KKZ 2 – Kapitel 43 – 49

Kapitel 43 – Alayna, Anon, Aoko
Kapitel 44 – Die Entführung
Kapitel 45 – Der, der nicht kämpft
Kapitel 46 – Hintergrundinformationen
Kapitel 47 – Vor der Verhandlung
Kapitel 48 – Der Sandsturm
Kapitel 49 – Die Verhandlung


Kapitel 43 – Alayna, Anon, Aoko

Einige Tage nach den Ereignissen in Yofu-Shiti fanden sich die Geschwister mit ihren Freunden und ihrem neuen Begleiter Anon in einer anderen Stadt wieder. Die Zerstörungswut und die Plünderungen beeinträchtigten auch den Bahnhof Yofu-Shitis, welcher seinen Verkehr für einige Tage einstellen musste. Das bremste die Versorgung der Stadt mit wichtigen Hilfsmitteln und den dringend benötigten Medikamenten und Verbandsmaterialien, welche in den Krankenhäusern gebraucht wurden. Trotz der großen Lager der Stadt befand sie sich nun im Notstand. Die Schutztruppe schickte noch einige ihrer Leute in die Stadt, da immer wieder kleinere Kämpfe geführt wurden. Dennoch waren die meisten der fremden Kämpfer verschwunden. Wie lange es brauchen würde, bis sich die Stadt erholt hatte, wusste keiner.
Anon konnte nur berichten, dass Senatorin Sayoko viel Hilfe zugesprochen hatte und mithilfe eines Freundes mehrere Firmen gebeten hatte, die Reparaturen und den Wiederaufbau in der Stadt durchzuführen. Außerdem erfuhren sie, dass Oto alle Hände voll damit zu tun hatte, die Krankenhäuser in ihrer Arbeit zu unterstützen, was auch immer das bedeutete. Wenn Ama nicht gerade auf die Kinder aufpassen musste, packte er in der Stadt mit dem Wiederaufbau ebenfalls an. Als sie sich von Suna verabschiedeten, berichtete er zunächst sehr glücklich darüber, dass er seit zwei Tagen keinen Anfall mehr gehabt und unkontrolliert Gold produziert hatte. Das wäre ihm noch nie passiert. Als er dann jedoch realisierte, dass die Freunde sich aufmachten und ihn darum baten, Oto nichts davon zu erzählen, machte er einen sehr geknickten Eindruck. Irgendwie hatte Alayna das Gefühl, als würde Suna beim Verabschieden nur sie anschauen. Es fühlte sich an, als wäre ein schweres Gewicht von ihren Schultern genommen worden, zu wissen, dass die im Labor gefangenen Leute nun in Sicherheit waren und die medizinische Behandlung erhielten, die sie verdient hatten. Das Wissen über die vielen Menschen, welche die Experimente im Labor und den Kampf in der Stadt nicht überlebt hatten, lag wie ein bitterer Geschmack auf der Zunge, welcher nie ganz verschwinden sollte.

