Lachen gebracht hat und hat Laan das Feld überlassen.
Laan ist aufgestanden und hat sich erst einmal den Staub von seinem Rock geklopft. Dann hat er nach seinem Kompass gegriffen und ihn sich vom Hals genommen. Er hat kurz gewartet, bis Ea gesessen hat und hat angefangen, uns zu zeigen, was er kann.
Er hat gezögert, was sehr ungewöhnlich für ihn ist. Normalerweise schweigt Laan, aber er weiß genau, was er sagen will. Er ist niemand, der viel unnötige Wörter braucht. Er hat erst nicht die richtigen Worte gefunden, uns dann aber erklärt, was er im Training herausgefunden hat. Er hat seine Hand zu einer Faust geballt und ein grün-leuchtendes Gitter ist darum erschienen. Dann hat er seine Hand geöffnet und das Gitter hat sich wie ein Handschuh um seine Finger gelegt. Er hat seine Finger ausgestreckt, sodass die Handfläche auf Ea gezeigt hat, dann hat er in einer schnellen Bewegung seine Hand geschlossen und gedreht, sodass nur noch der Zeigefinger auf Ea gerichtet gewesen ist. Mit einer fließenden Bewegung hat er den Finger zu sich gezogen und es hat gewirkt, als würde Ea plötzlich mit einem Seil zu Laan gezogen werden. Das hat für mich ganz witzig ausgesehen, da Ea im Schneidersitz verharrt und dabei ein belämmertes Gesicht gezogen hat. Ich habe mir das Lachen verkneifen müssen. Nach diesem Ereignis hat Ea wie ein kleiner Schoßhund neben Laan gesessen und hat ihn mit großen Augen angeblickt.
Ea ist gespannt darauf gewesen, was Laan noch kann.
Laan hat seine Gefühle beschrieben, als würde er den Raum zwischen ihm und etwas anderem überbrücken. Er schneidet ihn aus, der Raum fällt weg und ist einfach nicht mehr da. Er nimmt den Raum weg, hat er mit einfachen Worten versucht zu erklären. Es sei wie die Tatsache, dass wir auf dem Boden stehen. Man kann zwar springen, aber man wird immer wieder zurück zum Boden gezogen.
Ea hat bestätigend genickt. Dies hat auch für mich Sinn gemacht. Es ist ein schönes Gefühl, endlich zu wissen, was genau die anderen beiden eigentlich mit ihren Kräften machen. Dann hat Laan uns zwei Finger gezeigt und ich habe gemerkt, dass er nach einer Formulierung sucht, die passt.
Außerdem hat er beschrieben, dass das, was er kann, Raum hinzuzufügen ist. Mit einer wischenden Bewegung hat er Ea wieder von sich weggeschoben und diesmal habe ich wirklich lachen müssen. Es hat ihm offensichtlich nicht gefallen, als Laans Spielzeug verwendet zu werden und er hat diesmal ein ziemlich grimmiges Gesicht gezogen. Nun hat Laan seine Hand parallel zum Boden mit der Handfläche nach oben gehalten und hat dann seine Finger in einem rechten Winkel nach oben angewinkelt. Plötzlich ist er vom Boden geschwebt. Ea sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen und sein Mund ist sperrangelweit offen gewesen. Ich habe auch nicht glauben können, was ich da gesehen habe. Diese Technik hat Laan bisher noch nie im Training verwendet.
Er hat gesagt, dass er Raum hinzugefügt habe. Langsam ist er wieder zu Boden geschwebt und hat erneut ganz normal dagestanden.
Ea hat gejubelt und ist ganz neidisch gewesen, weil er das unbedingt auch können will. Laan hat jedoch Eas Worte ignoriert und hat sich wieder auf die Hand, in der er den Kompass gehalten hat, konzentriert. Er hat gemeint, dass dieser Kompass seine Orientierung sei. Er wisse, wo etwas sei, wenn er ihn benutzt. Er hat uns mit einer Handbewegung eingeladen, aufzustehen und näher zu kommen. Als wir neben ihm gestanden haben, hat er seine Hand ausgestreckt, damit wir besser sehen können, was er meint. Mit einem Klicken hat sich der Kompass geöffnet und ich habe das Innere sehen können. Er ist nicht wie ein normaler Kompass, der nach Norden, sondern nirgendwohin zeigt. Im nächsten Moment hat der Kompass ein Leuchten emittiert und eine Box ist über ihm erschienen. Innerhalb dieser leuchtenden, grünen Gitterbox habe ich eine Fläche erkannt, die wie der Palast und der Hof, in dem wir gestanden haben, ausgesehen hat. Dann habe ich drei grüne Figuren, die nah zusammengestanden haben, erkannt.
Laan hat erklärt, dass wir das seien. Er hat gemeint, dass das uns später einmal einen Vorteil verschaffen könne. Dann hat er uns gezeigt, wie wir diese Karte verwenden können. Das soll später einmal ganz hilfreich sein, hat er gemeint. Begeistert von den neuen Dingen, die Ea erfahren hat, hat er nun unbedingt wissen wollen, was ich so draufhabe.
Ich habe erst einen Moment gezögert und habe nichts sagen können. Wie funktioniert meine Fähigkeit überhaupt? Ich muss zugeben, dass mir selbst jetzt immer noch einiges unklar ist.

Ich habe erzählt, dass ich es gerne vorführen wolle, aber ich das Licht nur im Kampf verwenden könne. Es ist die Bewegung, die Energie und die Gefahr, die im Kampf das Licht aus mir herauslocken. Es ist, als würde es jetzt schlafen und später nur wach werden. Wenn dann die Energie bereit ist, konzentriere ich mich ganz stark darauf, sie freizulassen und dann nimmt sie die Formen an, wie ich es im Training gezeigt habe.
Als ich das erklärt habe, hat Ea vorgeschlagen, dass ich mich doch einmal auf eine Form konzentrieren solle, die zum Beispiel ein Schwert ist. Jedoch hat Laan eingewandt, dass ihm ein Schwert zu schwer scheint. Er hat vorgeschlagen, ich solle etwas Leichtes wie eine Kugel verwenden.
Ich habe getan, was mir die Jungs vorschlagen haben, habe die Hände ausgestreckt und versucht, mit geschlossenen Augen eine Kugel zu visualisieren. Es hat eine Weile gedauert und ich habe versucht, die Kraft irgendwie herauszukitzeln. Ich habe mir ganz klar eine Kugel vorgestellt. Dann habe ich meine Augen geöffnet und es hat tatsächlich geklappt, doch in der Sekunde, in der ich mich über meinen Erfolg gefreut habe, hat sich die Kugel aus Licht ganz schnell wieder verflüchtigt.
Laan hat mir noch etwas Training vorgeschlagen und Ea hat mich aufgemuntert, dass es immerhin echt beeindruckend sei, dass ich das schon kann.
Dann habe ich für einen Augenblick wieder über die Offenheit nachgedacht, die ich mit den Jungs zu diesem Zeitpunkt geteilt habe. Ich habe mir überlegt, wie ich den beiden meine andere Fähigkeit beschreiben soll und habe ihnen dann alles erklärt, was auch schon Uzryuuk über meine Visionen weiß. Daraufhin haben die beiden darauf bestanden, dass ich nun das ausprobieren und versuchen solle, ihnen die Zukunft zu zeigen.

Das was ich gesehen habe, habe ich ihnen nicht sagen können. Ich habe es seither geheim gehalten und habe zu jenem Zeitpunkt gemeint, dass ich es nicht geschafft habe. Jedoch – obwohl ich in jener Situation alles andere als offen gewesen bin – habe ich einen Ausschnitt ihrer Zukunft klar und deutlich vor mir gesehen. Mir bricht es fast das Herz, denn ich habe die Schattenseite einer Freundschaft gesehen. Ich habe Schmerz, den ich niemanden wünsche, gesehen. Diese Angst schnürt mir auch jetzt noch die Kehle zu und diese Worte hier niederzuschreiben, kostet mich viel Überwindung.

Meine Vision hat damit angefangen, dass Laan Ea mit aller Kraft ins Gesicht geschlagen hat. Kurz darauf ist ein Kampf mit Fäusten und schlimmen Vorwürfen entbrannt. Sie haben sich gegenseitig mit schlimmen Worten beschuldigt, die ich nicht genau wiedergeben kann. Jedoch habe ich mitbekommen, wie sie darüber diskutiert haben, etwas zu suchen und etwas zu beschützen. Laan hat gefordert, sie jetzt zu finden. Was meint er damit? Beide haben brutal gekämpft, sich geschlagen und haben versucht, sich zu verletzen. Dabei sind sie in die Luft gesprungen, haben sich von einem zum nächsten Ort geschleudert und sich gegenseitig zu Boden geworfen. Der Kampf ist über eine lange Zeit gegangen und ist immer brutaler und schlimmer geworden. Ich habe versucht, während der Vision wegzuschauen, habe es aber nicht gekonnt. Mein Blick ist ständig wieder auf den Kampf und das Leid der beiden gerichtet worden. Tränen und Blut sind geflossen und irgendwann haben beide für einen Moment innegehalten – endlich, als sie durchgeschnauft haben, weil sie all ihre Energie in diesem Kampf aufgebraucht haben. Dann haben sie sich wieder angeschrien. Ich habe nicht gesehen, wie der Kampf geendet hat, da meine Vision unklarer geworden ist und ein Ende gefunden hat.

Bedeutet dies, dass wir irgendwann keine Freunde mehr sein werden?

Eintrag 24
In den vergangenen zwei Wochen haben wir sehr hart trainiert. Uzryuuk und den anderen ist aufgefallen, dass wir nun härter gegeneinander kämpfen. Jedoch liegt das daran, dass wir geübt haben, zusammen zu kämpfen. Jede Sekunde, in der die drei in Besprechungen gewesen sind, haben wir ausgenutzt, um unseren Plan zu schmieden. Ich werde hier keine Details schreiben. Das Risiko, dass jemand dieses Buch findet, ist auch ohne diese Geheimnisse gefährlich genug. Jetzt fühlen wir uns bereit, uns dem Ernstfall zu stellen.