Der Weg führte sie nach einigen Tagen der Wanderung nach Kodôtsuro. Kodôtsuro war eine kleine Stadt am Fuße eines Berges, welche sich durch den dort entstandenen Bergbau zu einer ansehnlichen Stadt entwickelt hatte. Die eine Hälfte der Stadt war geprägt von den Fabriken und Firmen, die dort den Bergbau vorantrieben, während die andere Hälfte der Stadt von den Ansässigen bewohnt war. Die Stadt verfügte über einen Bahnhof, der das Ziel Anons war. Nach einem langen Tag einer ereignislosen Wanderung, ließen sich die Freunde jedoch in einem Gasthaus nieder. Die Stimmung in der Gruppe war sehr ruhig, was entweder daran lag, dass sich jeder vom Kampf erholen musste oder jeder mit irgendwelchen Schuldgefühlen zu kämpfen hatte. Alayna musste schon seit ihrer Abreise darüber nachdenken.
„Durch den Vorfall in Yofu-Shiti haben sich die Fahrzeiten etwas verschoben“, erklärte Anon, welcher gerade dabei war, den Fahrplan zu studieren.
„Wann fährt der nächste Zug?“, erkundigte sich Kioku, die über Anons Schulter etwas in den Plan schauen wollte.
„Morgen, am frühen Abend. Dieser Zug führt uns dann um das Gebirge herum und bringt uns in ein kleines Dorf. Dieses Dorf liegt in einer gut begehbaren Passage, welche zur Wüste führt. Von dort ist es dann leicht, unser Ziel zu erreichen.“
„Das heißt, wir hätten vorher noch etwas Zeit, zu trainieren?“, erkundigte sich Takeru. „Wir könnten noch etwas üben?“
„Find ich gar keine so schlechte Idee“, stimmte Eimi zu. „Etwas Meditation und Ausdauertraining wird drin sein. Wir sind abends dann doch mit dem Zug unterwegs, also wird das ja kein Problem sein.“
„Dann ist das abgemacht“, grinste Takeru selbstbewusst.
Anon, der sich gegen diesen Vorschlag nicht wehren konnte, warf Kioku einen fragenden Blick zu und auf Alayna wirkte es so, als würde Kioku mit ihrem Blick eine Antwort entgegenbringen, welche Anon zufriedenstellte. Sie hakte nicht nach, in Erwartung, am morgigen Tag sowieso zu erfahren, was das bedeuten sollte. Als sie sich auf dem Bett in dem Zimmer niederließ, das sie sich mit Kioku teilte, nachdem sich alle zur Nacht verabschiedet hatten, schaute sie ihrer Freundin dabei zu, wie sie sich entkleidete und im Badezimmer für eine Dusche verschwand. Sie hatte beobachtet, dass ihr Bruder in den letzten Tagen mehrmals versucht hatte, sich bei Kioku zu entschuldigen, die jedoch immer irgendwie auswich. Sie wollte nicht auf das Geschehene eingehen, was Alayna selbst sehr merkwürdig fand. Es schien fast so, als wollte Kioku etwas vor Takeru verheimlichen. Was war wirklich passiert, als die beiden zusammen in der Stadt gekämpft hatten? Ging es um ihren Bruder?
Wann hatte sie das letzte Mal mit ihrem Bruder wirklich gesprochen? Ihr schienen die Dialoge der letzten Tage nicht bedeutsam genug, um sie als wichtig zu zählen.
Eimi und Kioku hatten ihren Bruder beide schon dabei erlebt, wie er die Kontrolle verloren hatte. Sie hatten gesehen und gespürt, was geschah, waren vor Ort und konnten ihm helfen. Wo war sie zu der Zeit immer gewesen?
Sie wusste, dass sie schon einmal dieses Gefühl gehabt hatte, jedoch kam es ihr zurzeit extrem vor, wie weit ihr Bruder entfernt zu sein schien, obwohl er doch die ganze Zeit in ihrer Nähe war. Noch nie in ihrem Leben war ihr ihre Familie so fremd vorgekommen, wie in den letzten Tagen. Sie musste sich eingestehen, dass sie auch nichts über ihren Vater und ihre Mutter wusste, trotz der Informationen, die sie ständig von deren Freunden bekamen. Alayna stellte fest, dass Ryoma gerade derjenige war, den sie am meisten vertrauen konnte. Anfangs hatte sie ihn nicht leiden können, aber das hatte sich durch die Ereignisse in Yofu-Shiti stark geändert. Bei ihm hatte sie immer das Gefühl, dass er nichts vor ihr verheimlichte und ihr seine ehrlichen Gefühle zeigte. Sie wusste, dass er für etwas Gutes kämpfte und wollte, dass es ihr und Takeru gut ging.
Alayna stand auf und betrachtete die Dunkelheit, die sich schnell über die Berge und auf die Stadt ausbreitete. Es war eine klare Nacht und sie konnte die ersten Sterne entdecken, die stark genug waren, in der Dämmerung sichtbar zu sein. Die beleuchteten Straßen schlängelten sich den Berg hinauf wie Schlangen, die immer kleiner wurden. Obwohl es Nacht wurde, schien es in dieser Stadt nicht ruhig zu werden. Alayna wusste nicht, warum sie dieses Gefühl beschlich; es war einfach da.
Sie setzte sich auf eines der Betten und lauschte dem Geräusch des Wassers, das aus dem Badezimmer zu hören war. Die Matratze war weich und sie musste darüber nachdenken, wie sehr sie das gerade wertschätzte. Also ließ sie sich fallen, nahm sich das Kopfkissen und umschlang es mit ihrem ganzen Körper. Der Geruch der frisch gewaschenen Bettwäsche erinnerte sie an Zuhause und an einen Tag, als sie noch klein gewesen und kichernd durch die frische Wäsche gerannt war, die ihre Mutter gerade erst aufgehängt hatte. Zunächst war ihre Mutter sauer gewesen, aber als sie Alayna verfolgt hatte, war der Ärger einer kindlichen Freude gewichen und sie konnte sich nur noch daran erinnern, wie sie mit ihrer Mutter lachend auf dem Boden im Hof gelegen hatte. Genau das war der Duft, den sie gerade wahrnahm.
Alayna verblieb so eine Weile, bis zu dem Moment, wo sie ein lautes Geräusch aus dem Badezimmer hörte, das sie stark besorgte. Sie stand auf, um nach Kioku zu sehen, rief nach ihrem Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt breit, um die Privatsphäre Kiokus nicht zu stören und fragte nach, wie es ihr ging. Wieder kam keine Antwort und panisch öffnete sie die Tür ganz. Kioku lag auf dem Boden, in ein Handtuch eingewickelt. Es schien, als wäre sie aus der Dusche ausgestiegen, hätte sich das Handtuch umgeschlungen und wäre dann gefallen.
„Kioku, was ist los?!“, fragte Alayna panisch und rüttelte an ihrer Schulter. Kioku schien ohnmächtig zu sein, also überprüfte Alayna, ob sie atmete und ob ihr Herz schlug. Glücklicherweise war das der Fall, also rüttelte sie wieder an ihr. „Hey, was ist los, wach auf!“, forderte Alayna und wusste nicht mehr, wie sie weiter reagieren sollte. Hatte sie sich doch noch nicht gut genug erholt? Waren sie zu früh abgereist? Während sich Alayna all diese Vorwürfe machte, rannte sie aus dem Zimmer und gerade, als sie an die Tür des Jungenzimmers hämmern wollte, öffnete Anon die Tür, als hätte er gewusst, dass sie davorstand.
„Hey, hey, was ist los? Leise, die beiden schlafen schon”, erklärte Anon und hielt seinen Finger mahnend an seinen Mund. Als Alayna erklärte, was mit Kioku los war, schloss Anon die Tür hinter sich und beide eilten schnell zurück zu Kioku. Währenddessen fiel ihr auf, dass Anon nur eine Hose anhatte, jedoch der Verband um seine Hand sich über seinen ganzen Arm, die Hälfte seiner Brust und dem ganzen Bauch ausstreckte. Es schien, als würde der Verband unter seiner Hose weitergehen. Sie wusste zwar, dass Anon dieses Band zum Kämpfen benutzte, war aber erstaunt, dass es um seinen ganzen Körper gewickelt war. Dieser Gedanke verschwand genauso schnell, wie er kam.
Anon kniete sich zu Boden und versuchte das gleiche mit Kioku, wie es gerade schon Alayna versucht hatte. Als dies nichts brachte, stand er auf und nahm den Duschkopf in die Hand, stellte das Wasser kalt und spritzte Kioku ab. Durch den plötzlichen Schock des kalten Wassers schreckte sie hoch.
„Kioku, ist alles gut bei dir?“ Alayna kniete sich zu ihr auf den Boden, um zu überprüfen, ob es ihrer Freundin gut ging.
Als Kioku den Raum und die Situation überprüfte, Alayna ansah und dann an sich herunterblickte und feststellte, dass sie nur ein Handtuch umgewickelt hatte, schreckte sie panisch auf und krabbelte von Alayna weg.
„Raus!“, schrie sie panisch und erkannte auf den zweiten Blick, einen lächelnden Anon, der gerade den Duschkopf zurück in die Kabine hängte. „Raus, was macht ihr hier drinnen!?“
Bevor sie sich sichergehen konnten, dass es Kioku gut ging, verschwanden Alayna und Anon ganz schnell aus dem Badezimmer und schlossen hinter sich die Tür.
„Na, etwas kaltem Wasser hat noch keinem geschadet“, lachte Anon. „Aber das hätte ich nicht erwartet.“
„Danke, dass du geholfen hast“, bedankte sich Alayna. „Irgendwie bin ich nicht auf die Idee gekommen, ihr etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen.“
„Manchmal sind die Dinge so naheliegend, dass man einfach nicht daran denkt.“
Anon wandte sich wieder zum Gehen.
„Anon, hätten wir uns mehr Zeit in Yofu-Shiti lassen sollen? Sodass es Kioku und Tak nun besser gehen würde?“, fragte Alayna und Anon hielt noch einen Moment inne. „Ich weiß, es ist wichtig, dass wir Papa finden und das alles hier bald ein Ende nimmt. Aber würde es nicht auch reichen, uns mehr Zeit zu lassen?“
„Ich glaube, es ist alles in Ordnung, so wie es ist“, beruhigte Anon sie. „Mach dir nicht so viele Gedanken.“
Das war einfacher gesagt als getan, dachte sich Alayna. Wenn es nur so einfach wäre, diese Gedankenmaschine in ihrem Kopf abzustellen.
Die Tür zum Badezimmer öffnete sich und Kioku kam heraus; sie hatte sich mittlerweile eine kurze Hose und ein Shirt angezogen. Sie blieb verdutzt stehen, als sie das Handtuch, mit dem sie sich ihre dunklen Haare abtrocknete, sinken ließ und Alayna und Anon vor sich stehen sah.
„Anon …“, sprach sie leise vor sich und wandte ihren Blick von Anon auf Alayna. „Was macht dieses Mädchen hier?“
Alayna glaubte, Kioku falsch gehört zu haben.
„Anon, wo sind wir hier? Waren wir nicht gerade noch in einem Park spazieren? Wo bin ich?“, erkundigte sich Kioku, mit der ganz offensichtlich etwas nicht stimmte.
„Oh, oh“, murmelte Anon vor sich hin und sah Kioku besorgt an.
„Kioku, alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte sich Alayna und ging einen Schritt auf sie zu. Jedoch wich diese ängstlich zurück.
„Was auch immer du hier tust, Mädchen, ich glaube, das ist mein Zimmer. Richtig, Anon?“, entgegnete sie und warf ihr Handtuch auf das Bett. Sich wundernd, sah sich Kioku um und betrachtete genau das Zimmer. „Anon, warum sind wir hier in einem Hotelzimmer?“
„Anon, was ist mit ihr? Kommt das vom Sturz?“, fragte Alayna besorgt.
„Tja …“, meinte Anon und versuchte, herauszufinden, ob das, was er befürchtete, sich bewahrheitete. „Aoko, bist du es?“
„Ja, klar“, entgegnete Kioku, die einen skeptischen Blick zurückwarf. „Das weißt du doch?“
„Ich wusste es“, seufzte Anon und rieb sich seine Schläfen. „Alayna, du darfst jetzt nicht in Panik verfallen.“
„Was!? Wie kannst du mir so etwas sagen und erwarten, dass ich NICHT in Panik verfalle? Was ist mit Kioku los!?“
„Wer ist denn diese Kioku, von der du sprichst!?“, wunderte sich Kioku und setzte sich auf das Bett. „Kannst du mich mal aufklären, was hier los ist?“
„Aoko, das hier ist Alayna. Eine gute Freundin von … mir. Außerdem befinden wir uns gerade in Kodôtsuro; wir sind gemeinsam auf dem Weg hierher gewesen und übernachten in diesem Hotel.“
„Hallo Alayna“, begrüßte Kioku sie, als würde sie Alayna gerade zum ersten Mal kennenlernen.
„Anon, mach mir keine Angst! Was ist mit Kioku passiert?“
„Alayna, das ist Aoko. Kann ich kurz draußen mit dir sprechen?“, schlug Anon vor und nickte mit seinem Kopf in Richtung Tür. Es schien Kioku nicht zu stören, also gingen beide in den Gang des Hotels.
„Aoko ist, wie soll ich das nur sagen?“, überlegte Anon und spannte Alayna unnötig auf die Folter. „Ich nehme an, dass Aoko Kiokus richtiges Ich ist.“
„Wie meinst du das mit ‚richtiges Ich‘?“, wunderte sich Alayna.
„Kioku hat doch Amnesie, richtig? Ich denke, dass Aoko ihr ursprüngliches Ich ist, bevor sie alles vergessen hatte.“
„Das ist die wahre Kioku?“, murmelte Alayna mehr in sich hinein, um zu verstehen, was gerade geschah.
„Wir müssen sehr vorsichtig sein“, erklärte Anon. „Ich weiß nicht, wie sie auf all die Dinge reagieren wird. Ich habe sie schon einmal kennengelernt, deswegen kennt Aoko mich. Es ist in Yofu-Shiti passiert, bevor der Kampf losging.“
„War das also der Moment, als sie aus Otos Praxis abgehaut ist? Das muss es sein. Sie konnte sich wieder erinnern. Irgendetwas hat die Erinnerung ausgelöst.“
„Es ist nicht nur eine Erinnerung. Es ist, als würde es Kioku gar nicht geben. Sie war voll und ganz Aoko und konnte sich an gar nichts, was Kioku erlebt hatte, erinnern.“
„Das müssen wir sofort Tak und Eimi erzählen!“, forderte Alayna und wollte in Richtung des Jungenzimmers gehen. Doch Anon hielt sie auf.
„Lass uns nichts überstürzen, ja?“, meinte Anon und stellte sich ihr in den Weg. „Wenn wir sie überfordern, könnten schlimme Dinge passieren. Momentan hat sie akzeptiert, dass wir gemeinsam in diesem Hotel sind. Sie ist sicher. Lass ihr die Sicherheit.“
„Aber wenn sie Aoko bleibt, ist das doch genau das, was Kioku wollte. Sich erinnern“, erklärte sie sich und wusste nicht mehr, ob sie sich freuen sollte oder nicht.
„Wenn sie Aoko bleibt, ist Kioku für immer verloren“, sagte Anon kühl und wandte seinen Blick von Alayna ab. Es schien fast so, als wäre Anon traurig darüber, dass Kioku fortgehen würde. „Das nehme ich zumindest an.  Außerdem muss Aoko euch erst kennenlernen. Was, wenn sie entscheidet, zu gehen? Du kennst Aoko nicht. Sie kennt euch nicht.“
„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, sagte Alayna leise, lehnte sich an die Wand und ließ sich daran hinabgleiten. Nun rieb sie sich auch die Schläfen. „Was sollen wir nun tun, Anon?“, flehte sie zu wissen. Alayna fühlte sich nun richtig schlecht.
„Ich schätze, wir müssen erst einmal abwarten“, schlug Anon vor. „Und wir dürfen sie auf keinen Fall alleine lassen. Wenn der Trigger wieder einsetzt und sie zu Kioku wird, müssen wir dabei sein, um für sie da zu sein.“
Alayna lehnte sich an die Holztäfelung der Wand. Ihre Finger kratzten unbewusst an der Fußleiste herum, als würden diese nach etwas zu tun suchen, um sich abzulenken. Ihr war alles einfach zu viel. Am liebsten hätte sie sich einfach hingelegt, geschlafen und gehofft, dass sie bei sich Zuhause in ihrem eigenen Bett aufwachte und wieder alles normal wäre. Doch darauf konnte sie lange warten.
„Tatsächlich“, fing Anon an vorzuschlagen und kratzte sich dabei mit der Hand ohne Verband an seinem Kinn, „fände ich es ganz sinnvoll, wenn du die Nacht dafür nutzt, dich mit ihr anzufreunden. Wir wissen nicht, ob sie bis morgen wieder zu Kioku wird. Bis dahin solltest du dich mit ihr angefreundet haben, dann ist es leichter, dass sie auch Takeru und Eimi kennenlernt. Um dir etwas Zeit zu verschaffen, werde ich mit den Jungs morgen Vormittag etwas trainieren. Bis dahin kann sie ja auch wieder Kioku sein, richtig?“
Alayna nickte, weil das, was Anon sagte, schon irgendwie Sinn ergab und machte sich zunächst keine weiteren Gedanken darüber, dass Anon verhindern wollte, dass Aoko ihren Bruder und Eimi kennenlernte. Anon reichte ihre eine Hand und half ihr, wieder aufzustehen. Dabei sah er sie mit einem ‚Du schaffst das schon‘-Blick an. Also wandte sie sich wieder zu ihrem Zimmer und sah noch Anon hinterher. Er schien nichts mehr sagen zu wollen und verschwand ohne ein weiteres Wort in seinem Zimmer. Als die Tür leise ins Schloss fiel, sagte Alayna noch ein geflüstertes „Gute Nacht“ in den dunklen, stillen Gang des Hotels. Nun ging auch sie in ihr Zimmer und stellte beruhigenderweise fest, dass Kioku schon schlief.
Alayna setzte sich auf das Bett, diesmal mit dem Rücken zum Fenster und starrte Kioku an, die in ihrem Bett lag und ganz friedlich wirkte. Als wer würde sie morgen aufwachen? Wie sollte Alayna das überhaupt anstellen, sich einfach so mit Aoko anzufreunden, wenn sie sie doch gar nicht kannte? Sie selbst wusste, dass, falls sie morgens neben jemand völlig Fremden aufwachte, sie auf keinen Fall Lust hatte, diese Person kennenzulernen. Also musste sie es richtig anstellen.
Als sie so darüber nachdachte, schlief auch Alayna langsam ein.

Am nächsten Morgen wurde sie durch ein Geräusch geweckt, das sich als Kioku herausstellte, die all ihr Hab und Gut schnell zusammenpackte. Alayna brauchte zunächst einen Moment, um einen klaren Kopf zu bekommen. Die Schwere der Nacht trübte ihre Wahrnehmung und so brauchte es einige Momente, bis sie realisierte, was letzte Nacht eigentlich geschehen war.
„Wie spät ist es?“, hakte Alayna nach, bekam jedoch keine Antwort.
Erst jetzt verstand sie, dass Kioku nicht sie selbst war. Was machte Kioku da eigentlich?
„Kioku?“, fragte Alayna vorsichtig, bekam jedoch wieder keine Reaktion. „Aoko?“
Jetzt erst richtete sich Kiokus Kopf nach oben und sah Alayna an.
„Was machst du da?“, wollte Alayna wissen und zog sich währenddessen ihre Kleidung an.
„Ich muss los“, sagte Kioku knapp und stopfte ihre Klamotten tiefer in die Tasche.
„Wie, wohin musst du los? Das Frühstück wartet auf uns“, entgegnete Alayna und bekam langsam Panik, unwissend, was als nächstes geschehen würde.
„Ich muss meine Mutter finden“, sagte Kioku und sah Alayna ernst an. „Aber das geht dich nichts an. Wo ist Anon? Er meinte, er würde mich zum Rand der Stadt bringen. Er weiß, wo sie ist.“
Kioku nahm ihre Tasche und warf sie sich über. Sie schien bereit zu sein zu gehen.
„Anon kann gerade noch nicht“, sagte Alayna ganz schnell, weil ihr nichts Besseres einfiel, um Kioku aufzuhalten. „Er … er meinte, er würde gegen Mittag wieder zu uns stoßen. Vielleicht magst du mit mir bis dahin warten und etwas frühstücken?“
Kioku verharrte für einen Moment und sah etwas an Alayna vorbei aus dem Fenster. Die Morgensonne strahlte kräftig in das Zimmer. Der einfallende Lichtstrahl machte die Staubkörnchen sichtbar, die in der Luft schwebten.
„Wir könnten uns näher kennenlernen“, schlug Alayna vor und konnte die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht ganz verbergen.
Auch nun reagierte Kioku kaum. Es schien fast so, als wäre sie gar nicht wirklich anwesend. Sie hob kurz ihre Hand und rieb sich ihre Narbe, als würde sie schmerzen. So wie Kioku dastand und sich bewegte, erkannte Alayna, dass das nicht die Person war, die sie kennengelernt hatte. Es schien, als wäre dieser Körper mit etwas ganz Neuen und Fremden gefüllt.
Kioku drehte sich zur Tür.
„Ich weiß auch nicht, wo meine Mutter gerade ist“, erzählte Alayna verzweifelt und ehrlich. „Seitdem wir auf der Suche nach unserem Vater sind, habe ich meine Mutter nicht mehr gesehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich gar nicht mehr weiß, wie ihre Stimme klingt oder ihr Haar riecht.“
Kioku hielt inne und setzte sich zurück aufs Bett. Sie wirkte so anständig zu warten, bis Alayna fertig gesprochen hatte, bevor sie ging. Das war Alaynas Chance, vielleicht doch noch etwas Zeit zu schinden, bis sie eine Idee hatte, wie sie Kioku zum Bahnhof bringen konnte, so wie es Anon in seinem gestrigen Plan verlangte.
„Ich habe in den letzten Wochen realisiert, dass ich vielleicht gar nicht wirklich weiß, wer meine Mutter eigentlich ist. Nein, eigentlich ist es viel schlimmer. Ich glaube, ich habe mich nie dafür interessiert, wer meine Mutter eigentlich ist. Ich war mein normales, kleines Leben so gewohnt, dass ich es gar nicht für nötig empfunden habe, mich mit den Menschen um mich herum zu befassen.“
Auch Alayna setzte sich auf das Bett. Schon wieder schnürten ihr all die Gefühle, die in ihr brodelten, die Kehle zu und nahmen ihr die Luft. Schon wieder war sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Wie oft hatte sie in der letzten Zeit vor Verzweiflung geweint? Es war wie ein endloser Kreis, der sich immer wieder wiederholte. Wie kam sie da nur heraus?
„Aber ich weiß jetzt, was ich an meiner Familie habe. Einen Vater, der es immer unterstützt hat, was ich für Interessen pflege. Egal, was passiert ist, er war immer für mich da und hat sich um mich gekümmert. Wenn ich geweint habe, hat er mich getröstet und wenn ich gelacht habe, hat er mit mir gelacht. Ich habe eine Mutter, die mir immer wieder gesagt hat, was wichtig ist und mich an Sachen erinnert hat, die ich vergessen hatte. Jetzt ist es wohl Zeit, dass ich für sie da bin und Vertrauen habe. Aber weißt du was, Aoko?“
Kioku drehte sich nicht zu ihr um und gab kein Zeichen einer Reaktion von sich. Alaynas Tränen kullerten über ihr Gesicht und sie musste erst einmal schlucken, um den Knoten in ihrem Hals zu lockern. Sie war heillos überfordert mit der Aufgabe, die ihr Anon aufgetragen hatte. Wie sollte sie es schaffen, Aoko als Freundin zu gewinnen und zu überzeugen, mit ihr zum Bahnhof zu gehen? Sie war gerade doch kurz davor, das Gebäude zu verlassen und wieder wegzulaufen.
„Ich habe auf meiner Reise eine Freundin gefunden, die in der gleichen Situation ist, wie ich. Sie hatte nichts. Sie verlangte nichts. Sie war einfach für mich da. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Menschen getroffen, der so unvoreingenommen und ohne Vorurteile jemanden begegnet ist, wie sie damals mir begegnet ist. Sie hat mich unterstützt, mich beschützt und mich aufgemuntert. Ich weiß jetzt, was wichtig ist: Die Menschen zu beschützen, die einem wichtig sind. Das ist genau das, was ich jetzt tun werde!“
Kioku bewegte sich, drehte ihren Kopf leicht zu Alayna, ohne jedoch ihr volles Gesicht zu zeigen.
„Bist du fertig?“
Diese kalte, emotionslose Frage schockierte Alayna und brachte sie für einen Moment aus dem Konzept. Leider war der Moment lange genug, dass Kioku ihre eigene Antwort in die Stille interpretieren konnte, aufstand und ging.
Als Alayna ihre Tränen wegwischte und realisierte, was passiert war, war das Schloss schon in die Tür gefallen. Sofort stopfte sie panisch ihre Sachen in ihre Tasche und ging Kioku hinterher.
„Kioku, warte!“, verwechselte sie ihre Freundin, doch Kioku war schon längst nicht mehr im Gang des Hotels. „Scheiße, scheiße, scheiße!“

Es konnte einfach nicht schon wieder geschehen, dass Kioku einfach verschwand. Um keinen Preis wollte Alayna zulassen, dass sich die Geschehnisse in Yofu-Shiti wiederholten. Panisch klopfte sie am Zimmer der Jungs, stellte dann aber fest, dass Anon mit beiden schon längst am Trainieren war. Wohin die Jungs jedoch gegangen waren, wusste Alayna nicht, also blieb ihr wieder einmal nichts anderes übrig, als selbst auf die Suche zu gehen. Diesmal waren jedoch Ama und seine Familie nicht dabei, um zu helfen.
Alayna rannte aus dem Hotel hinaus ins Freie und sah, dass Kioku sehr zügig die Straße hinunterlief, in die Richtung, aus der sie gestern gekommen waren. Alayna war dankbar darüber, dass sie ihr vorhin erzählt hatte, dass ihr Ziel der Stadtrand war.
„Kioku, warte!“, schrie sie ihrer Freundin hinterher und vergaß dabei, sie Aoko zu nennen. Wieder reagierte Kioku nicht und Alayna musste ihre Beine in die Hand nehmen.
Es war mittlerweile recht warm und Alayna fing sofort an zu schwitzen. Sie fühlte sich noch etwas träge und müde, investierte jedoch ihre ganze Kraft, um so schnell zu rennen, wie sie nur konnte. Immer wieder rief sie nach Kiokus Namen und als diese mitbekam, dass Alayna ihr folgte, rannte auch Kioku los.
So langsam wich Alaynas Verzweiflung einer Wut, die mit jedem Schritt, den sie tat, immer stärker wurde. Sie war wütend darauf, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte. Sie war wütend auf Anon, der sie mit dieser Herkulesaufgabe allein gelassen hatte. Was dachte er sich nur dabei?
Nun begann eine anstrengende Verfolgungsjagd, da Kioku jede mögliche Abzweigung nahm, die sie fand. Zunächst bog sie in größeren Straßen ein, dann jedoch wandte sie sich engeren und unzugänglicheren Gassen zu, die teilweise mit Mülleimern vollgestellt waren. Einmal schaffte es Kioku, eine Tonne so umzuschmeißen, dass sie eine Kettenreaktion auslöste und den Weg durch noch mehr Gerümpel versperrte, über das Alayna klettern musste, um Kioku nicht zu verlieren. Als Kioku jedoch einmal nicht wusste, ob sie lieber nach links oder rechts fliehen wollte, konnte Alayna wieder etwas Nähe zu ihr gewinnen.
„Lass mich in Ruhe! Ich kenne dich gar nicht!“, schrie Kioku verzweifelt.
„Ich lass dich nicht alleine! Du bist meine beste Freundin, Kioku!“, entgegnete Alayna wild und beobachtete, wie Kioku wieder ihre Narbe rieb, als würde sie schmerzen.
„Ich will nur meine Mutter finden!“, brüllte Kioku und nahm wieder irgendwelche Abzweigungen in einer Gasse.
„Und ich werde dir dabei helfen!“, brüllte Alayna zurück und war schon völlig außer Atem. Die Geschwindigkeit der beiden hatte sich schon längst reduziert. „Wir werden beide unsere Familie finden und deine Erinnerungen wiedererlangen!“
„Lass mich allein!“
„Niemals lasse ich das nochmal zu!“
Dann machte Kioku einen wesentlichen Fehler, als sie, ohne zu schauen, in eine Gasse einbog, die eine Sackgasse war. Alayna schaltete schnell, warf ihre Tasche beiseite und stürzte sich im Flug auf Kioku und riss sie zu Boden. Die Wut und Verzweiflung schenkten ihr die Kraft, ihre Freundin zu Boden zu reißen. Sie versuchte sich auf Kioku zu setzen, um sie festzuhalten, musste dafür jedoch einige Schläge Kiokus einstecken, die sich zu wehren versuchte. Dann griff Kioku Alaynas Arme und versuchte, sie von sich herunterzustoßen.
„Lass mich verdammt noch einmal in Ruhe!“, brüllte sie mit einer Lautstärke, die Alayna in den Ohren schmerzte.
„Du darfst nicht gehen! Du darfst mich nicht allein lassen!“, forderte Alayna, der nun wieder Tränen aus den Augen quollen. Jedoch wusste sie diesmal nicht, ob sie vor Schmerz oder wegen ihrer Traurigkeit weinte.
Dann schaffte es Kioku, Alayna für einen Moment in die Luft zu heben und verpasste ihr einen kräftigen Schlag in die Magengegend, durch den sich Alayna vor Schmerz krümmend auf den Boden abrollen musste. Kioku versuchte aufzustehen und zu fliehen, jedoch hielt Alayna einen ihrer Füße fest und zog kräftig daran. Beide schrien vor Wut, als Alayna zog und Kioku zu Boden fiel.