Eintrag 25
Uzryuuk hat mich heute Morgen – wie üblich – von meinem Zimmer abgeholt. Ihr Blick hat mir verraten, dass heute kein normaler Tag ist. Vor der Tür haben zwei Männer gewartet, die ich bisher noch nicht gesehen habe. Wie immer haben sie mich hinaus in den Hof geführt, wo Laan und Ea schon gewartet haben. Die beiden haben, wie Servant und Natoku auch, keinen glücklichen Eindruck auf mich gemacht. Auf dem Hof hat sich ebenfalls eine Gruppe von Männern befunden, die in auffälligen, edlen Gewändern, welche aus einer leichten und mit goldenen und silbernen Mustern bestickten Seide gewesen sind, bekleidet gewesen sind. Mir ist sofort aufgefallen, dass es sich nur um Männer gehandelt hat, die sich gerade noch leise über irgendwelche Unterlagen unterhalten haben. Dann haben sie sich zu uns umgedreht. Ich bin kurz erschrocken, als ich Miraa inmitten dieser Gruppe entdeckt habe.
Er hat keinen guten Eindruck gemacht. Er ist ganz abgemagert gewesen, hat dunkle Ringe unter seinen Augen gehabt und sehr müde gewirkt. Was haben sie ihm nur angetan? Ich habe versucht, mir nicht anmerken zu lassen, dass wir uns kennen. Ich habe auch versucht, mir nicht anmerken zu lassen, dass in diesem Augenblick ein unbeschreiblicher Schmerz durch meinen Körper gefahren ist, weil ein Gedanke in mir eine Sehnsucht geweckt hat, die nicht hat gestillt werden können. In diesem Moment habe ich so sehr gewollt, dass Gaara an meiner Seite steht, um mich zu beschützen.
Schnell habe ich versucht, meine Gedanken wieder zu klären, damit ich mich auf die anderen und meinen Plan konzentrieren kann. Laan hat mir unauffällig zugenickt. Es ist soweit gewesen.

Wir haben uns in einer Reihe aufgestellt. Die Männer haben sich offensichtlich über uns unterhalten. Ich habe versucht, die Details dieser Gespräche auszublenden. Wichtig ist nur gewesen, dass wir haben getestet werden sollen und wir haben beweisen wollen, dass wir bereit sind.

Ich nehme an, dass Servant, Uzryuuk und Natoku schon im Vorherein etliche Details unseres Trainings haben preisgeben müssen, deswegen liegt es nahe, dass nun unsere Fertigkeiten in einem Showkampf haben bewiesen werden müssen. So hat Laan es auch vorhergesehen. Also ist uns befohlen worden, uns auf Position zu begeben und zu zeigen, wie stark wir sind.
Wie Marionetten haben wir einen Trainingskampf vorgeführt, der einen sichtlichen Eindruck bei den Männern hinterlassen hat. Dass wir diesen Kampf vorher schon einstudiert haben, ist keinem aufgefallen. Also haben wir uns gegenseitig mit allem, was wir können, attackiert. Ea hat sein Schwert verwendet, Laan hat uns durch die Gegend geschleudert und ich habe beide Jungs mit Pfeilen aus Licht getroffen. Unsere Kleidung ist schmutzig, löchrig und verkohlt gewesen. Laan hat Ea einmal so hart ins Gesicht geschlagen, dass er hat Blut spucken müssen (was auch einstudiert gewesen ist; Ea hat sich quasi freiwillig dafür aufgeopfert). Wir haben uns mit aller Kraft angegriffen.
Uzryuuk hat mich dabei unentwegt angestarrt. Sie hat überrascht ausgesehen, als ich alles gegeben habe. Sie ist schockiert gewesen, dass ich mich voll auf den Kampf eingelassen habe.
Als wir fertig gewesen sind, haben sich die Männer gegenseitig beklatscht und haben sich eifrig die Hände geschüttelt, während sie sich allen Erfolg zugesprochen haben. Servant und Natoku haben sich stolz auf die Schulter geklopft, während Uzryuuk dabei ausgelassen worden ist. Für einen kurzen Moment hat Miraa neben mir gestanden und hat ganz leise geflüstert, in einem Ton, den ich nicht habe zuordnen können:

„Du wirst uns alle beschützen.“

Ich habe darauf nicht reagieren können, denn die Männer haben das Training abgebrochen und wir sind auf unsere Zimmer geschickt worden. Es hat den Anschein gemacht, als würde ich Ea und Laan morgen nicht sehen. Als wir weggeführt worden sind, hat sich Ea nach mir umgedreht und gegrinst. Auch Laan hat mir zufrieden zugenickt. Unser Plan wird wohl aufgehen. Ich hoffe es zumindest.

Auf dem Zimmer angelangt, habe ich endlich mit Uzryuuk sprechen können. Schon den ganzen Tag habe ich mit ihr über eine Vision sprechen wollen, die ich letzte Nacht gehabt habe. Bevor ich jedoch darüber habe sprechen können, hat sie besorgt wissen wollen, was wir während des Trainings getrieben haben.
Natürlich habe ich erst so getan, als ob ich nichts über unseren Plan gewusst habe und habe gefragt, was sie damit meint.
Sie hat erkannt, dass wir anders gekämpft haben als sonst. Das hat sie beobachtet und während sie sich auf das Bett gesetzt hat, hat sie mich gefragt, was das solle.
Ich habe erst gezögert. Uzryuuk kennt mich inzwischen schon eine Weile. Es ist klar, dass sie mich früher oder später durchschauen wird.
Als ich erklärt habe, dass wir haben beweisen wollen, dass wir bereit sind, habe ich schnell das Thema gewechselt. Ich habe zu ihr gesagt, dass ich ihr von meiner Vision erzählen will, die von ihr gehandelt hat. Mit besorgter Stimme hat sie mir vorgeworfen, dass ich doch wissen müsse, was sie mit uns anstellen werden. Als ich wiederholt habe, dass ich das weiß, habe ich mich wieder der Vision über Uzryuuk zugewandt. Ich habe gefordert, dass sie mir genau zuhören solle, denn es ist ganz wichtig, dass sie in der Zukunft genau das tut, was ich gesehen habe. Jetzt endlich hat sie für einen Moment innegehalten. Ich habe mich in diesem Moment sehr selbstbewusst gefühlt, so selbstbewusst wie noch nie. Das liegt nicht nur daran, dass wir diesen Plan haben, sondern auch daran, dass ich diese Visionen habe. Zwar weiß ich nicht, was mit mir passieren wird, aber ich kann sehen, was mit Ea, Laan, Uzryuuk und auch den anderen geschehen wird. Vielleicht kann ich somit einen Teil beitragen, dass es allen gut geht und dass keiner mehr in diesem Krieg verletzt werden muss.

Uzryuuk hat zunächst nicht geantwortet, also habe ich ihr einfach erklärt, was ich gesehen habe. Sie hat eine Gruppe von Menschen zu sich hereingebeten. Sie hat Kaffee, Tee und eine Unterkunft angeboten. In dieser Gruppe hat sich der Junge befunden, der aussieht wie Gaara. Dann habe ich ihr erklärt, dass sie jedem eine Art „Prophezeiung“ erzählen muss. Zwar weiß ich nicht warum, aber ich habe es als sehr wichtig empfunden, dass sie genau diese Worte sagen muss, also habe ich ihr eine Art Drehbuch diktiert.
Als sie nachgefragt hat, wer diese Leute seien, habe ich ihr geantwortet, dass ich es nicht weiß. Ich habe betont, dass ich es als ganz wichtig empfinde, dass sie diesen Menschen genau jene Worte sagen muss.
Daraufhin hat sie wissen wollen, ob ich der Meinung bin, dass andere wichtige Ereignisse darauf aufbauen. Auch jetzt kann ich es nicht erklären, aber ich habe ihr bestätigt, dass es sich genau so anfühlt. Sie hat diese Antwort hingenommen und nicht weiter hinterfragt. Dann hat sie wissen wollen, was mit Natoku und Servant sein wird.
Ich habe ihr beschrieben, dass ich sie woanders gesehen habe, dass jedoch immer dieser eine Junge dabei eine Rolle spielen wird. Uzryuuk hat festgestellt, dass er ganz wichtig zu sein scheint. Ich habe ihr erklärt, dass es da eine besondere Verbindung zwischen ihm und mir gibt. Liegt es vielleicht daran, dass er aussieht wie Gaara? Ist er Gaara? Aber das kann nicht sein, da er viel jünger ist als Gaara jetzt. Vielleicht handelt es sich um seinen Sohn. Falls ich noch mehr Visionen haben werde, werde ich sie Uzryuuk sofort erzählen. Ich habe das Gefühl, dass noch etwas Großes passieren wird. Ich habe sie darum gebeten, sich darum zu kümmern, dass das alles so passiert, wie ich es sehe. Sie hat mir versprochen, dass sie genau das versuchen wird und hat sich noch einmal dem zugewandt, was heute passiert ist. Ohne auf Details einzugehen, habe ich sie um ihr Vertrauen gebeten. Sie solle sich keine Sorgen machen. Sie hat wieder angesetzt, mich zu überreden, doch ich habe wiederholt den Kopf geschüttelt. Dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen, hat sie den Raum verlassen. Sie dazu zu zwingen, mir blind zu vertrauen, fühlt sich auch jetzt noch merkwürdig an. Jedoch ist es aber so wichtig. Vielleicht ist das Geschehene für sie auch etwas zu viel gewesen. Vielleicht hat auch sie starke Zweifel an allem. Im Moment fühlt es sich so an, als wäre ich etwas über mich hinausgewachsen. Sie hat mich bisher immer geleitet und beschützt, doch nun will ich sie leiten und beschützen. Ich fühle mich in der Lage, alle zu beschützen.

Gerade habe ich aus meinem Fenster gesehen. Rauchschwaden steigen gen Himmel. Der Krieg ist nah.

Eintrag 26
Gaara ist wieder da. Es ist mitten in der Nacht und gerade ist er wieder verschwunden. Ich muss das nun schreiben, weil ich das Gefühl habe, dass ich vielleicht keine Chance mehr haben werde, in dieses Buch zu schreiben.

Plötzlich hat er in meinem Raum gestanden. Wie früher ist er wohl über das Fenster hineingeklettert. Leise hat er mich aufgeweckt und bevor ich etwas habe sagen können, hat er mit einem Finger vor seinen Lippen signalisiert, dass ich still bleiben soll.
Seine Haare und sein Bart sind länger geworden. Er trägt die Rüstung eines Kriegers. Sein neugieriger Blick, dem einst die Welt nicht groß genug hat sein können, hat sich zu einem düsteren, strengen Ausdruck verändert. Er ist im Krieg gewesen und hat wahrscheinlich schreckliche Dinge sehen und tun müssen. Er hat mir nichts erzählen müssen, damit ich verstanden habe, dass die Welt, in die er sich einst mit offenen Armen hat stürzen wollen, ihm das Rückgrat gebrochen hat. Wie schlimm kann es da draußen sein, dass es einen einzelnen Mann so verändern kann?
Außerdem verstehe ich nun, dass der Krieg nicht nah ist – er ist hier.