Als alles wie in Zeitlupe abzulaufen schien, das Schreien der beiden zu einem dumpfen, entfernten Geräusch wurde, realisierte Alayna, dass das einer dieser Momente war, in dem man spürte, was passieren würde, bevor es geschah.
So passierte es, dass Kioku, die versuchte, mit ihrem anderen Fuß noch Halt zu finden, auf dem Boden ausrutschte und zu Boden fiel. Ihr Kopf stieß dabei auf eine der massiveren, größeren Mülltonnen, welche starken Widerstand zu leisten schien. Alayna sah zu, wie Kiokus Körper bewusstlos auf dem Boden aufschlug, durch die Erschütterung noch einmal kurz in die Luft abhob und dann auf dem harten Untergrund zur Ruhe kam.
„Kioku!“, schrie Alayna, diesmal mit einer viel höheren Stimme. „Nein, nein, nein! Das wollte ich nicht! Kioku!“
Sie robbte über den Boden und überprüfte, wo Kioku verletzt war. Ihre Brust hob und senkte sich zwar, aber Kioku reagierte nicht auf Alayna.
Sie kniete sich neben ihren Kopf und legte diesen auf ihren Schoß.
„Kioku, wach auf, bitte!“, flehte Alayna, deren Tränen auf Kiokus Gesicht tropften, während sie versuchte, sie zu wecken. Alayna realisierte, dass sie im Prinzip gerade das getan hatte, was Takeru passiert war: Kioku zu verletzen. Das Gegenteil von dem war eingetroffen, was sie eigentlich wollte.
Irgendwie schien nichts mehr, was um sie herum passierte, echt zu sein. Der Versuch, sie zu wecken, war erfolglos. Alleine sah sie sich nicht im Stande, Kioku zu helfen. Deswegen stand Alayna auf, griff Kioku unter ihren Armen und zog sie mit sich. Es war unfassbar anstrengend, Kioku zu ziehen, deswegen musste sie immer wieder Pause machen, bis sie aus dieser Gasse herauskam und auf die Straße kam. Es war niemand unterwegs, der ihr helfen konnte, also schleifte sie Kioku die Straße herunter.
„Ich krieg dich wieder hin“, versprach Alayna, machte wieder eine Verschnaufpause und rief nach Hilfe. Aber es schien niemand in der Stadt unterwegs zu sein. Am Ende der Straße entdeckte sie einen kleinen Park, in dem Leute zu sein schienen. Also konzentrierte sie all ihre Energie und packte Kioku wieder an, die immer schwerer zu werden schien. Alaynas Muskeln zitterten und sie musste sich richtig in den Boden stemmen, um ordentlichen Halt zu erlangen. Immer wieder rutschte Kioku aus ihrem Griff, Alayna konnte sie jedoch immer wieder noch rechtzeitig auffangen. Es geschah, dass Alayna mehr schrie und weniger tragen konnte. Ihre ganze Kraft entwich aus ihrem Körper. Sie rutschte aus und fiel zu Boden und landete dabei auf ihrem Steißbein. Der stechende Schmerz fuhr ihr durch den ganzen Körper und sie musste sich der Schwerkraft für einen Moment hingeben und sich kurz hinlegen. Ihr Brustkorb bewegte sich unrhythmisch, als sie nach Luft rang. Nur kurz wollte sie dort liegen bleiben, um neue Kraft zu sammeln. Es war unverständlich, wie genau jetzt kein Mensch unterwegs war und ihr helfen konnte. Mussten nicht die Leute, die aus dem Fenster blickten, sehen, dass sie in Not war? Konnten die Bewohner der Stadt das nicht sehen oder wollten sie es schlichtweg nicht?
Dann hörte sie Schritte. Hoffnungsvoll richtete sie sich auf und in dem Augenblick, als sie erkannte, wer auf sie zukam, schossen ihr wieder die Tränen aus den Augen. Es waren Anon, Eimi und ihr Bruder, die mit sorgenvollen Gesichtern auf sie zuliefen.
Anon schien sofort zu verstehen, was geschehen sein musste und kümmerte sich mit Takeru um Kioku, half ihr hoch, spritzte ihr etwas Wasser ins Gesicht.
Eimi hingegen half Alayna hoch, die voller Dreck und tränenüberströmt in seine Umarmung fiel, die er ihr anbot. Sie drückte sich so fest an ihn, wie sie nur konnte, nahm dabei seinen Duft wahr und ignorierte den Schmerz, der nur langsam nachließ.
„Geht es dir gut? Was ist passiert?“, fragte Eimi mit seiner beruhigenden Stimme. Alayna schüttelte ihren Kopf langsam und bemerkte, dass sie mit ihren Tränen Eimis Pullover feucht machte.
„Sie hat eine Beule“, bemerkte Anon und wartete auf Alaynas Erklärung.
„Sie ist gestürzt und hat sich gestoßen“, sagte Alayna nur halb verständlich in Eimis Schulter.
Es war Takeru, der als erster bemerkte, dass Kioku sich wieder bewegte. „Kioku!“, rief er erfreut und stützte sie mit Anon, als sie langsam wieder zu sich kam.
„Was ist passiert?“, murmelte Kioku, die sich die Stelle an ihrem Kopf rieb, an der sie sich gestoßen hatte.
„Kioku!“, bemerkte Alayna, als sie die vertraute Stimme Kiokus wieder hörte, die ganz anders sprach, als Aoko. Dann löste sie sich von Eimis Arm und stürzte auf Kioku, um sie zu umarmen. „Es tut mir so leid!“
Kioku wusste gar nicht, was sie mit dieser Entschuldigung anzufangen hatte und ließ sich auf die Umarmung ein. „Vorsicht, mein Kopf tut so weh.“
„Wir müssen dich erst einmal verarzten“, sprach Anon, der froh zu sein schien, dass Kioku wieder sie selbst war. „Dann solltest du dich noch etwas ausruhen, bevor wir zum Bahnhof gehen. Währenddessen kannst du mir alles erzählen, was passiert ist, Alayna.“
Sie nickte. Dann sah sie zu, wie Takeru beiden etwas zu trinken anbot und Eimi die Taschen von ihr und Kioku nahm. Als sie sich vorsichtig aufrichteten, gingen die Freunde in eine nahegelegene Gaststätte, um einerseits Kioku zu versorgen und andererseits etwas zu essen. Es dauerte danach nicht mehr lange, bis sie den Zug am Bahnhof erreichten.


Kapitel 44 – Die Entführung

Kurz nachdem die Freunde in den Zug gestießen waren, ließen sie sich auf den von Anon zugewiesenen Plätzen nieder. Anon hatte Spendierhosen an, denn die Freunde hatten ihr eigenes Abteil in der ersten Klasse. Takeru setzte sich gleich als erstes an das Fenster. Ihm gegenüber saß Kioku, die zwar sagte, dass es ihr schon besser ginge, aber dennoch noch keinen fitten Eindruck machte. Glücklicherweise hatte sie während der Fahrt die Möglichkeit, etwas zu schlafen. Anon sagte, dass sie erst in den sehr frühen Morgenstunden ankommen würden, weil der Zug auf seiner Strecke noch eine Pause einlegen würde. Neben Takeru setzte sich Eimi und fuhr mit seiner Hand über den weichen Bezug der Polsterung. Im Abteil gab es reichlich Platz und einen kleinen Tisch in der Mitte. Eimi gegenüber saß Alayna, die immer wieder besorgt zu Kioku blickte. Eimi beschlich das Gefühl, dass etwas Schlimmeres passiert war, als Alayna meinte. Sie hatte vorhin erzählt, dass Kioku schon mit Kopfschmerzen aufgewacht war und als sie auf der Suche nach ihm und Takeru gewesen waren, sie einfach umgefallen wäre. Er vermutete zwar, dass dies Nachwirkungen des Kampfes waren, jedoch versteckte sich in Alaynas Verhalten noch mehr.
Anon stieß erst nach einigen Minuten zu den Freunden hinzu, entschuldigte sich für die Verspätung und setzte sich neben Eimi. Es schien zwar so, als würde er ständig aus dem Fenster blicken, jedoch bemerkte Eimi, dass sein Blick immer wieder überprüfend auf Kioku fiel.
Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung und verließ langsam den Bahnhof. Relativ schnell fuhr er in einen Tunnel ein und der Blick aus dem Fenster zeigte eine pechschwarze Fläche. Eimi bemerkte, wie allmählich ein Unwohlsein in ihm aufstieg. Er erinnerte sich an die schrecklichen Bilder, als er zuletzt in einem Zug gesessen hatte und hatte mitansehen müssen, wie eine Frau vor seinen Augen entführt worden war. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt und ausgerechnet an diesem Tag hatten die Freunde das miterleben müssen. Was wäre gewesen, wenn die Frau hätte gerettet werden können? Wäre dann alles so abgelaufen, wie es geschehen war?
Er stellte sich vor, wie sie Vaidyams Gruppe in die Flucht schlugen und die Frau sich vor Glück auf die Knie fallen ließ und sich tausendmal bedankte. In seiner Vorstellung hatte sie eine ganz zarte, weiche Stimme. Vielleicht erzählte sie von ihren Kindern, von ihrer Familie, dass sie jemanden besuchen würde oder einfach nur davon, dass sie auf dem Weg zu ihrer wichtigen Arbeit war. Dann ganz plötzlich tauschte das Bild und Eimi befand sich gedanklich in dem Labor und sah die Leiche der Frau auf dem Bett. Mehrere Betten verflüchtigten sich in die Ferne, bis kein Ende mehr zu sehen war und auf jedem dieser lag eine tote Frau. Sein Magen drehte sich um, als sich diese Bilder vor seinem inneren Auge immer wieder manifestierten.
Ein gleißender, kurzer Lichtschein blitzte auf. Nach einem tiefen Atemzug sah er die ganzen Leute, die sie aus dem Labor hatte befreien können. Diese Menschen, die vor dem brennenden Labor saßen und zufrieden wirkten, obwohl sie wahrscheinlich die Hölle auf Erden erlebt hatten, waren ein wahrer Lichtblick. Wären diese Leute jemals befreit worden, hätten Eimi und die anderen es geschafft, die Frau im Zug zu retten? Er wusste, dass man Leben mit nichts aufwiegen konnte, musste sich aber auf die Vielzahl der Leute konzentrieren, die gerettet worden waren für diesen bitteren Preis, der dafür bezahlt worden war. Er wünschte dieser Frau, dass sie in Frieden ruhen durfte.
Die Tür zum Abteil öffnete sich und eine Bedienstete in edler Kleidung brachte etwas zu essen.
„Abendessen“, kündigte Anon grinsend an und freute sich auf das kleine Menü, das serviert wurde.
In einer kleinen Porzellanschale gab es etwas Salat mit einem feinen Dressing. Als Hauptspeise gab es eine Suppe mit Nudel- und Gemüseeinlage. Dazu wurde ein lecker aussehendes Brötchen mit Körnern und zum Nachtisch in einer weiteren Schale etwas Pudding serviert. Auf diesem thronte eine Soße aus roten Früchten.
„Lasst es euch schmecken“, sagte Anon, der danach an seinem Glas Rotwein nippte, das er sich hatte einschenken lassen. Genau in diesem Moment verließ der Zug den Tunnel wieder und die Freunde erkannten, dass sie sich schon auf dem Berg befanden, der hinter der Stadt Kodôtsuro befand. In der Ferne sah man die Sonne hinter dem Horizont verschwinden. Die Aussicht war atemberaubend und erinnerte die Freunde an den Absturz des Luftschiffes, den Anon zu verhindern gewusst hatte. Eimi dachte darüber nach, was für ein starker, beeindruckender Mann er war, während er etwas Salat und Suppe zu sich nahm. Das drückende Bauchgefühl hatte ihn noch nicht ganz verlassen, deswegen musste er langsam essen. Nicht so wie Takeru, der alles in sich hineinschlang, als dächte er, dass es in den nächsten Tagen nichts mehr zu essen geben würde.
Während er aß, musste Eimi über ihren Begleiter Anon nachdenken. Er hatte sie gerettet, als sie mit dem Luftschiff geflogen waren. Außerdem hatte er Kioku und Takeru gerettet, als die Kämpfe in Yofu-Shiti getobt hatten. Anon hatte einen Vorschlag, wie sie Alaynas Vater finden konnten. Wann würde er das nächste Mal der Retter der Gruppe sein? Eimi wusste auf jeden Fall, dass er mindestens genauso geheimnisvoll wie hilfsbereit und nett war.
Der Zug schlängelte sich langsam seinen Weg durch das Gebirge und ermöglichte den Freunden einen tollen Ausblick auf die Bergspitzen und Täler. Nach einiger Zeit, in der wenig gesprochen wurde, waren Takeru und Kioku die ersten, die still einschliefen.