Ohne Zeit für eine unnötige Begrüßung zu verlieren, hat er zu mir gesprochen und gesagt, dass sie mich als Waffe verwenden werden.
Ich habe gesagt, dass ich davon weiß und wir uns wehren werden.
Er hat nach dem „wir“ gefragt.
Ich habe erzählt, dass ich die anderen kennengelernt habe und wir viel trainiert haben.
Gaara hat aus dem Fenster gesehen und nachdenklich genickt. Die Front sei hier. Er hat erklärt, dass er zurückgezogen worden ist, nachdem er an etlichen Fronten die gegnerische Armee immer wieder abgewehrt hat. Sie wollen, dass er den morgigen Einsatz hier leite. Die Stadt darf nicht fallen. Hier leben so unfassbar viele unschuldige Menschen, die mit diesem Krieg nichts zu tun haben. Er hat geschworen, dem Krieg ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.
Knapp habe ich gesagt, dass wir ebenfalls kämpfen werden. Gaara hat mich gewarnt, dass wir das nicht dürfen. Sie werden unsere Macht missbrauchen. Ich habe erwidert, dass sie das nicht werden. Ich habe gesagt, dass wir einen Plan geschmiedet haben. Jetzt, wo Gaara wieder hier ist, fühle ich mich sicher. Deswegen habe ich ihm den Plan geschildert. Er hat daraufhin zu Bedenken gegeben, dass dieser Plan viel zu riskant sei. Er hat meine Hände genommen und mir dabei besorgt in die Augen gesehen. Er hat Angst, dass mir etwas zustoßen wird. Ich habe erklärt, dass anderen etwas Schlimmeres passieren wird, wenn wir nicht handeln. Wir haben eingesehen, dass wir eine Macht haben, die keiner mit uns teilt. Diese Macht wird uns helfen, Dinge zu verändern. Ich habe Laan und Ea von der Welt erzählt, die Gaara mir geschildert hat. Wir haben die Macht, all dem Bösen ein Ende zu setzen und allen Menschen eine Welt zu ermöglichen, die so schön ist, wie Gaara sie mir einst beschrieben hat.
Er hat mir tief in die Augen gesehen und für einen Moment haben wir nicht gesprochen. Dann, nach diesem stillen, friedlichen Moment, hat er sich von mir abgewandt und mich gefragt, ob er mich abhalten kann.
Ich habe verneint. Wir haben diesen Plan geschmiedet und ich werde mich daran halten – jetzt, wo Gaara wiedergekehrt ist, noch mehr als vorher.

„Pass auf dich auf.“

Das hat er mir gesagt, als er sich verabschiedet hat und hat gemeint, dass wir uns morgen auf dem Schlachtfeld sehen werden. Gaara ist wieder aus dem Fenster gestiegen.

Gaara ist wieder da. Wahrscheinlich werde ich heute Nacht keinen Schlaf finden. Mir gehen viel zu viele Gedanken durch den Kopf. Vielleicht hilft etwas Meditation. Dadurch kann ich vielleicht auch den Ausgang des Krieges in einer Vision sehen. Ich werde es gleich versuchen.

Es dauerte eine Weile, bis Takeru alles vorgelesen hatte, was dort drinstand. Alayna hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren und wusste nicht mehr, wie lange sie dort auf dem kalten Boden in der Höhle gesessen und diese Geschichte gelesen hatten. Was hatte das alles zu bedeuten? Wer waren diese Personen, die darin vorkamen, neben Ea und Laan? Sie hatte das Gefühl, dass die Antwort für alles gerade vorgelesen worden war, konnte aber damit nichts anfangen.
Mit erwartungsvollen, großen Augen sah ihr Bruder sie an und für einen Augenblick sagten sie nichts. Die Stille umarmte beide wie die Dunkelheit, die sie umgab. Dann auf einmal war etwas zu hören, das die Aufmerksamkeit beider weckte. Wenn jemand diese Tasche und das Buch zurückgelassen hatte, musste er sicherlich noch hier sein.

 

Kapitel 55 – Die Opferung

Kapitel 55 – Die Opferung

Als Takeru die Einträge des Tagebuchs zu Ende gelesen hatte, verweilten die Geschwister für einen Moment in absoluter Stille. Noch nie hatte das Tagebuch so viele Einträge auf einmal gezeigt und nun stand so viel dort drin.
Dann schreckte Takeru auf einmal aus seiner nachdenklichen Trance auf und blätterte wie wild durch das Buch, in der Hoffnung, noch einen Hinweis zu finden. Doch am Ende entdeckte er nur die Papierfetzen, auf denen er die anderen Einträge abgeschrieben hatte. Sie waren immer noch so sortiert, wie er sie hineingelegt hatte.

Wie lange habe ich nur nach Ginta gesucht und ihn endlich gefunden?

Heute haben wir uns alle wieder getroffen. Oto hat sich entschieden, zusammen mit diesem Ama in Yofu-Shiti zu bleiben. Schade, sie war eigentlich ganz nett.
Ginta ist ziemlich zerstreut gewesen, nachdem er erfahren hat, dass Ryoma einfach verschwunden ist. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass sie ziemlich gute Freunde sind. Dass er jetzt weg ist, tut sicherlich weh. Ich hoffe für Ginta, dass sie sich wiedersehen können.
Dann haben wir unsere Reise fortgesetzt. Ginta ist ziemlich still.

Ich bin froh, nicht allein zu sein.

Ama ist sehr still. Das mag ich an ihm. Ich denke, ich kann mich gut mit ihm verstehen. Außerdem ist er stark und mag Oto sehr.

Ama hat mir von seiner Geschichte erzählt. Es muss schwer sein, seine Familie auf einmal zu verlieren. Wo ist meine Familie?

Nun fällt es mir erst richtig auf. Sayoko habe ich damals als ziemlich zurückhaltend und distanziert erlebt. Sie ist nie jemand, der es darauf angelegt hat, mit jedem eine Freundschaft aufzubauen. Aber wenn ich sie jetzt sehe, wie sie sich um Tsuru, Jumon und auch Ginta kümmert, da wird mir warm in der Brust. Sie ist wie eine Mutter, die ihre Kinder liebt. Nur dass wir alle „Waisen“ sind, als Ziel ein unbestimmter Weg.
Was bedeutet es, eine Mutter zu haben?

Wir haben heute eine kleine Pause eingelegt. Jumon hat mir ein Buch gegeben, als er gesehen hat, dass ich mich etwas langweile. Ich habe darin gelesen und er hat sich ganz ruhig neben mich gesetzt und ebenfalls gelesen.

Tsuru ist heute beim Essen einfach verschwunden. Wir haben sie in der Stadt ewig gesucht und zum Glück am Ende des Tages gefunden. Ginta und Sayoko haben sich unglaubliche Sorgen gemacht. Es herrscht eine merkwürdige Spannung gerade. Ob wir die Forderungen von Riven Kire wirklich einhalten können?


„Aber wie geht es weiter? Sind sie in den Krieg gezogen?!“, wollte Takeru aufgeregt wissen, der wieder zu dem langen Tagebucheintrag zurückblätterte. Es fühlte sich schrecklich an, nicht zu wissen, wie diese Einträge weitergingen.
„Wenn sie nichts mehr darin schreiben konnte, ist sie wahrscheinlich in den Krieg gezogen“, vermutete Alayna. Dabei hatte sie eine ruhige, nachdenkliche Stimme, als ob sie eigentlich etwas ganz anderes beschäftigen würde.
„Ea und Laan wissen sicherlich, wie die Geschichte ausgeht“, stellte Takeru fest und blätterte weiter zurück. „Sie hatten einen Plan geschmiedet. Aber hier steht nichts über den Plan. Sie haben sicherlich etwas mit dem Schwert, dem Kompass und dem Anhänger gemacht.“
Alayna reagierte nicht auf das, was er sagte, was Takeru etwas verwunderte.
„Alayna, hast du gehört?“
Seine Schwester gab zunächst nur ein schwaches „Mhh“ von sich, sprach dann aber von etwas ganz anderem: „Sie war verliebt.“
„Alayna, wir müssen über so viel mehr reden, als darüber, dass sie verliebt war!“, schimpfte Takeru erzürnt. Wie konnte sie in diesem Moment nur darüber nachdenken?
„Aber denk doch einmal darüber nach“, entgegnete sie. „Wenn sie ihn geliebt hat, besteht doch eine kleine Chance, dass sie sich damals an den Plan nicht gehalten hat, oder?“
Merkwürdigerweise ergab das Sinn. Takeru wusste, dass Menschen, wenn sie emotional agierten, ganz merkwürdige Entscheidungen trafen. Dennoch war das eine Information, die sie erst in Erfahrung bringen mussten.
„Aber eines nach dem anderen“, fing Takeru an zu erklären. „Wenn wir wirklich herausfinden wollen, was passiert ist, dann müssen wir Ea und Laan finden. Die erzählen uns das bestimmt. Weißt du, Ea schien auch immer auf der Suche nach etwas zu sein. Er war immer ganz fixiert auf den Kompass und das Tagebuch. Vielleicht hatte er Hoffnung, selbst etwas darüber zu erfahren, was in dem Tagebuch steht?“
„Aber wenn ihm das Schwert und Laan der Kompass gehört, warum wollten sie es dann nie zurück haben?“, wunderte sich Alayna, die nun auf Takerus Vermutungen einging.
„Ich weiß nicht, warum Ea das Schwert von Eimi nicht zurückhaben wollte“, murmelte Takeru mehr zu sich selbst. „Aber Laan kam nie dazu, den Kompass zu nehmen. Jedes Mal, wenn ich Laan gesehen habe, hat er mit Ea gekämpft.“
„Das klingt so, als hätten sie Streit“, seufzte Alayna, die aus der ganzen Geschichte nicht schlau zu werden schien. „Aber was ist mit dem dritten Gegenstand? Was ist mit dem Anhänger, den Shiana bekommen hat?“
Der Anhänger in Form einer Feder hatte Fähigkeiten, von denen keiner wusste.

Irgendwo hörte man ein sanftes Tropfen von Wasser. Dann fiel es Takeru plötzlich ein. Ein eiskalter Schauer lief seinen Rücken entlang und paralysierte ihn. In diesem Augenblick fiel es ihm ein. Er wusste, was mit dem Anhänger war. Er wusste zwar nicht, wo er war, aber er wusste, wer ihn hatte. In dem wenigen Licht, das der Kompass immer noch emittierte, erkannte Alayna, dass Takerus Augen weit aufgerissen waren.
„Was ist?“, fragte sie besorgt.
„Papa“, sagte Takeru nur und schlug dabei das Tagebuch zu. Er presste es fest an seinen Bauch, was etwas unangenehm war, weil die spitzen Ecken des Buchdeckels sich in seine weiche Haut bohrten. Jedoch ignorierte er das.
 „Was? Papa?“, wiederholte Alayna und rutschte etwas näher zu ihrem Bruder. Sie rieb sich die Oberarme, als würde sie frieren. Im Vergleich zu der Hitze der Wüste war es in dieser Höhle plötzlich ziemlich kalt geworden.
„Der Anhänger ist bei Papa. Ich habe ihn ein- oder zweimal gesehen, bei seinen Sachen“, erklärte Takeru. „Weißt du noch, dass er in seinem Büro auf seinen Regalen so kleinere Kisten hatte, wo er alles Mögliche drin aufbewahrte? Ich habe einmal nach etwas Bastelmaterial gesucht und bin in einer der Kisten über diesen Anhänger gestoßen.“
„Sicher, dass es der Anhänger aus dem Tagebuch war?“, wunderte sich Alayna. „Woher kannst du sicher sein, dass es genau der war?“
„Diese Beschreibung passt genau: Eine Feder aus einem türkisenen Material, er hing sogar an einer Kette!“
„Aber du kannst dir doch nicht sicher sein, oder?“
„Alayna, denk doch einmal nach. Das Tagebuch zeigt zwar diese Einträge, die auftauchen und verschwinden, wie sie wollen, aber wir wissen jetzt, dass der Anhänger eine besondere Macht hat, genauso wie das Schwert und der Kompass. Was, wenn jemand anderes noch von dem Anhänger wusste? Was, wenn das der wahre Grund ist, warum Papa verschwunden ist und unser Zuhause in Flammen aufging?“, versuchte Takeru seine Schwester von dieser Theorie zu überzeugen.
„Wenn das stimmt, ist Papa in Gefahr“, erkannte Alayna und fuhr sich frustriert durch die Haare. „Takeru, warum ist jetzt so viel im Tagebuch erschienen und vorher immer nur so wenig?“
Das hatte sich Takeru auch schon gefragt. Also nahm er sich die Zettel mit seinen Notizen heraus und sah sie sich im schwachen Licht des Kompasses genau an. Als er sie betrachtete und eine nach der anderen auch Alayna reichte, kam ihm eine weitere Theorie in den Sinn.
„Fällt dir auch auf, dass die Einträge immer mit Personen zu tun haben, die wir kurz darauf getroffen haben?“, vermutete Takeru und wartete gespannt auf die Reaktion seiner Schwester.
„Wie meinst du das?“
„Ich meine, dieser Eintrag über Jumon und dieser Eintrag über Tsuru, sie erschienen kurz bevor wir beide kennengelernt haben.“
„Aber bei diesen Einträgen über Ama und Oto war das nicht der Fall. Wir haben sie doch viel später kennengelernt“, entgegnete Alayna, die von der Theorie nicht ganz überzeugt war.
„Denk mal nach, wir haben doch heute Ea und Laan gesehen und siehe da, in den Einträgen wurde ganz viel über sie erzählt.“
„Ich bin mir da nicht so sicher, Tak“, beschwichtigte Alayna ihn. Sie hatte irgendwie recht, diese Theorie war nicht ganz ausgereift, weil sie nicht auf alle Einträge übertragbar waren. Es musste jedoch irgendetwas zu bedeuten haben, oder?
„Warum haben wir Jumon und die anderen nie gefragt, ob sie diese Person kannten? Du weißt schon, die Person, die das Tagebuch geschrieben hat, Shiana“, fügte Alayna hinzu. „Vielleicht hätten wir schon viel früher etwas über sie erfahren können.“
„Du warst doch eine der ersten, die den Freunden von Papa nicht vertrauen konnte“, warf Takeru ihr vor. Der Gedanke, dass sie schon viel früher etwas über den Aufenthaltsort ihres Vaters und das Geheimnis des Tagebuchs hätten erfahren können, frustrierte Takeru ungemein. Hätten sie ihre Reise viel schneller hinter sich bringen und ihren Vater schon längst finden können? Bei dem Gedanken drehte sich alles in seinem Kopf und er ließ dieses Wirrwarr schnell irgendwo in einer dunklen Ecke seines Bewusstseins allein vor sich hin wirbeln. Die momentane Situation schien so chaotisch und aussichtslos, dass er sich nicht leisten wollte, dadurch noch mehr schlechte Laune zu bekommen.
Alayna reagierte aber nicht auf diese Worte. Stattdessen rutschte sie von ihrem Bruder weg und wandte sich etwas von ihm ab. Hatte er nun wieder etwas Falsches gesagt?
„Alayna, ich …“, setzte er an, schaffte es aber nicht, sich zu entschuldigen.
„Hast du jemals mit dem Gedanken gespielt, dass Papa freiwillig gegangen ist?“, fragte Alayna plötzlich.
Das hatte Takeru nicht erwartet. Normalerweise würde er nun an die Decke gehen und sich aufregen, was das zu bedeuten hätte, jedoch riss er sich irgendwie zusammen und versuchte, sich nicht unnötig aufzuregen. Warum sagte sie das jetzt? Warum hatte sie diesen Gedanken vorher noch nie mit ihm geteilt? Es war so verletzend, so etwas aus ihrem Mund zu hören, wo er doch die Hoffnung hatte, seinen Vater wiederzufinden und alles wieder in Ordnung zu bringen. Doch vielleicht war es gar nicht das, was Alayna sagte, was ihn so verletzte, sondern die Angst dahinter, dass es vielleicht der Wahrheit entsprechen könnte. Wären dann all seine Anstrengungen umsonst gewesen, wenn dies stimmte?
„Wenn diese ganzen Geschichten über Papa und die Rettung der Welt stimmen sollten, wäre es doch auch naheliegend, dass er losgezogen ist, um noch einmal die Welt zu retten. Vielleicht hat er den Anhänger gepackt und ist gegangen, um etwas zu tun?“, versuchte er mit dem Gedanken Alaynas warm zu werden. Wenn er diese Theorie jetzt zu seiner eigenen machte, konnte sie ihn nicht verletzen. Außerdem war er so der Lösung dieses Rätsels vielleicht doch einen Schritt nähergekommen. „Wir müssen ihn finden. Wenn er den Anhänger hat, um die Welt zu retten, dann schafft er das allein nicht. Er ist in Gefahr!“
„Tak, ich habe einfach keine Kraft mehr. Wir finden keine Hinweise über Papa, Toni hat etwas von einem aufkommenden Krieg gesagt und ich glaube, wir haben etwas Besseres zu tun, als irgendwelchen Phantomen hinterherzujagen. Meinst du nicht, wir sollten den anderen helfen, diesen Krieg aufzuhalten?“
„Du möchtest gar nicht mehr nach Hause, mh?“, warf er ihr vor. In seiner Stimme hörte man heraus, dass er beleidigt war. „Papa kommt vielleicht nie wieder nach Hause und das ist dir egal.“
„Nein, ist es mir nicht“, sagte Alayna schwach. „Hör zu, ich habe keine Energie mehr, mit dir darüber zu streiten. Es geht hier um die Sicherheit von so vielen Menschen. Sind wir nicht verpflichtet, etwas beizutragen, damit jeder sicher leben kann?“
„Wir sind schon so weit gekommen. Wir haben diesen neuen Eintrag im Tagebuch, das wir endlich wieder gefunden haben. Wir sind näher, als wir jemals waren!“, entgegnete Takeru aufgebracht. Jetzt konnte er sich einfach nicht mehr zurückhalten.
„Tak, wenn du Papa unbedingt suchen willst, werde ich dich nicht mehr aufhalten“, gab Alayna auf, ihn zu überreden. „Es gibt Wichtigeres zu tun, das weißt du. Ich gehe zumindest zurück zur Stadt. Kioku und Eimi sind sicherlich schon mit ein paar Hinweisen wieder zurück im Hotel.“
„Dann werde ich Papa suchen! Als erstes werde ich diese Tasche nehmen und herausfinden, wer das Tagebuch so lange mit sich herumgetragen hat.“
Er war überzeugt, dass er dem Ziel so nah wie noch nie war. Plötzlich stand Alayna auf, schenkte ihm einen letzten Blick und ging zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie verabschiedete sich nicht und ging. Jetzt war Takeru, der ihr noch verwundert hinterher sah, auf sich allein gestellt, die Höhle weiter zu erforschen. Mit dem Kompass in der Hand beleuchtete er einen Pfad, dem er tiefer in die Höhle folgte.