Zu Alaynas Verwunderung blieb Eimi noch ziemlich lange wach. Es war ihr etwas unangenehm, denn sie wollte unbedingt mit Anon über das sprechen, was geschehen war. Ihr Bruder und Kioku waren schon längst eingeschlafen und jetzt musste nur noch Eimi einschlafen, sodass sie eine Chance hatten, ungestört zu reden. Natürlich würde sie trotzdem das Abteil dafür verlassen müssen, für den Fall, dass jemand aufwachte oder doch lauschte.
Als sie ihr Gegenüber so beobachtete und darüber nachdachte, wann er in das Land der Träume eintauchen würde, bemerkte sie, dass Eimi sehr gut aussah, wie er ganz ruhig dort saß, ab und an aus dem Fenster sah und dann wieder sie anblickte. Sein Blick musste gerade nichts zu bedeuten haben, dennoch spürte Alayna, dass etwas in der Luft lag. Aber dem näher auf den Grund zu gehen, war gerade nicht möglich. Sie musste ständig darüber nachdenken, wie sie mit der Aoko-Sache umgehen sollte. Es musste nun etwas beschleunigt werden, mit Anon ein Gespräch zu suchen. Deswegen tat sie zunächst so, als würde sie schlafen, damit auch Eimi zur Ruhe kam, weil ihr schlichtweg nichts besseres einfiel, um sich nicht zu verrraten. Also schloss sie ihre Augen und sortierte währenddessen ihre Gedanken. Sie war zwar auch müde, jedoch konnte das Gedankenkarussell sie gut wachhalten. Nach einer Weile machte sie vorsichtig ihre Augen auf und sah, dass Eimi eingeschlafen war. Das erkannte sie einerseits an seinem entspannten Gesichtsausdruck und andererseits daran, dass sie leise seinem Namen sagte, jedoch keine Reaktion darauf geschah.
„Anon, können wir reden?“, bat Alayna ganz leise und deutete auf den Gang. Er zögerte zunächst, sah in die Runde und versicherte sich, dass alle schliefen. „Bitte.“
Beide standen auf, ohne ein Geräusch von sich zu geben und traten hinaus in den Gang des Waggons. Die zwei gingen, bis zum Ende des Waggons, in dem etwas mehr Platz war, weil sich dort die Türen befanden. Alayna lehnte sich an das kalte Fenster, ihr gegenüber stand Anon.
„Du hast uns allein gelassen“, sagte Alayna vorwurfsvoll, jedoch leise.
„Was genau ist passiert?“, entgegnete er. „Doch etwa nichts Schlimmes?“
„Sie wollte abhauen, ihre Mutter suchen. Sie wollte nichts von mir wissen. Nicht, dass wir gestritten hätten, aber …“ Alayna konnte nicht zu Ende erzählen, denn die Erinnerung an die Hilflosigkeit schnürte ihr irgendwie den Hals zu.
„Ich weiß. Das hatte Aoko schon in Yofu-Shiti vor. Ich musste sie anlügen, damit sie nicht einfach verschwindet. Ich meinte, ich kenne sie.“
„Sie ist losgerannt. Ich habe sie natürlich verfolgt. In einer Gasse konnte ich dann aufholen und wir haben gekämpft.“ Alayna musste fast wieder weinen, als sie das erzählte. Nachdem Anon nichts sagte, erzählte sie weiter: „Ich hielt sie fest und sie stürzte. Dabei hatt sie sich den Kopf gestoßen.“
„Das muss es sein“, erkannte Anon ganz ruhig. „Im Badezimmer lag sie auf dem Boden. Dort ist sie sicherlich ausgerutscht und hat sich auch den Kopf gestoßen. Ich habe einmal gehört, dass so eine starke Krafteinwirkung auf den Kopf Auswirkungen auf das Gehirn haben kann. Es kann gut sein, dass die Erschütterung die Amnesie beendet hat. Deswegen hat sie auch die Narbe auf der Stirn. Das muss etwas mit dem Zeitpunkt zu tun haben, an dem sie zum ersten Mal vergessen hat, wer sie ist.“
„Aber das macht keinen Sinn. In Yofu-Shiti hat sie sich den Kopf nicht gestoßen, als sie aus Otos Praxis gestürmt ist“, wandte Alayna ein. Sie warf einen Blick auf den Boden, um besser nachdenken zu können.
„Was ist in Otos Praxis passiert? Dort muss es etwas anderes gewesen sein, dass eine Erinnerung in ihr wachgerüttelt hat.“
„Suna wurde behandelt, Oto hatte da eine besondere Technik mit Wasser“, sagte Alayna.
„Sonst noch etwas? Jedes Detail kann hilfreich sein.“
„Nicht, dass ich wüsste. Das ist alles, was passiert ist. Und ich war so konzentriert auf das, was mit Suna passierte.“
„Als sie in Yofu-Shiti wieder zu Kioku wurde, ging gerade die Notfallsirene los. Das war, nachdem sie mit Ama zusammengestoßen ist. Irgendetwas darin muss der Schlüssel sein.“
„Anon“, unterbrach Alayna seinen Gedanken schnell. Ihr war es gerade nicht wichtig, was die Wahrheit war, sondern wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. „Was tun wir jetzt?“
Bevor er diese Frage beantworten konnte, trat ein Zugbegleiter in den Waggon und wandte sich zu Anon. Ohne etwas zu sagen, gab er ihm einen kleinen Zettel in die Hand, auf dem wahrscheinlich eine Nachricht geschrieben war. Alayna verwunderte das geheimnisvolle Verhalten des Zugbegleiters, der keine besonderen Auffälligkeiten aufwies, bis auf einen kleinen silbernen Pin, den er an seinem Gürtel trug und Alaynas Aufmerksamkeit anzog. Nachdem dieser Mann gegangen war und Anon die Nachricht genug studiert hatte, bekam sie keine Antwort auf ihre Frage.
„Das ist nicht gut“, sprach Anon und sah Alayna besorgt an.

Er konnte sich gut daran erinnern, dass er einmal kurz wach geworden war und sich umgesehen hatte. Die Müdigkeit hatte ihn an den Sitz im Waggon gefesselt und er hatte sich kaum aufrichten können. Als er erkannt hat, dass neben ihm Takeru und Kioku schliefen, jedoch Anon und Alayna fehlten, hatte er sich fest vorgenommen aufzustehen und nach ihnen zu suchen. Doch die Träge hatte ihn wieder zurück in den Schlaf gezogen. Es war kein erholsamer Schlaf; im Sitzen zu schlafen war kaum gemütlich, jedoch hatte er schon einmal schlimmere Nächte hinter sich gebracht.
Es war Morgen, als Eimi ganz aufwachte. Mit einem Ruck wurde die Abteiltür geöffnet und ein Zugbegleiter brachte den Freunden ein kleines Frühstück, das aus Brötchen und diversem Aufschnitt bestand. Es dauerte etwas, bis seine Erinnerungen an die Nacht zurückkehrten und er dem nachgehen wollte, wohin Anon und Alayna verschwunden waren.
Während des Frühstücks sprach keiner. Der Zug fuhr zum Fuß des Berges hinab und umrundete das große Gesteinsmassiv. Von der Wüste war noch nichts zu sehen. Jedoch offenbarte die Natur, dass es Frühling und schon wesentlich wärmer war als in Eimis Heimat im Süden. Die Bäume hatten hier schon Blätter und einige Blumen waren dabei, bald ihre Blüten zu öffnen; sie warteten nur noch auf die ersten Sonnenstrahlen. Je näher sie dem Äquator kamen, desto stärker veränderte sich das Klima. Ob es zu dieser Jahreszeit in der Wüste so extrem war, wie er in der Schule gelernt hatte? Eimi war sich auf jeden Fall sicher, dass er dies bald erfahren würde.
Als das Frühstück aufgegessen war, wollte er Anon und Alayna darauf ansprechen, wann sie ankommen würden, jedoch kam ihm Anon zuvor.
„Hört mal“, fing Anon an zu sprechen. „Wir kommen bald an. Es dauert nicht mehr lange.“
Takeru und Kioku wandten sich neugierig zu Anon, während Alayna aus dem Fenster blickte. Wusste sie schon, was Anon sagen wollte?
„Die Abreise in dieser kleinen Stadt wird sich leider etwas verzögern. Ich werde noch etwas Kleines erledigen müssen, bevor wir losreisen können.“
„Wie, du musst etwas erledigen?“, hakte Takeru verwundert nach. „Wir wollten doch zu dieser Stadt, damit wir Papa finden können!“
Ganz offensichtlich gefiel Takeru es nicht, dass Anon etwas anderes vorhatte. Eimi vermutete, dass es auf jeden Fall etwas damit zu tun hatte, was er mit Alayna in der letzten Nacht besprochen hatte.
„Alayna, was denkst du darüber?“, fragte Eimi ganz provokant, um ihre Reaktion einschätzen zu können. Sie war scheinbar verwundert, dass Eimi sie so direkt fragte.
„Es scheint wichtig zu sein“, sagte sie und versuchte, die Situation nicht weiter zu kommentieren.
„Aber wir müssen so schnell wie möglich dahin! Sonst ist Papa bis dahin wieder verschwunden!“, forderte Takeru und stand auf. Als er von seiner Schwester jedoch keine weitere Reaktion erhielt, wandte er sich zu Kioku.
„Kioku, du meintest doch, Papa wäre dort! Wir müssen schnell dorthin!“
Eimi beobachtete, wie Kioku ebenfalls merkwürdig auf Takerus Forderung einging. Sie war es doch, die vorgeschlagen hatte, diesen Weg zu nehmen und nun war das, was Anon zu erledigen hatte wichtiger und wurde still von Alayna und Kioku akzeptiert? Eimi sah die Dringlichkeit darin, in die Stadt zu kommen und wollte die Suche nach Takerus und Alaynas Vater unterstützen. Irgendetwas anderes musste vorgefallen sein, dass nur Alayna und Kioku mit Anon teilten, sonst würden sich die beiden nicht so zurückhaltend verhalten. Jedoch wollte er seine Freunde nicht gegeneinander ausspielen. Anon war der Schlüssel, um hinter das Geheimnis der ganzen Situation zu kommen.
„Was musst du genau erledigen?“, hakte Eimi fordernd nach, nachdem er Takeru gedeutet hatte, sich wieder hinzusetzen. „Es ist wichtig, dass wir so schnell wie möglich in die Wüstenstadt gelangen, um Takerus Vater zu finden.“
„Es ist kompliziert“, versuchte Anon einer Erklärung auszuweichen.
„Wenn es so kompliziert ist, dann können wir auch alleine die Karawane deines Freundes nehmen und selber herausfinden, was in dieser Stadt los ist, nicht wahr?“
„Stimmt! Wir haben schon so viel hinbekommen, das schaffen wir auch!“, mischte sich Takeru ein, wie Eimi gehofft hatte. Wenn er Anon etwas unter Druck setzen konnte, würde er schon bekommen, was er suchte – ordentliche Antworten.
„Stimmt’s, Kioku?“, wollte Takeru auch Kioku mit ins Boot holen. Sie hatte schließlich vorgeschlagen, ihren Vater in der Wüstenstadt zu suchen.
„Wir sollten vielleicht lieber auf Anon warten“, meinte Kioku vorsichtig, entgegengesetzt Takerus Erwartungen zu ihrer Antwort.
„Aber es war doch deine Idee“, wunderte sich Takeru und sah Kioku erstaunt an.
„Was ist deine Meinung, Alayna?“, fragte Eimi sie wieder auf eine provokante Art und Weise.
„Ich bin Kiokus Meinung“, sagte sie kurz. „Wir sollten auf Anon warten.“
„Was ich natürlich auch vorschlagen kann“, setzte Eimi an und hielt noch einen kurzen Moment inne, um zu entscheiden, ob er das wirklich auf diese Art und Weise vorschlagen sollte. Es war nicht so, dass er sich irgendwie hintergangen fühlte, aber diese merkwürdige Geheimnistuerei gefiel Eimi nicht. Nachdem sich die Freunde nach den Ereignissen im Labor und in Prûo getrennt hatten, war die Stimmung unter ihnen sowieso schon sehr komisch gewesen. Er wusste, wenn er diesen Vorschlag nun machte, dass das Risiko sehr hoch war, den Keil zwischen den Freunden noch tiefer zu schlagen. Aber dennoch wagte er es. „Tak und ich können auch allein schon einmal vorgehen, die Lage checken und Sachen herausfinden.“
„Find ich super!“, befürwortete Takeru den Vorschlag seines Freundes.
„Halt“, sprach Anon in einem sehr ernsten Ton. Bisher hatte er nicht viel gesagt und die Diskussion sich von allein entwickeln lassen. Eimi konnte nicht einschätzen, was im Inneren Anons vor sich ging, jedoch erkannte er, dass Anon Kioku intensiv anblickte, als er sprach.
„Ich sehe, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als euch die Wahrheit zu sagen.“
Anon rieb sich die Schläfe, als würde ihn die Situation sehr nerven. Alaynas Augen blickten nun ebenfalls neugierig zu dem blauhaarigen im Trenchcoat.
„Ich habe gestern Nacht eine Nachricht erhalten, dass ein Freund eures Vaters als Geisel genommen wurde. Ich habe den Auftrag von den Vastus Antishal erhalten, dem nachzugehen. Er befand sich ebenfalls auf dem Weg in die Wüstenstadt und wurde auf dem Weg dorthin als vermisst gemeldet. Es wird angenommen, dass er sich immer noch in der Stadt befindet, die wir bald erreichen werden. Er ist noch nicht beobachtet worden, wie er die Stadt in Richtung der Wüste verlassen hat. Die Vastus Antishal wollen, dass ich ihn befreie. Sein Name ist Denji Atsui.“
Das hatte Eimi nun nicht erwartet. Während der Zug nun den Fuß des Berges erreichte und nur noch eine kurze Strecke um den Berg herumfahren musste, machte er sich Gedanken darüber, was das nun mit Alayna zu tun hatte.
„Ich habe mitbekommen, wie Anon die Nachricht bekommen hat“, erklärte Alayna. „Er bat mich, das geheim zu halten, weil er uns nicht dabei haben wollte. Jedoch bestand ich darauf, ihn zu begleiten, weil es bestimmt sehr gefährlich wird.“
„Es wird vermutet“, erklärte Anon weiter, der anscheinend einsah, dass es nichts brachte, irgendwelche Informationen zurückzuhalten, „dass ein Mann der Entführer ist, der in Kontakt mit Vaidyam Zlovnmamir und Want Sanntach zu sein scheint. Wenn das der Fall ist, müsste ich nicht nur Denji Atsui befreien, sondern auch dadurch Informationen über die Machenschaften der zwei anderen Herren herausfinden. Vielleicht gibt es dadurch Informationen über die Geschehnisse und Beweggründe in Yofu-Shiti.“
„Und die Vastus Antishal haben dich persönlich um Hilfe gebeten?“, fragte Eimi.
„Mir hat Shin, der Kommunikationsleiter der Vastus Antishal direkt geschrieben, ja. Sie haben immer noch damit zu tun, in Yofu-Shiti mit dem Aufbau zu helfen.“
Auf Eimi wirkte diese Erklärung nicht vollends schlüssig. Inwiefern hatte Anon etwas mit den Vastus Antishal zu tun? Woher wussten sie, wo Anon war? Wurden sie beobachtet? Shin war der Chef der Kommunikationsabteilung, so wie er es in ihrem Quartier gelernt hatte. Er wusste, dass die Vastus Antishal viele Mitglieder hatten und konnte nachvollziehen, dass so etwas schnell herausgefunden werden konnte. Dennoch beschlich ihn das Gefühl, irgendwie beobachtet zu werden. Natürlich musste das nicht unbedingt etwas Schlechtes sein, aber wirklich wohl fühlte sich Eimi damit trotzdem nicht.
„Du wolltest uns nicht gefährden?“, hakte Kioku nach, die ganz ruhig zu sein schien.
„Ihr habt in den letzten Tagen so viel erlebt, da wollte ich euch das nicht zumuten“, sprach Anon wieder in einer entspannteren, netteren Stimme und sah Kioku dabei wieder an. In seinem Blick schien etwas Besonderes zu liegen.
Plötzlich war es ganz still. Die Morgensonne kroch endlich über den Horizont und erhellte den Berg, an dem der Zug vorbeifuhr. Der Zug wurde langsamer; bald würden sie im Bahnhof ankommen.
„Was, wenn wir dir helfen?“, schlug Takeru plötzlich vor. „Ich meine, wenn es sich um einen Freund von Papa handelt, würde er uns sicher helfen, Papa zu finden, richtig?“
„Tak, Papa würde auch wollen, dass wir seinem Freund helfen, was allein als Grund schon ausreicht“, sagte Alayna, die die Suche nach ihrem Vater nicht schlecht reden wollte, aber einen besseren Grund darin sah, zu helfen.
„Ich halte das für keine gute Idee“, sagte Anon zunächst und hielt seine Hand grübelnd an sein Kinn. „Jedoch ist das die perfekte Gelegenheit herauszufinden, ob ihr das anwenden könnt, was wir geübt haben.“
Anon wandte sich zu den Jungs und Eimi erkannte die Chance, die Kampftechniken, welche sie im Park am gestrigen Tag geübt hatten, auszuprobieren.
„Nichtsdestotrotz wird es sehr gefährlich werden. Ich verstehe, wenn ihr euch dem nicht stellen mögt“, wandte er ein und blickte wieder zu Kioku und auch zu Alayna.
Die Freunde stimmten dem gemeinsam zu.
„Dann ist es abgestimmt. Jedoch müsst ihr euch an ein paar Regeln halten“, forderte Anon und zählte seine Forderungen auf. „Zunächst werdet ihr euch an jede Anweisung halten, die ich dir gebe. Als zweites möchte ich, dass du fliehst, wenn ich es dir befehle, auch wenn es scheint, als wäre ich in größter Gefahr. Dass ihr Ginta findet, ist wichtiger, als mich zu retten.“
Alayna und Takeru stimmten dem Ganzen unsicher zu. Eimi konnte sich vorstellen, was das zu bedeuten hatte und ihm gefiel dies gar nicht. Jemanden in einer gefährlichen Situation zurückzulassen, war etwas, das er sich bei seinen Freunden nur sehr schwer vorstellen konnte. Kioku war die Einzige, die ihren Kopf schüttelte.
„Wenn du diese Regeln nicht beachtest, nehme ich euch nicht mit“, forderte Anon eindrücklich und hoffte, dass Kioku dem nachgab.
„Ich werde dich nicht allein lassen können“, sagte sie und sah ihm fest entschlossen ihn nicht zurückzulassen in die Augen.
„Wenn das der Fall ist, dann müsst ihr, Tak, Alayna und Eimi, uns beide zurücklassen“, forderte Anon nach einem kurzen Seufzer nüchtern und überraschte damit Eimi, der in die ebenfalls überraschten Gesichter von Takeru und Alayna blickte. Wieso änderte er seine Meinung so schnell? Was hatte das zu bedeuten?
Als Alayna dem zustimmte, konnte es Eimi erst nicht glauben. Takeru sah ebenfalls fassungslos in die Runde. Aber wenn sie mitkommen wollten, hatten sie keine andere Wahl, als zuzustimmen. Alayna schien dies akzeptiert zu haben, also tat Eimi es ihr gleich.
„Wir wissen nicht genau, wie die Situation aussieht. Aber wenn wir zusammenhalten, schaffen wir das“, sprach Anon und versuchte dabei motivierend zu klingen.
„Wir können auf keinen Fall zulassen, dass noch jemand entführt wird“, sagte Eimi ruhig und realisierte, dass er, wenn Anon auf seinen Vorschlag, alleine weiterzureisen, eingegangen wäre, das Leben einer weiteren entführten Person auf dem Spiel stand. Ob Eimi das wirklich verkraftet hätte? Er war froh, nun helfen zu können. Der Zug rollte endlich in den Bahnhof ein.