Als Alayna sich wieder durch die enge Felsspalte presste, um zurück zum Anfang der Höhle zu gelangen, fingen ihre Zweifel an, stärker zu werden. All die Überredungsversuche hatten nie etwas gebracht, daher hatte sie darauf gehofft, dass, wenn sie sich einfach still verzog, es so viel Wirkung auf ihren Bruder hätte, dass er sich doch anders entscheiden würde. Anscheinend half es nichts.
Was, wenn ihm jedoch etwas passierte? Wie sollte sie jemals vor ihrer Mutter und ihrem Vater erklären, dass sie ihren Bruder einfach allein gelassen hatte?
Es ging aber nicht mehr. Wie sie gesagt hatte, hatte sie einfach keine Energie mehr dafür, ihren Vater zu suchen.
Dann, ganz plötzlich, hörte sie ein ganz merkwürdiges Geräusch, das durch das Echo so verzerrt war, dass sie es nicht richtig definieren konnte. Jedoch war dieser melodische Klang so unheimlich, dass sie plötzlich Panik bekam. Handelte es sich dabei um das Wesen, was das Tagebuch mit sich getragen hatte? War Takeru jetzt schon in Gefahr?
Sie hielt inne, um zu lauschen, ob sich dieses Geräusch wiederholte, oder um zu beweisen, dass sie sich getäuscht hatte. Einen Moment lang hielt sie ihren Atem an, was sie ihren eigenen Herzschlag stärker spüren ließ, der sich wegen der Aufregung gerade beschleunigte.
Kurz darauf wiederholte sich das Geräusch, diesmal intensiver und brutaler, gefolgt von einem merkwürdigen Platschgeräusch. Es handelte sich nicht um einen Schrei, klang aber so ähnlich. Falls ihr Bruder für diese Geräusche verantwortlich war, wüsste sie nicht, wie er sie erzeugte, da sie so unmenschlich klangen. Ein tiefes Grölen wurde schnell zu einem eher spitz klingenden Jaulen, das begleitet von Platschgeräuschen darauf hindeutete, dass sich etwas im Wasser abspielte. War Takeru ausgerutscht, ins Wasser gefallen und kam von allein nicht mehr heraus? Sie musste sofort wieder zurück!
Sie steckte gerade mitten in der Felsspalte und war an einer Stelle, bei der sie ihren Kopf nicht drehen konnte, also presste sie sich so schnell es ging wieder rückwärts zu der Stelle, wo sie das Tagebuch gefunden hatten. Ohne das schwache Licht des Kompasses konnte sie kaum etwas sehen, also tastete sie sich vorsichtig, Schritt für Schritt, an der Wand entlang und stolperte dabei über einen Stein. Sie fiel hin und sie kam sehr ungemütlich auf dem kalten, scharfkantigen Boden auf. Sie spürte, dass an ihren Unterarm einige Kratzer anfingen zu bluten, ignorierte den Schmerz aber, als sich das unheimliche Geräusch ein drittes Mal wiederholte. Sie zog sich wieder nach oben und tastete sich nun etwas vorsichtiger an der Wand entlang, achtete aber darauf, sich zu beeilen. Schnell entdeckte sie eine neue Felsspalte, durch die sie sich nun hindurchdrückte. Dahinter befand sich ein fast zylindrischer Gang, dem sie schnell folgte.
Ihre Augen gewöhnten sich zunehmend an die Dunkelheit, was ihr ermöglichte, sich noch schneller zu bewegen. Es dauerte nicht lang, da endete der Gang an einer Felswand. Ein leichter Lichtschimmer auf Bodenhöhe signalisierte jedoch, dass es einen weiteren, sehr niedrigen Gang gab. Sie begab sich auf alle Viere und sah durch den Eingang, der so niedring war, dass sie hindurchkrabbeln musste. Zum ersten Mal rief sie den Namen ihres Bruders, um herauszufinden, wo er steckte.
Als keine Reaktion darauf kam, krabbelte sie durch den niedrigen Gang und folgte dem Licht. Unter ihren Händen spürte sie flache Pfützen von Wasser. Die Temperatur sank auf einmal. Hier unten in der Höhle schien die Hitze der Wüste nicht mehr hinzugelangen. Als sie den brennenden Schmerz ihrer Kratzer wieder spürte, die in unregelmäßigen Intervallen signalisierten, dass ihr Körper verletzt war, dachte sie merkwürdigerweise daran, ob sich hier unten auch irgendwelche Tiere zurückzogen, falls sie die Hitze der Sonne nicht mehr ertragen konnten. Stammte das Geräusch von einem Tier?
Dann wiederholte sich das Geräusch wieder, diesmal lauter, intensiver. Der schmale Tunnel verstärkte das Geräusch unermesslich, dass es nun schon im Ohr vibrierte. Für einen Augenblick hielt Alayna regungslos an und verharrte, weil ihre Angst stark war. Was auch immer sie vorfinden würde, sie musste sich beeilen. Also krabbelte sie weiter, während das Geräusch diesmal nicht verebbte, sondern nun durchgehend lärmte.
Am Ende dieses Kriechganges kam Alayna durch eine weitere Öffnung. Am Ende dieses Kriechganges kam Alayna durch eine weitere Öffnung. Auf der anderen Seite sah sie ihren Bruder, der bäuchlings auf dem Boden lag – der Kompass halb unter ihm begraben, sodass man sein Licht nur erahnen konnte – und durch eine kleine Öffnung in der Felswand sah, aus der Licht schien. Genauer genommen befanden sich in dem Gang, der gerade so hoch war, dass Alayna gebückt hindurchgehen musste, mehrere Öffnungen in der Wand, die wie kleine Fenster wirkten, da aus jedem von ihnen ein feiner Lichtschimmer schien. Um mit ihrem Bruder zu sprechen, musste sie nah an ihn heran, weil dieses Wesen so laut war, dass man sein eigenes Wort nicht verstand. Er schien sie nicht zu bemerken, da er weiterhin regungslos dalag. Als sie ihn vorsichtig an der Schulter berührte, zuckte er erschrocken zusammen.
„Ich kann kaum etwas sehen, aber dort unten sind Menschen und ein Wolf“, sagte er, obwohl die Geräuschkulisse laut war. Dann deutete er auf eine der Öffnungen und Alayna legte sich ebenfalls auf den Boden, um zu sehen, was dort geschah.
Es wirkte so, dass der Raum, in den sie blickte, ein Stockwerk tiefer lag, als sie und ihr Bruder sich nun befanden. Der fast perfekt rechteckige Raum wurde durch zwei Kerzen ganz leicht beleuchtet. In manchen Ecken fiel so ein tiefschwarzer Schatten, dass man nicht mehr erkennen konnte, was sich dort befand. Durch den Winkel, auf den die beiden auf den Raum schauten, konnten sie gerade einmal ein Drittel des Raumes erkennen. Zwei Drittel befanden sich unterhalb ihres Sichtfeldes und sie konnten nur erahnen, was dort von statten ging.
Dann entdeckte Alayna plötzlich die Ursache des Geräusches. Sie sah einen Wolf mit graubraunem Fell, der von einem Mann gepackt wurde. Der Wolf grölte und jaulte und schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Der Mann, der ihn packte, hatte sein Gesicht bis auf seine Augenpartie mit einem Verband eingewickelt. Trotzdem konnte man sein langes, schwarzes Haar, das sehr ungepflegt und zottelig von seinem Kopf fiel, sehen, das teilweise mit in den Verband eingeklemmt war. Außerdem trug er einen pechschwarzen Anzug, der rechts jedoch keinen Ärmel hatte, wodurch man erkennen konnte, dass der rechte Arm ebenfalls mit einem Verband umwickelt war. Schon an Armen, Beinen und Brust zeigten, dass dieser Mann sicherlich bereit war, zu kämpfen.
Er packte den Wolf grob und überreichte ihm einer Person, die Alayna nicht erkennen konnte.
Was machten sie mit diesem Tier? Was ging dort vor sich? Alayna stellten sich alle Haare auf, so angespannt war sie. Dann erkannte sie, dass sich auf der linken Seite des Raumes eine Vertiefung im Boden befand, die mit Wasser gefüllt war. Ein Plätschern im Wasser signalisierte, dass der Wolf ins Wasser geworfen wurde.
Dann erschien ein weiterer Mann. Dieser hatte graue Haare und trug einen langen, weißen Mantel, den er gerade dabei war, auszuziehen. Außerdem entledigte er sich seines Hemdes und seiner Hose.
Als das Jaulen des Wolfes langsam aufhörte, hörte Alayna eine ganz zärtliche, leise Stimme einer Frau, die immer wieder wiederholte: „Es wird gut. Es wird funktionieren.“
Um was handelte es sich hier? Alayna hatte zwar schon einmal von sektenähnlichen Treffen gehört, bei denen ganz merkwürdige Sachen abliefen, jedoch hatte sie selbst so etwas nie gesehen. Es war unfassbar unheimlich, was hier passierte.
Dann veränderte sich das Jaulen zu einem leisen Wimmern. Die Personen sprachen miteinander.
„Gedo, bist du soweit?“, sprach der Mann mit den langen schwarzen Haaren zu dem mit den grauen Haaren.
„Ja, bin ich“, bestätigte der Mann, der anscheinend Gedo hieß.
„Gedo Hensetsu, dein Leben endet. Gibt es etwas, was du der Nachwelt hinterlassen möchtest?“, sprach die Stimme eines Mannes, den man nicht sehen konnte. Das Echo der Höhle verzerrte auch diese Stimme, die Alayna jedoch vertraut vorkam, die sie jedoch nicht zuordnen konnte. Sie musste sich anstrengen, die Worte der Leute richtig zu verstehen. Schockiert sah sie jedoch ihren Bruder an, der ihr mit einem Kopfschütteln signalisierte, dass sie ruhig bleiben und das Geschehnis weiter beobachten sollten. Was hatte das zu bedeuten, dass das Leben dieses Mannes endete? Lag er im Sterben? Wurde er umgebracht?
„Ich habe so schlimme Dinge getan“, fing Gedo an zu erzählen, „dass ich nun bereit bin, den Preis dafür zu zahlen. Ich habe trainiert und mich vorbereitet, um dieses Opfer zu bringen. Ich bin bereit, der Welt etwas Gutes zurückzugeben.“
„Dann sind alle bereit, das durchzuziehen?“, fragte der Mann, den man nicht sehen konnte. Eine weibliche und mehrere männliche Stimmen bestätigten das mit einem kurzen „Ja“.
Alayna schlussfolgerte, dass sich dort unten fünf Personen und ein Wolf befinden mussten. Es gab keine Anzeichen dafür, dass sich noch mehr Personen dort befanden.
Die Hände des Mannes mit den langen schwarzen Haaren leuchteten auf einmal blau auf. Er umarmte Gedo und schien sich von ihm zu verabschieden. Gedo ging auf die anderen Personen ebenfalls zu und Alayna vermutete, dass er diese auch umarmte. Der Mann mit den schwarzen Haaren und dem Verband führte ihn dann zu der Vertiefung, die mit Wasser gefüllt war. Gedo legte sich in das Wasser und schien an der Oberfläche zu schweben.
„Bist du bereit?“, fragte der Mann mit dem Verband im Gesicht und nickte einer weiteren Person zu, die sich wohl neben ihm befand. „Tief durchatmen, du schaffst das.“
Alayna hielt ihren Atem an, als sie sah, was als nächstes geschah. Der Mann drückte Gedo mit aller Gewalt unter Wasser. Gedo rang nach Luft und zappelte; er schien sich zunächst zu wehren, ließ das dann jedoch irgendwann bleiben.
Sofort stiegen Alayna Tränen in die Augen, die ihre Wange hinabliefen. Ihr ganzer Körper zitterte, als sie realisierte, dass sie gerade dabei zusah, wie ein Mann umgebracht wurde. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und befahl ihrem Körper, sich zu ihrem Bruder zu drehen. Sie sah, wie er ebenfalls weinte, er jedoch wie zu einer Salzsäule erstarrte, total hypnotisiert seine Augen nicht vom Geschehen abwenden konnte. Dann legte sie beide ihre Hände auf ihren Mund, damit kein Laut aus ihm entwich. Die Tränen verschleierten ihre Sicht und sie konnte sich kaum mehr dazu bringen, wieder hinabzusehen. Immer wieder sprach sie zu sich selbst, dass sie nicht hinsehen durfte und tat es trotzdem.
Als kurz darauf ein viel wilderes Strampeln losging und man das Jaulen des Wolfes hörte, das sich nun zu einem Gurgeln veränderte, war ihr bewusst, dass dem Wolf das gleiche Schicksal drohte.