Am Bahnhof angelangt, wurde die Gruppe schon von Mitgliedern der Vastus Antishal begrüßt. Eimi erkannte das an den an ihren Jacken befestigten Pins, die mit dem Symbol der Vastus Antishal versehen waren: Ein V und ein A, die mit drei Strichen verbunden waren. Die vier Männer führten sie dann durch das kleine backsteinerne Bahnhofsgebäude auf den überschaubaren  Vorplatz. Große, hellgraue Pflastersteine waren kreisförmig um einen kleinen Brunnen gelegt worden und ergaben ein schönes Muster. Es war früh am Morgen; deswegen war abgesehen von den Leuten, die gerade ebenfalls mit dem Zug in diesem Städtchen angekommen waren und sich nun in alle Himmelsrichtungen zerstreuten, niemand unterwegs. Aus diesem Grund fiel Eimi gleich auf, dass etwas links vom Brunnen, vor einem kleinen blauen Gebäude, dessen Eingang nicht zu sehen war, eine Frau in einem langen gerafften Rock stand. Ihre roten, voluminösen Haare waren lang und verdeckten teilweise ihr rosafarbenes Oberteil. Darüber trug sie aus einem cremefarbenen, fast sogar weißen Leder eine Art Weste. Ihr Pony verdeckte ihre Stirn und sie sah streng in Anons Richtung. Es war nicht nur ihre kraftvolle Aura, die sie umgab und als wichtiges Mitglied der Vastus Antishal verriet, sondern auch eine Art Handschuh, der aus Metall zu bestehen schien und ihr bis zum Ellbogen reichte. Als die Freunde näherkamen und Anon sie begrüßte, erkannte Eimi, dass dieser Handschuh aus mehreren Metallplatten und Metallteilen, die mit Schläuchen, Kabeln und Stangen verbunden waren, bestand. Eimi kannte sich mit technischen Details wenig aus, weswegen er die restlichen Einzelteile dieses Handschuhs nicht bestimmen konnte, sie aber dennoch sehr interessant fand. Er erkannte, dass Kioku, Alayna und Takeru die Frau genauso neugierig musterten, wie er.
„Darf ich euch vorstellen“, begann Anon zu sprechen, „das ist Vasanta Thep. Sie ist ein wichtiges Mitglied der Vastus Antishal und hat mich angefragt, ob ich bei dieser Unternehmung helfe. Schön, dich wiederzusehen.“
„Hallo Anon“, begrüßte sie ihn ohne ein Lächeln. „Das sind sie also?“
Vasanta drehte ihren Kopf zu den Freunden und erwiderte die ausbleibende Begrüßung ebenfalls mit einer Musterung.
„Ja, das sind Gintas Kinder und deren Freunde: Eimi und Kioku“, stellte Anon die Gruppe vor.
„Wir werden uns um sie kümmern“, bestimmte Vasanta knapp und nickte einem der Männer zu, der drauf und dran war, die Freunde woanders hinzuführen.
„Was das angeht“, unterbrach Anon und kratzte sich am Kopf, „muss ich leider etwas gestehen. Können wir kurz unter vier Augen reden?“
Beide gingen auf die gegenüberliegende Seite des Platzes, sodass sie keiner hören konnte und Eimi beobachtete, wie sie in Ruhe miteinander sprachen.
Takeru wandte sich zu Eimi. „Sie wirkt genauso kühl wie Arec“, urteilte er und sah sich die Männer, die mit Vasanta unterwegs waren, genau an.
„Die Mitglieder der Vastus Antishal sind irgendwie alle besonders“, stellte Eimi fest und wusste nicht, ob er der gleichen Meinung war wie Takeru.
„Wie sind die anderen Mitglieder der Vastus Antishal so?“, fragte Alayna neugierig, die bisher noch keins der Mitglieder richtig kennengelernt hatte.
„Schwer zu beurteilen“, meinte Kioku, die sich Vasanta noch einmal genau ansah. „Stark. Mehr konnte ich während des Kampfes nicht herausfinden.“
„Shin und Lliam waren ganz nette Männer. Arec jedoch, ihr Anführer, war sehr streng und kühl. Vasanta wirkt auch etwas kühl“, erklärte Eimi.
„Ich bin auch gespannt, was das für ein Freund von Papa ist“, sagte Alayna. „Papa hat ganz schön viele Freunde, die wir nicht kennen.“
„Und was das für ein Handschuh ist“, wunderte sich Kioku. „Ist sicherlich ihre Waffe.“
„Es ist eine Prothese“, antwortete Anon, der sich unbemerkt wieder zur Gruppe geschlichen hatte. „Ein Ersatz für ihren fehlenden Arm. Sie ist Mechanikerin, müsst ihr wissen.“
Eimi beobachtete, wie Vasanta gerade dabei war, mit den Männern zu gehen. Sie schien nicht mehr mit der Gruppe sprechen zu wollen. Hinter einer Straßenecke verschwand sie.
„Sie hat keinen Arm mehr?“, stellte Takeru erstaunt fest und auch Alayna sah verwundert aus.
„Eines ihrer Beine fehlt ebenfalls“, erklärte Anon. „Sie hat beides in einem Kampf verloren. Aber ihr müsst euch da keine Sorgen machen, das ist schon ziemlich lange her und sie kommt gut klar.“
„Was machen wir jetzt?“, wollte Eimi wissen. „Vasanta wollte doch gerade mit uns wohin gehen?“
„Das war ein kleines Missverständnis“, gab Anon zu und winkte ein paar seiner Gedanken ab, die er wohl dazu hatte. „Ich habe ihr klar gemacht, dass es wichtig ist, dass ihr bei mir bleibt, wie wir doch besprochen hatten. Vasanta und ihre Männer werden die Übergabe vorbereiten, die gefordert wird. Der Entführer hat eine Unsumme an Geld verlangt. Bis die geplante Übergabe stattfindet, werden wir uns etwas in der Stadt umsehen. Das ist der strategische Vorteil an der ganzen Sache, denn der Entführer kennt uns nicht. Wir werden an Stellen suchen, an denen man gut jemanden verstecken kann. Die Stadt ist nicht so groß, also werden wir jedes Haus abklappern können. Ihr haltet euch an das, was wir abgesprochen haben?“
Die Freunde bestätigten Anon dies wieder mit einem Nicken.
Anon führte die Freunde flott durch die Straßen der ruhigen Stadt. Es war in den frühen Morgenstunden kaum jemand unterwegs. Die Kälte der Nacht kroch nur sehr langsam beiseite und die ersten Sonnenstrahlen, die über den Wipfeln der Berge schienen, erreichten noch längst nicht die Stadt. Es war sehr vorstädtisch in diesem Ort. Es gab viele Einfamilienhäusern mit kleinen Gärten, hier war eine feine Bäckerei, dort ein war ein Einkaufsladen. Etwas weiter im Zentrum der Stadt war ein Kindergarten, der noch nicht geöffnet hatte. Es schien alles so normal und irgendwo in den neu gestrichenen Häusern mit den kurz gemähten Rasen und den hübschen Bäumen und Terrassen versteckte sich jemand, der Menschen entführte und aus irgendeinem Grund sich damit bereichern wollte. Wenn so etwas in Orten wie diesem passierte, musste Eimi davon ausgehen, dass in seiner Heimatstadt so etwas auch geschah. War er bisher zu jung gewesen, sich dafür zu interessieren? Oder geschah so etwas so oft, dass es schon gar nichts Besonderes mehr war? Seitdem er sein Zuhause verlassen hatte, hatte sich sein Blick auf die Welt immens geändert. Die Welt war nicht so friedlich, wie er es immer angenommen hatte. Es brodelte und gab Gefahr an jeder Ecke, Menschen passierten schlimme Dinge. Eimi war jetzt in der Lage, etwas daran zu ändern. Sehr lange schon wollte er jemandem helfen und dachte dabei an die Frau aus dem Zug, bei der jede Hilfe zu spät gekommen war. Wahrscheinlich, so nahm er an, würde ihn diese Frau lange begleiten. Für einen Moment, dachte er, sie stünde neben ihm, als er sich selber in der Spiegelung eines Fensters sah. Er drehte sich zu ihr um, doch natürlich stand neben ihm niemand.
Die Suche nach dem Entführer brachte die Freunde durch die ganze Stadt. Anon wiederholte immer wieder, dass sie Ausschau nach Orten halten sollten, bei denen es gut wäre, jemanden zu verstecken oder die zu offensichtlich waren, sodass keiner daran denken würde. Takeru sah in Fenster von Wohngebäuden und erhielt verwunderte und teilweise aufgeregte Blicke zurück von Menschen, die unter anderem gerade beim Frühstück saßen oder sich für die Arbeit anzogen. Alayna sah oft durch die Schaufenster von Läden um herauszufinden, ob irgendwo ein brennendes Licht auf Menschen deutete, während Kioku sich die Gassen und Hintergassen der Straßen und Gebäude vornahm. Anon blieb immer sehr nah bei Kioku und überprüfte etliche Gartenhütten und Häuser, die verlassen aussahen. Die Suche nahm viel Zeit in Anspruch.

Während seine Freunde weiter alles absuchten, hielt Eimi für einen kurzen Moment inne und dachte stark darüber nach, wie er sich verstecken könnte, wenn er jemanden für Geld erpressen würde. Dabei fielen ihm Krau und Ensei ein, seine Freunde, die in Hakata im Heim auf ihn warteten und sich momentan sicherlich fragten, was ihm so passierte. Er hatte früher oft mit beiden und den Kindern des Heims Verstecken gespielt. Es gab etliche gute Verstecke, in denen man einsam und allein in einer Ecke hinter etwas kauerte und nicht sichtbar war, das war ihm klar. Aber die besten Verstecke waren immer die, wo viele Personen waren, weil es dort so schien, als wären es schlechte Verstecke, deswegen suchte man dort erst gar nicht. Deswegen nahm er an, dass der Entführer vielleicht dort sein könnte, wo viele Menschen waren, weil man dort nicht suchte. Gedanklich ging er also alle öffentlichen Orte ab, an denen sie während der Suche schon vorbeigekommen waren. Doch Bücherei, Kindergarten, der Markt und weitere öffentliche Plätze wurden schon längst abgesucht. Sie fanden dort keine Hinweise auf ein gutes Versteck. Zuletzt blieb ihm der Bahnhof, von dem sie gestartet waren. In dieser kleinen Stadt, in der es sonst kaum etwas gab, war das der Punkt, an dem die meisten Menschen waren. Außerdem war er davon überzeugt, dass der Entführer sicherlich auch schnell entkommen wollte, falls etwas schief ging. Also erzählte er Anon von seiner Idee und weil sie dort noch nicht gesucht hatten, gingen alle zurück zum Bahnhof.
Dort angekommen, nahmen sie jede Straße, jede Gasse und jedes Gebäude genau unter die Lupe. Als kein Gebäude irgendwelche unscheinbaren Eingänge hatte und auf dem kleinen Bahnhofsgelände auch kein verlassenes Haus zu sein schien, trat Eimi in das Bahnhofsgebäude, in dem mittlerweile schon viel mehr los war, als noch vor einer Weile. Dort entdeckte er einen vergitterten Durchgang, der eine Treppe verschloss, die nach unten führte. Der Keller, das musste es sein! Als er sich den Durchgang genauer ansah, entdeckte er, dass das Vorhängeschloss geknackt war und somit der Durchgang offen war. Schnell holte er die anderen und es gelang ihnen, unbemerkt die Treppe hinab zu laufen.
Der Keller des Bahnhofsgebäudes war eng, dunkel und feucht. Anon ging voraus und versuchte vorsichtig, jede Tür zu öffnen, die er fand. Der Gang führte zweimal rechts um die Ecke. Beim zweiten Abbiegen entdeckte er, dass die Tür zu einem der Räume sperrangelweit offen war und Licht daraus schien.
„Gut gemacht, Eimi“, flüsterte er und deutete vielversprechend auf den Raum. „Ich glaube, wir haben ihn.“
Die Stille machte alle Freunde nervös, dass sah Eimi genau. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in so eine Situation kamen wie damals im Labor, war beängstigend hoch. Zu wissen, dass Anon dabei war, beruhigte ihn jedoch ungemein. Nach all den Orten, die sie in der Stadt schon abgegrast hatten, musste dies jetzt ein Volltreffer sein. Nach seiner Theorie war das ein ziemlich gutes Versteck. Keiner der anderen hätte daran gedacht, zum Bahnhof zurückzukehren.
Anon deutete den anderen, besonders still zu sein. Vorsichtig nahm er einen Schritt nach dem anderen, wartend auf ein Zeichen, um die Lage besser einschätzen zu können. Eimi stand genau hinter ihm und mittlerweile waren sie der Tür so nah, dass er auf der linken Seite im Raum zwei Männer sehen konnte, die auf Stühle gefesselt waren. Eimi hielt seinen Atem an, um nicht laut zu sein und er sah, wie Takeru ihm das nachahmte. Kioku und Alayna wirkten etwas besorgt und Eimi selbst griff schon einmal vorbereitend nach seinem Schwert. Anon presste sich an die Wand des Ganges, damit er nicht gesehen wurde und lugte vorsichtig in den Raum hinein. Er erkannte nichts und bewegte sich wieder zurück zur Wand.
„Habt ihr das Lösegeld schon?“, sprach eine ruhige, tiefe Männerstimme. „Wir hatten einen anderen Termin ausgemacht.“
Takeru sah panisch seine Freunde an. Eimi wusste ebenfalls nicht, was das zu bedeuten hatte.
„Tretet doch ein. Ich werde euch nicht verletzen. Ich will nur das Geld“, erklärte die Stimme wieder. Dann bewegte sich ein schneller, schwer identifizierbarer Schatten durch den Raum.
Eimi schluckte. Was würde jetzt passieren?