Dort unten fand eine Opferung statt.

Der Wolf und der Mann namens Gedo starben beide, rituell ermordet in einem Wasserbecken, tief in einer Höhle, irgendwo in einer Wüste.
Nun kam der Mann ins Spiel, den Alayna bisher nicht hatte sehen können, der jedoch eine vertraute Stimme hatte: „In der Sekunde, in der ihre Seelen den Körper verlassen, müsst ihr der Übertragung all eure Kraft schenken.“
Jetzt zwang sie sich, wieder hinzusehen. Der Körper Gedos schien jegliche Kraft zu verlieren und ließ los. Der Mann mit den schwarzen Haaren ließ jedoch nicht locker. Stattdessen leuchteten seine Hände nun in einem strahlenden, blauen Licht, welches das Wasser grell schimmern ließ. Durch die Intensität des Lichts war ihr klar, dass sein Nebenan das gleiche Tat.
„Jetzt!“, schrie der Mann, den sie nicht sehen konnte. Die Art und Weise wie er das sagte, ließ sie eine unheimliche Theorie aufstellen. Sie hatte nicht nur ein Gefühl, sondern die Sicherheit, dass sie diesen Mann kannte, traute sich jedoch nicht, in ihren Gedanken diesen Namen auszusprechen.
Nun wurde das Licht so stark und grell, dass Alayna ihre Hände vor ihre Augen halten musste, um nicht geblendet zu werden. Dabei musste sie einen tiefen Atemzug nehmen und ihr zitternder Körper verlor all die Kontrolle. Beim Ausatmen ließ sie einen lauten Schrei von sich: „Nicht!“
In diesem Moment stürzte sich ihr Bruder auf sie und hielt ihr wieder den Mund zu, damit sie auf keinen Fall ein weiteres Geräusch machte.
Die Intensität des Lichts nahm ab und Alayna sah ihrem Bruder direkt in die Augen, welche die gleiche Angst ausstrahlten, wie ihre Augen.
„Wer war da!?“, hörten sie den Mann mit dem Verband rufen. „Schau nach!“
Daraufhin hörten die Geschwister eine Person laufen, jedoch nicht, in welche Richtung. Alayna umarmte ihren Bruder fest, der halb auf ihr lag. Sie signalisierte ihrem Bruder, ob sie nicht flüchten sollten, ihr Bruder verneinte jedoch. War es sicherer, sich nicht zu bewegen, in der Hoffnung, dass beide Räume nicht durch einen Gang verbunden waren?
Dann hörten sie die Männer unten die Körper aus dem Wasser ziehen. Es klang so, als würde der leblose Körper Gedos wiederbelebt werden. Ein Beatmungsversuch ließ das Wasser aushusten, das er verschluckt hatte, während er unter Wasser gedrückt worden war. War Gedo doch nicht gestorben? Währenddessen hörte man den anderen Mann den Körper des Wolfes aus dem Wasser ziehen. Der Wolf schien jedoch gestorben zu sein, weil man kein Laut mehr von ihm hörte.
Die Männer schienen bestürzt zu Gedo zu gehen. Alayna hörte, dass sie ihm hochhalfen.
„Bist du es? Bist du es, Gaara?“, fragte ihn panisch der Mann mit der vertrauten Stimme.
„Haben wir es geschafft?“, sprach nun der Mann, der bisher noch nicht gesprochen hatte.
Alayna gefror das Blut in ihren Adern. Ihr Körper bebte vor Angst und sie konnte ihr Schnaufen nicht unterdrücken. Diese neue Stimme, die nun gesprochen hatte, war mehr als nur vertraut.
„Ja“, sagte Gedo schwach. „Ich bin es. Es hat funktioniert.“
Seine Stimme war schwach. Die Männer schienen ihn wohin zu tragen, sodass er sich entfernt vom Wasser auf dem Boden ausruhen konnte.
„Wir haben es geschafft“, sagte der letzte Mann. Alaynas Herz pochte und sie sah in den Augen ihres Bruders, dass er ebenfalls die Stimme erkannte. Vorsichtig ging er von Alayna herunter. Seine Bewegungen schienen jedoch langsam, als befände er sich in einer unkontrollierten Trance.
Das wunderte Alayna nicht. Die Stimme jenes Mannes war eine, die sie ihr ganzes Leben lang schon begleitet hatte. Es war eine Stimme, die ihr etwas beigebracht und erklärt hatte, die geschimpft und gefordert hatte, die ihre Angst genommen und Hoffnung geschafft hatte.
Es handelte sich um ihren Vater.
Genau in jenem Moment wurden die Schritte der Person, die sich aufgemacht hatte nachzusehen, immer lauter. Das feuchte Tappen von Schuhen hallte durch die Gänge und wurde immer intensiver. Die Geschwister erkannten ein schwaches Licht, das immer stärker wurde. Am Ende des Raumes, in dem sich Alayna und Tak langsam aufrichteten, kam um eine Kurve herum ein Lichtkegel, wie als würde jemand eine Taschenlampe halten.
Die Person, bei der es sich um die Frau der Gruppe handelte, stand nun vor den Geschwistern.
„Hier ist jemand! Hier sind Kinder!“, rief sie in die Richtung, aus der sie gekommen war. Das Licht, das von der Frau ausging, blendete die Geschwister.
Verteidigend stellte sich Takeru vor Alayna, die sich vor Angst nicht bewegen konnte. Was war hier gerade passiert? Befand sich dort unten wirklich ihr Vater?

 

Kapitel 56 – Die Hilfe der Schutztruppe

Der wehende, peitschende Sand verlor langsam an Intensität, als Eimi bemerkte, dass die Sonne sich allmählich dem Horizont näherte. Für einen Augenblick verharrte er in seiner eigenen Stille, während um ihn herum Tsuru, Ea und Laan diskutierten. Es war mit Abstand der schlechteste Zeitpunkt, den er sich ausgesucht hatte, um Eas Schwert zu verlieren. Was war er schon ohne diese Waffe, mit der er so viel trainiert hatte in letzter Zeit? Als er auf seine Hände starrte, bekam er Angst. Angst davor, dass er mit diesen nackten Händen niemanden beschützen konnte, nichts ausrichten konnte – in diesem stetig wachsenden Chaos, von dem weit entfernt in seiner Heimat seine Familie, das Waisenhaus und seine Freunde Ensei und Krau hoffentlich nichts mitbekommen würden. Zum ersten Mal seit langer Zeit spielte er mit dem Gedanken, was wäre, wenn er sein Zuhause niemals verlassen hätte, wenn er niemals Alayna und Takeru getroffen hätte und von all dem nichts wüsste. Wäre das ein besseres Leben? Er würde es – zum Glück – niemals herausfinden.
Eine weibliche Hand holte ihn aus seiner Trance, als diese ihn vorsichtig an der Schulter berührte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Tsuru nach, die ihn besorgt ansah. Was für eine dämliche Frage, dachte sich Eimi in diesem Moment, verwarf diesen Gedanken aber schnell, da er dankbar war, dass sich jemand um ihn sorgte.
„Es ist gerade alles etwas viel“, erklärte Eimi. „Meinst du wirklich, diese Person, die mich umgestoßen hat, hat mir das Schwert abgenommen? Was, wenn wir das wirklich bei Pecos haben liegen lassen?“
„Wäre auf jeden Fall einen Versuch wert, zurückzugehen und nachzuschauen, oder? Was hältst du davon, wenn wir ihn auch um etwas Unterstützung bitten? Wenn ein paar der Schutztruppler uns helfen, nach Alayna und Tak zu suchen, meinst du nicht?“, schlug Tsuru vor. Eimi ärgerte es etwas, dass er nicht schon vorher auf diese Idee gekommen war. Er ging immer davon aus, dass die Schutztruppe Wichtigeres zu tun hatte, als jemanden zu suchen, aber es machte tatsächlich Sinn, also stimmte Eimi ihr zu.
„Wenn wir die Zwei finden wollen und dann auch noch dein Schwert, dann brauchen wir diese Unterstützung“, führte Tsuru weiter fort. „Pecos wird uns sicher helfen. Je schneller wir jetzt also zurückkommen, desto besser.“
Tsuru wollte sich schon zum Gehen abwenden, als sie von einer anderen Hand aufgehalten wurde.
„Wo wollt ihr hin?“, hakte Laan nach.
Jetzt, als Laan so nah bei Eimi stand, erkannte er in seinen grünen Augen einen purpurnen, fast violetten Streifen, der ihm besonders stark auffiel. Dieser passte sehr zu einem Tattoo in Laans Gesicht, der eine ähnliche Farbe hatte. Ein nahezu horizontaler Streifen ging von seinem linken Ohrläppchen, über seine Wange und Nase, zu seinem rechten Ohrläppchen. Auf Höhe seiner Augen ging dann vom Streifen zwei weitere in vertikaler Richtung hinab zu seinem Kinn. Obwohl Eimi einen sehr strengen Eindruck von ihm hatte, war sein Gesichtsausdruck jedoch sehr neutral. Er war so unfassbar neugierig darauf, was hinter dieser Person steckte.
„Wir wollen das Schwert holen. Wir vermuten, dass wir es liegen gelassen haben“, erklärte Tsuru.
„Wir kommen mit“, forderte Laan und wandte sich in die gleiche Richtung wie Tsuru.
Aber eine Sache war da noch, die Eimi gerne noch geklärt hätte, bevor sie das Schwert fanden. Er blickte noch einmal auf seine Hände, wie als müsste er seinen eigenen Gedanken selbst bestätigen und sprach dann mit ernster Besorgnis: „Warum wollt ihr das Schwert wegsperren? Habt ihr nicht von Waffen in der Mehrzahl gesprochen? Welche gibt es noch?“
Eimi musste erst das in Erfahrung bringen, bevor er sich wirklich dafür entschied, das Schwert herzugeben, den einzigen Gegenstand, mit dem er sich mächtig genug fühlte, seine Freunde zu beschützen. Während er diese Fragen stellte, überlegte er sich schon, wie er Ea am besten davon überzeugen konnte, das Schwert behalten zu können. Er musste zugeben, dass, als Ea das Schwert damals verwendet hatte, es ziemlich mächtig schien. Jedoch konnte es doch kein anderer aus der Scheide ziehen und verwenden. Was war so gefährlich daran, dass es weggesperrt werden musste? Das Problem lag sicherlich an Laan, mit dem sich Ea noch beim letzten Zusammentreffen mächtig geprügelt hatte – aus was für einem Grunde auch immer – aber vielleicht lag das Geheimnis genau in diesem Konflikt? Er musste mehr wissen.
Jedoch ließ sich Laan durch diese Fragerei nicht aufhalten und ging los. Tsuru zuckte mit den Schultern und führte die Gruppe an, den Weg zurück in das Haus, in dem sich Pecos mit der Schutztruppe vorbereitete. Tatsächlich ignorierte Laan diese Fragen. Jetzt hoffte Eimi, dass Ea ihm das wenigstens beantworten konnte.
„Wir müssen sie einfach wegsperren“, antwortete Ea und schaute Eimi dabei gar nicht an, gestikulierte dann jedoch übertrieben mit seinen Händen. „Es ist einfach zu stark, verstehst du?“
„Was ist passiert, als du verschwunden bist, Ea?“, hakte Eimi bei ihm nach und sprach etwas leiser, in der Hoffnung, dass Laan das nicht wirklich mitbekam.
„Ja, ja … Wir hatten einen kleinen Streit“, antwortete Ea. „Weißt du, nach über viertausend Jahren ist man sich halt in ein paar Sachen nicht mehr so einig wie früher.“
„Viertausend Jahre!?“, wunderte sich Eimi schockiert. „Hast du viertausend gesagt?“
„Ja, Laan und ich kennen uns schon ziemlich lange“, sagte Ea und grinste dabei zunächst, wurde im nächsten Augenblick jedoch etwas traurig.
„Kein Mensch kann so lange leben“, warf ihm Eimi vor. Er wusste, dass Ea etwas verrückt war. Vielleicht war das doch nur eine Metapher dafür, wie gut sie sich kannten?
„Wer weiß, ob ich überhaupt ein Mensch bin“, sagte Ea leise und sah seiner Hand zu, wie sie sich in Stein, dann in Wasser und dann wieder in eine Hand verwandelte. „Wer weiß, was ich bin …“
„Das meinst du wirklich ernst, oder?“, verstand Eimi und verstand zur selben Zeit auch nichts. Wenn er kein Mensch war, konnte er tatsächlich so lange leben. Aber was war er dann? Es machte alles keinen Sinn für ihn. Aber wenn es möglich war, dass Männer durch unsichtbare Türen ins Nichts verschwinden, dann war es auch möglich, dass Ea viertausend Jahre alt war. „Das muss ja schlimm für dich gewesen sein.“
Dieser Funken Empathie, den Eimi Ea gegenüber in diesem Moment zeigte, veränderte Eas Stimmung. Seine Augen öffneten sich und sahen ihn neugierig an. Ea – der wohl viertausend Jahre alt war, der in einem Labor gefangen gehalten und an dem experimentiert worden war, der einen alten Freund in einem unsichtbaren Raum gefunden hatte und anschließend verprügelt worden war und der mittlerweile verständlicherweise etwas verrückt geworden war – sah Eimi zum ersten Mal mit einem so liebenswürdigen Blick an, dass Eimi eine besondere Verbindung zu ihm spürte, die er sich selbst noch nicht erklären, aber intensiv fühlen konnte.
„Wir waren damals zu dritt“, fing Ea an zu erzählen. Eimi hielt mit Absicht etwas Abstand zu Laan und Tsuru, damit Ea in Ruhe erzählen konnte. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass Laan diese Unterhaltung bald beenden würde, um schneller an das Schwert zu kommen.
„Damals waren es Laan, Shiana und ich. Laan war früher so nett und freundlich. Shiana war schön und leitete unsere Gruppe an. Wir sind in einem Schloss groß geworden und trainiert worden. Durch unsere besonderen Fähigkeiten wurden wir jedoch als Waffen gefangen gehalten und man wollte uns in einem Krieg, der ganz ähnlich war, wie dieser, verwenden. Unsere Waffen verstärken unsere Fähigkeiten. Jedoch sind wir nicht die einzigen, die die Waffen verwenden können. Er kann es auch. Er ist wieder da. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Wenn er sie in die Finger bekommt, zerstört er unsere Welt. Das hat er schon vor viertausend Jahren gewollt.“
„Warte, warte …“, unterbrach ihn Eimi, „Ddas alles ist schon einmal passiert?“
„Dinge passieren ständig noch einmal“, lachte Ea und spielte damit vermutlich auf sein Alter an. „Menschen werden geboren und sterben, Menschen schaffen Krieg und suchen Frieden, Menschen stehlen und schenken, Menschen streiten und lieben. Alles ist schon einmal passiert. Glaub mir.“
„Was ist passiert? Wen meinst du mit ‚er‘? Konnte er die Waffen verwenden?“ Es strengte Eimi an, dass auf jede Antwort ihm zwei weitere Fragen einfielen. Irgendwie musste es jetzt doch möglich sein, etwas herauszufinden, mit dem er Ea überreden konnte, das Schwert nicht wegzusperren.
„Wir sind geflüchtet“, erzählte Ea weiter und Eimi erkannte, dass sich seine goldgelben Augen mit Tränen füllten. „Ich habe sie einfach im Stich gelassen.“
„Und die Waffen? Wer ist Shiana? Wer ist ‚er‘?“, hakte Eimi ein letztes Mal nach.
Ea antwortete nicht mehr. Er hatte Tränen in den Augen.
Dann blieben alle plötzlich stehen.
„Wir haben das Richtige getan“, sagte Laan streng. „Wir hatten keine Wahl.“
Darauf antwortete niemand. Nach einem merkwürdigen Moment der Stille erkannte Eimi, dass sie am Ziel angelangt waren. Tsuru, die anscheinend einiges des Dialogs zwischen den beiden mitbekommen zu haben schien, nickte Eimi verständnisvoll zu und deutete daraufhin auf die Tür.
„Hoffen wir mal, dass das Schwert da ist“, sagte Tsuru und wandte sich zur Tür.
Jetzt musste sich Eimi etwas ausdenken, wie er das Schwert behalten konnte, falls es da war.

In jenem Moment öffnete sich die Tür, noch bevor Tsuru ihre Hand auf die Klinke legen konnte und Pecos kam ihr entgegen, sichtlich erstaunt, dass Tsuru vor ihm stand.
„Was macht ihr denn hier?“, erkundigte er sich, während er aus der Tür trat und einige der Schutztruppler hinaustreten ließ.
„Wir wollten gerade nachschauen, ob wir etwas vergessen haben“, erklärte Tsuru, während die anderen beobachteten, wie sich die Schutztruppler in Formation draußen aufstellten.
Eimi fiel besonders auf, dass Shin von den Vastus Antishal neben einem Mann stand, der mit seinen langen roten, immer mal wieder mit grauen Strähnen durchzogenen Haaren stand und sich intensiv mit ihm unterhielt. Der Mann trug ein blaues Hemd und eine braune Kordhose, die für die Wetterbedingungen nicht gerade geeignet schienen. War das auch jemand von den Vastus Antishal, den Eimi bisher noch nicht kannte?
„Klar, schau schnell rein“, meinte Pecos zu Tsuru. „Aber beeil dich, wir machen uns gerade auf zu einer Mission.“
Bevor Eimi oder Tsuru danach fragten, um was es sich bei der Mission handelte, huschten sie mit Ea und Laan schnell hinein und suchten überall nach dem Schwert. Während Laan und Ea Tische, Stühle und sogar Schränke verschoben, um nach dem Schwert zu suchen, gingen Eimi und Tsuru die Räume ab, in denen sie vorher schon gewesen waren. Doch nach schnellem Absuchen stellten sie fest, dass sich das Schwert hier nicht befand.
„Was soll das?“, fragte Laan ziemlich aggressiv.
„Habt ihr das Schwert wirklich verloren?“, gestikulierte Ea dramatisch und stellte sich dabei hinter Laan, um ihn dabei irgendwie zu unterstützen, was er gerade gesagt hatte.
„Wir müssen es finden!“, forderte Laan, ging einen Schritt auf Eimi zu und packte ihn an seinem Poncho. „Sofort!“
Durch die Lautstärke im Gebäude wurde Pecos aufmerksam und kam herein. Als er sah, wie Laan Eimi am Kragen packte, zückte er seinen Revolver und zielte damit bedrohlich auf den grünhaarigen Mann.
„Lass den Jungen los“, forderte Pecos.
„Beruhigt euch alle!“, mischte sich nun auch Tsuru mit ein, trat zwischen Eimi und Laan und drückte die zwei auseinander. „Es bringt jetzt nichts, unnötig aggressiv zu sein! Das Schwert ist offensichtlich nicht hier; wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, wo wir es finden.“
„Tsuru, was ist hier eigentlich los?“, fragte Pecos und packte seinen Revolver wieder ein.
Sie erklärte ihm die Situation und fragte anschließend: „Deswegen wollten wir dich fragen, ob einige der Schutztruppler uns helfen könnten, die Stadt nach der Frau abzusuchen. Vielleicht hat sie das Schwert gestohlen. Außerdem sind wir immer noch auf der Suche nach Takeru und Alayna.“
Pecos legte nachdenklich eine Hand an sein Kinn und kratzte es. Ohne etwas zu sagen, verließ er den Stützpunkt. Die anderen folgten ihm und sahen Pecos dabei zu, wie er sich kurz mit Shin und Khamal unterhielt.
Dann wandten sich ihnen die Männer wieder zu.
„Helfen Sie uns nun, das Schwert zu finden?“, fragte Laan. Er schien Respekt vor Pecos zu haben.
„Ich kann das regeln“, antwortete Shin und zeigte den Freunden ein kleines, graues Gerät in seinen Händen. „Ich spreche das mit den anderen Stützpunkten der Schutztruppe und der Vastus Antishal ab und starte eine weiträumige Suche nach dieser Person, dem Schwert sowie Alayna und Takeru. Ihr müsst euch also keine Sorgen machen. Sobald irgendjemand etwas in Erfahrung bringt, werdet ihr es erfahren.“ Als er sah, wie neugierig Eimi und Tsuru auf das Gerät blickten, warf er eine kleine Erklärung ein. „Das ist eine neue Art Funkgerät. Es erlaubt nicht nur eine Kommunikation über eine große Reichweite, sondern tauscht auch Daten aus.“
Dann wandte sich Shin ab und sprach in das Funkgerät.
„Währenddessen möchte ich jedoch selbst weitersuchen. Der Kompass fehlt auch noch“, erklärte Laan.
„Den hat Tak“, erklärte Eimi erneut.
„Aber wenn ihr die beiden immer noch nicht gefunden habt, …“, wunderte sich Pecos, „dann wird das doch nicht bedeuten, dass sie die Stadt verlassen haben, oder? Das wäre ziemlich dumm.“
„Daran haben wir noch gar nicht gedacht“, wandte Tsuru ein und sah besorgt zu Eimi. „Was, wenn sie dort draußen sind?“
„Das heißt, ihr sucht nicht nur das Schwert, sondern auch Takeru und den Kompass, den er bei sich trägt? Warum?“, wollte Pecos nun genauer wissen.
„Es sind Waffen“, sprachen Laan und Khamal gleichzeitig. Dann sahen sich die Männer neugierig an.
„Ich hatte von Vaidyam einmal gehört, dass sein Boss eine Art Artefakt sucht“, erklärte Khamal Pecos. „Pecos, wir müssen uns beeilen, die Mission.“
„Welche Mission?“, hakte Tsuru nach und wandte sich an Pecos.
„Khamal hat uns erklärt, wo sich Vaidyam und seine Gruppe aufhält. Sie sind kurz davor, einen Angriff auf die Stadt zu starten. Wir machen uns auf, um ihn aufzuhalten, bevor das passiert. Jedoch scheint das, was ihr uns gerade mitteilt, keine erfreuliche Nachricht zu sein.“
„Was, wenn Vaidyam das Schwert in die Hände bekommt? Er wäre zu stark!“, befürchtete Eimi.
„Vergesst nicht, dass er neben seiner durch Drogen verstärkten Armee auch noch eine Telepathin in seinem Team hat“, erklärte Khamal. „Pecos, wir müssen ihn so schnell es geht ausschalten, uns bleibt kaum noch Zeit.“
„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Vaidyam jetzt schon im Besitz des Schwertes ist?“, fragte Laan neugierig, der das Gespräch aufmerksam verfolgte.
„Er wurde angehalten, nach Hinweisen zu suchen“, erklärte Khamal. „Jedoch hatte ich nie das Gefühl, dass er aktiv danach sucht. Ich kann es nicht einschätzen.“
„Ich hatte jedoch bei dem letzten Aufeinandertreffen nicht das Gefühl, dass er mir das Schwert abnehmen wollte“, wandte Eimi ein, der sich zurückerinnerte. „Wusste er nicht, dass es sich um das Schwert handelt? Oder bekam er den Befehl erst vor kurzem?“
„Das kann ich euch nicht sagen“, erklärte Khamal.
„Also wäre es sinnvoll, diesen Vaidyam aufzusuchen, weil er das Schwert haben könnte?“, fragte Laan wieder.
„Ganz gleich , ob er das Schwert hat oder nicht, ich möchte ihn aufsuchen, Laan“, forderte Ea nun, der seinem Freund eine Hand auf die Schulter legte. „Ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.“
Dabei sah Ea eindringlich Tsuru in die Augen. Da erinnerte sich Eimi wieder. Er sah mit was für einem traurigen Blick Pecos Tsuru ebenfalls ansah und ihm fiel ein, dass auch er wusste, dass Tsuru ein Klon war. Man sah es Tsuru und Ea nicht an, jedoch teilten sie diese besondere Vergangenheit miteinander und Eimi wusste schon, was als nächstes geschah.
„Lass mich nach Vaidyam suchen; währenddessen kannst du nach dem Kompass Ausschau halten. Das ist doch ein guter Plan, findest du nicht?“, schlug Ea vor.
„Ich muss zunächst erst einmal erlauben, dass du auf diese Mission mitkannst“, wandte Pecos ein. Daraufhin nahm Tsuru einfach nur seine Hand und sah ihn an, ohne etwas zu sagen. „Aber wie es scheint, werde ich auch erlauben müssen, dass du mitkommst, richtig?“ Er wandte sich zu Tsuru und drückte ihre Hand in seiner. „Nichts auf dieser Welt lässt es zu, dass ich dich auf diese Mission mitnehme, Tsuru. Es reicht schon, was er dir alles angetan hat. Ich kann es nicht gutheißen, dich in Gefahr zu bringen.“
„Wie oft haben wir schon darüber gesprochen, Pecos? Ich muss ihn konfrontieren“, forderte sie, ohne dabei ängstlich zu wirken. „Ich war schon einmal dort unten, mit Ea. Wir können das. Ich weiß es.“
„Du legst also deine Hand für ihn ins Feuer?“ Pecos blickte Ea neugierig an.
„Lass mich mit, Pecos. Bitte“, bat Tsuru.
„Pecos, wir müssen los“, forderte Khamal nun wieder.
„Okay, ich entscheide, dass ihr mit könnt.“
„Dann werde ich den Kompass suchen gehen“, entschied Laan. Daraufhin erschienen um seine Hände wieder diese grünleuchtenden Gitterboxen und zu aller Verwunderung hob Laan ab in die Luft. Dass ein Mann fliegen konnte, hinterließ bei jedem der Personen, die zurückblieben, einen bleibenden Eindruck. Jedoch kommentierte keiner mehr dazu etwas, nachdem Ea erklärte, dass sein Freund das halt konnte und die meisten der anwesenden Personen mussten aus ihrer stillen Bewunderung herausgeholt werden, damit sie endlich dazu bereit waren, die Mission anzutreten.
„Suchst du nun weiter nach Alayna und Tak?“, fragte Tsuru, als sie auf Eimi zuging.
„Ich weiß, ich sollte“, fing Eimi an zu sprechen, „aber wenn jetzt mehrere Leute helfen, nach ihnen zu suchen, würde ich euch gerne begleiten.“
Khamal rollte mit den Augen, was Eimi so deutete, dass er nicht noch mehr nutzlosen Ballast bei sich haben wollte.
„Es ist meine Verantwortung, dass das Schwert abhanden gekommen ist. Außerdem habe ich auch noch ein Hühnchen mit Vaidyam zu rupfen. Wenn das Schwert da sein sollte, weiß ich auch, wie man damit kämpft“, erklärte sich Eimi.
„Sicher, dass du Alayna und Tak dadurch nicht im Stich lässt?“, befürchtete Tsuru.
„Die beiden sind hart im Nehmen. Ich glaube, es ist jetzt wichtiger, dass wir diesen Krieg aufhalten, bevor er passiert“, entgegnete Eimi. Er hoffte darauf, dass die Worte, die er aussprach, wahr wurden. Was, wenn sie nicht so hart im Nehmen waren und er sie wirklich im Stich ließe? Er versuchte positiv zu bleiben, jedoch blieb ein Fünkchen Zweifel in ihm stecken.
„Oh, Junge! Er ist schon längst im Gange!“, kommentierte Khamal vorwerfend und drängte, „Pecos, wir müssen jetzt.“
„Du hast recht“, erwiderte Pecos. „Jedoch werde ich sie nicht ohne ordentliche Ausrüstung gehen lassen.“ Während er sich Shin und dem rothaarigen Mann zuwandte, befahl er zwei Männern der Schutztruppe noch Ausrüstungen zu besorgen. „Gib den anderen bitte Bescheid, dass sie besonders intensiv Ausschau nach Takeru und Alayna halten sollen, weil Eimi mit uns kommt“, bat er den rothaarigen Mann. Shin bestätigte nickend und flüsterte dem rothaarigen Mann noch etwas zu, bevor er weitere Anweisungen in das Funkgerät sprach.

Wenige Momente später fand sich Eimi neben Tsuru draußen in der Wüste wieder. Sie trotteten den Schutztrupplern, die von Khamal und Pecos angeführt wurden, hinterher. Einige Mitglieder der Vastus Antishal waren auch dabei, deren wichtigster Vertreter der Mann mit den langen roten Haaren war. Als Eimi seine neue Ausrüstung inspizierte – Handschuhe und Stiefel, sowie eine Weste aus einem besonders verstärkten Leder, welche Tsuru und er noch vor dem Aufbruch bekommen hatten – fragte er Tsuru nach diesem Mann.
„Sein Name ist Hakashi Shu-Yuen. Er ist eins der Gründungsmitglieder der Vastus Antishal und ist eng mit Arec befreundet. Wenn er nicht seine Ruhe haben kann, ist er oft sehr mürrisch. Deswegen halte ich mich gern von ihm fern.“
„Ich finde es verrückt, dass Pecos es einfach akzeptiert, dass die Vastus Antishal mit an dieser Mission teilnehmen“, stellte Eimi fest.
„Aber wir brauchen jeden Mann und jede Frau, die uns helfen“, entgegnete Tsuru.
„Sie sind immer noch eine illegale Untergrundgemeinschaft“, warf Eimi ihnen vor. „Findest du nicht, dass die Schutztruppe allein reichen sollte?“
Eimi fiel es schwer, mit den neuen Stiefeln durch den Sand zu laufen. Glücklicherweise ließ der Sandsturm allmählich nach.
„Illegal? Das ist so ein dehnbarer Begriff. Findest du nicht, dass ihre Arbeit dem Guten dient? Sie können auf jeden Fall durch ihre Taten helfen. Durch unsere nationale Gesetzeslage sind der Schutztruppe oftmals die Hände gebunden, aber die Vastus Antishal sind daran nicht gebunden und können dadurch eine andere Art der Hilfe leisten, auch wenn ihre Taten streng genommen nicht legal sind. Glaub mir, dass ihre Taten oft mehr helfen, als es den Anschein hat.“
Eimi war sich nun nicht mehr so ganz sicher, ob seine Meinung über die Vastus Antishal immer noch gerechtfertigt war. Er entschied sich nun dafür, nicht mehr über die Rechtfertigung dieser Gruppierung nachzudenken, sondern sich auf das, was vor ihm lag, zu konzentrieren. Wenn Vaidyam nun wirklich im Besitz des Schwertes war, konnte er sich sicher sein, dass dieser es nicht verwenden konnte. Mit Eas Hilfe – der gerade damit beschäftigt war, neben den Schutztrupplern herzulaufen und so zu tun, als wäre er einer von ihnen – konnten sie ihn sicherlich schnell überwältigen und dann gäbe es eine Gefahr weniger. Obwohl er sich sicher fühlte, dass die Mission mithilfe der Schutztruppe erfolgreich ablaufen würde, spürte er dennoch Nervosität und Sorge in sich. Was, wenn Khamal sie in einen Hinterhalt führte, ohne dass er selbst davon wusste? Diese Sache mit dem Doppelagentendasein ließ Eimi wilde Vermutungen anstellen.