Kapitel 45 – Der, der nicht kämpft

Die Sekunde, in der Anon zögerte, um in den Raum zu gehen, empfand Takeru als extrem lange. Er hörte irgendwo am Ende des Ganges ein paar Wassertropfen, die auf eine kleine Pfütze auf dem Boden tropften. Hier unten im dunklen Kellergewölbe des Bahnhofs war es erstaunlich kalt. Als Takeru sich ein letztes Mal umsah, bevor sie den Raum betraten, erkannte er, dass die Decke aus einem einfachen Stahlgitter bestand, das die darüberliegenden Rohre und Kabel ordentlich festhielt. Hinter ihm hielten sich auch seine Schwester und Kioku nervös dreinblickend bereit. Sie ballten beide ihre Fäuste und stellten sich in Schrittstellung, sodass sie schnell reagieren konnten. Warum zögerte Anon so lange? Takeru war überzeugt, dass die Gruppengröße ihnen doch einen klaren Vorteil bringen musste. Egal, wie stark der Entführer war, sie waren immerhin mehr Personen und könnten ihn doch mit Leichtigkeit überwältigen. Vielleicht aber bestand doch die geringe Möglichkeit, dass ihr Gegenüber stärker war als Vaidyam und seine Handlanger oder die durch Drogen verstärkten Kampfbestien, denen sie in Yofu-Shiti begegnet waren. So oder so musste Takeru gerade in dieser Situation darauf bauen, dass Anon seinen Gegner richtig einschätzen konnte. Takeru hielt sich selbst für bereit. Seine Hand fest um den Kompass umschlungen, war er der Überzeugung, dass es das Richtige war, dem Freund seines Vaters zu helfen und es sicherlich mehr Möglichkeiten eröffnete, seinen Vater besser zu finden.
Dann entdeckte er, dass unter Anons Trenchcoat ein paar Bänder zum Vorschein kamen und genau in diesem Moment stürmte Anon in den Raum. Takeru hörte, wie die Bänder durch die Luft schnellten und er sowie Eimi gingen Anon hinterher. Im Raum sah er, wie Anon fünf oder sechs seiner Bänder auf einen schmalen, großen Mann mit dunkler Haut schleuderte, der jedoch jedes Mal gekonnt auswich. Er hatte eine weiße Stoffhose an und eine weiße Weste mit Kapuze. Der Mann bewegte sich sehr schnell, aber als Takeru genau hinsah, erkannte er, dass der Mann keine Waffe bei sich trug und sich seine blauen Haare als Tattoo herausstellten. Als Anon wieder zum Angriff ausholte und seine Bänder zupeitschten, sprang der Mann über einen Stuhl, rollte sich über einen alten Holztisch und durch diese Bewegung kippte der Tisch um, sodass er vonr Anons Angriff geschützt war. Als Takeru noch die Lage für sich analysierte, gingen Kioku und Alayna schnell zu den zwei Männern, die auf Stühlen gefesselt und noch offensichtlich bewusstlos waren. Dicke Stahlketten umwickelten die Männer und waren mit einem großen Vorhängeschloss abgesperrt. Ohne einen Schlüssel konnte man sie wohl nicht befreien.
Der Raum war nicht groß und Anon musste sich anstrengen, um nicht aus Versehen mit seinen Bändern einen der Freunde zu treffen. Der Entführer schaffte es immer noch, locker den Angriffen Anons auszuweichen. Eimi wollte auch handeln, sah aber, dass einfach kein Platz war.
„Ihr müsst hier raus“, sagte er zu Alayna und Kioku, die versuchten, die zwei gefesselten Männer aufzuwecken. „Anon hat keinen Platz! Es ist später Zeit, die Männer zu befreien.“
Alayna und Kioku nickten und gingen schnell wieder zurück in den Gang, auch Eimi stellte sich relativ nah an die Tür. Dann war nur noch Takeru im Weg und als Anon dies merkte, schubste er Takeru in den Gang, damit ihm nichts passierte. Dabei verzog er eines seiner Bänder, auf das er sich nicht konzentrieren konnte, und blieb damit an einem Regal hängen, worauf es auf ihn stürzte und ihn unter schweren Kisten, Büchern und Ersatzteilen aus Metall für Züge begrub.
„Anon!“, rief Kioku und eilte zurück in den Raum, um Anon zu befreien, der nun regungslos unter dem schweren Regal lag.
Jetzt sah Eimi seine Chance, griff nach dem Schwert und stürmte zum Angriff über; Takeru ballte seine Fäuste und war überzeugt, dass sie ihren Gegner zu zweit locker erwischen mussten. Alayna eilte Kioku hinterher und beide versuchten, das schwere Regal zu heben, damit sich Anon befreien konnte.
„Anon, alles in Ordnung mit dir!?“, fragte Kioku panisch und strengte sich an, das Regal zu heben.
„Es ist zu schwer!“, stellte Alayna fest, die ihr Gesicht vor Anstrengung verzerrte. Beide versuchten aber weiterhin, das Regal zu heben.
Gleichzeitig versuchte Eimi den Entführer mit seinem Schwert zu treffen. Immer wieder holte er aus und schlug zu, war dabei jedoch so langsam, dass der Entführer locker ausweichen konnte. Takeru versuchte ihn zu treten, schaffte es aber auch kein einziges Mal, den Mann zu erwischen.
Gerade, als Takeru noch einmal ausholen wollte, um den Mann diesmal mit seiner Faust zu treffen, traf ihn etwas am Kopf; er stolperte und fiel auf den Boden. Auch Eimi hatte etwas getroffen und er taumelte rückwärts an die Wand.
„Was passiert hier!?“, rief Kioku erstaunt, während sie Alayna von dem Regal wegzerrte. Ohne, dass Anon einen Ton von sich gab, schlängelten sich die Bänder unter dem Regal hervor und peitschten wild und unkontrolliert durch die Luft. Takeru entschied sich, zunächst einmal auf dem Boden liegen zu bleiben und sah sich die Lage genau an. Kioku zerrte Alayna zurück in den Gang, was sowieso die bessere Idee war, weil in dem kleinen Raum kein Platz war. Der Entführer verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und wich den zuschlagenden Bändern gekonnt aus, indem er seinen Oberkörper leicht hin und her bewegte. Dadurch wurde er kein einziges Mal berührt. Eimi blockte die unkontrollierten Angriffe mit seinem Schwert und verhinderte somit, dass er noch öfter geschlagen wurde. Eines der Bänder peitschte dem gefesselten Männern über das Gesicht.
„Wir müssen ihnen helfen!“, forderte Eimi, der nun Angriffe von drei Bändern gleichzeitig parieren musste. Takeru verstand, krabbelte über den Boden und schubste die Stühle um, sodass die Männer auf dem Rücken landeten. Mit einem lauten Geräusch kamen die Stühle auf dem Boden auf. Takeru konnte es nicht verhindern, dass sich die Freunde ihres Vaters dabei den Kopf stießen.
„Was ist mit Anon?“, fragte Kioku in den Raum hinein, die ihre Deckung verließ, um die Lage zu checken.
„Er reagiert nicht“, stellte Alayna besorgt fest. „Es ist, als würden sich seine Bänder von ganz alleine bewegen.“
„Wie halten wir das auf?“, fragte Eimi.
„Was … was ist hier los?“, meldete sich plötzlich eine stöhnende, fremde Stimme und Takeru erkannte, dass einer der gefesselten Männer wach geworden war. Es war der blonde Mann, der seinen Kopf zur Seite drehte, um sich umzuschauen. „Mein Schädel brummt wie Hölle. Was ist passiert!?“
„Du bist ein Freund von meinem Papa, wir befreien dich gerade aus deiner Entführung“, erklärte Takeru schnell und rüttelte etwas an den Fesseln, nur um noch einmal zu kontrollieren, dass sie nicht zu öffnen waren.
„Ich … das … Wir wurden entführt!“, schreckte der Freund seines Vaters auf. „Nacho, geht es dir gut?“ Er drehte sich zu dem Mann mit schwarzen, lockigen Haaren, der neben ihm gefesselt war, um zu überprüfen, ob es ihm gut ging. „Hau ihm mal eine drüber!“
Takeru hielt erst inne und sah den blonden Mann fragend an. „Ernsthaft?“
„Ja, ernsthaft! Weck ihn auf!“, forderte der Mann und rüttelte etwas an seinen Fesseln, nur um festzustellen, dass sich nichts bewegte.
Takeru krabbelte am Boden entlang zu dem anderen Mann und zögerte noch einen Moment, bevor er ihn aufweckte.
„Mein Name ist Denji“, erklärte der blonde Mann. „Das ist mein bester Freund Nacho. Wenn er sich beschwert, nehme ich es auf meine Kappe. Und jetzt klatsch ihm eine!“
Takeru holte gerade aus, aber als er das tat, wickelte sich eines der Bänder um seine Hand und riss ihn nach hinten. Das Band ließ wieder locker, jedoch knallte Takeru an das umgekippte Regal, unter dem Anon lag. Fast im gleichen Moment riss eines der Bänder Eimi das Schwert aus der Hand, welches nun am anderen Ende des Raumes lag.
„Nacho, wach auf!“, schrie Denji, als er feststellte, dass Takeru ihn nicht wecken konnte.
Mittlerweile kam Kioku wieder in den Raum und überprüfte, ob es Takeru gut ging, der sich seinen schmerzenden Hinterkopf rieb. Dann hielt Kioku Takeru am Arm fest und führte ihn aus dem Raum, sodass sie sich zusammen mit Alayna anschauen konnten, ob er verletzt war.
„Lasst mich weiter helfen!“, forderte Takeru, der sein Gesicht vor Schmerz verzerrte, als Kioku die Wunde berührte.
„Es blutet“, erkannte sie und gab Takeru ein Taschentuch aus Stoff. „Halt das an die Wunde.“
„Eimi, kommst du klar?“, fragte Alayna, die in den Raum reinschaute. Sie erkannte, dass sich Eimi mittlerweile auf den Boden geworfen hatte und zu seinem Schwert krabbelte. Er zeigte einen Daumen nach oben.
„Wir müssen Anon irgendwie befreien, damit es aufhört“, forderte er. „Wir müssen das Regal heben.“
Alayna deutete mit ihrem Finger jedoch auf den Entführer. Takeru stand auf und stellte sich in den Türrahmen.
„Wie kommt es, dass er bisher noch nicht gekämpft hat?“, stellte er fest und wandte sich zu seinen Freunden. „Er ist bisher nur ausgewichen. Da stimmt etwas nicht.“
Als er das sagte, starrte der Entführer ihn direkt an. Der Mann hatte sehr dunkle Augen und sein Gesichtsausdruck war extrem gleichgültig.
„Warte, wie heißt du noch einmal?“, murmelte Denji vor sich hin und wurde dann lauter. „Toni! Toni war dein Name, richtig?“
Der Entführer gab nur ein „Mh“ von sich.
 „Was willst du eigentlich?!“, verlangte Takeru zu wissen und brüllte durch den Raum. Mittlerweile erreichte Eimi sein Schwert, nahm es und stellte sich wieder auf. Weiterhin parierte er die wild durch den Raum peitschenden Bänder Anons.
„Wir müssen schnell handeln“, meinte Eimi und sah seine Freunde an. „Kioku, Alayna, ihr müsst die Vastus Antishal suchen und holen! Alleine schaffen wir das nicht!“
„Was, die Vastus Antishal sind gekommen? Für mich?“, wunderte sich Denji und musste trotz der prekären Situation kurz kichern.
„Wir können euch doch nicht alleine lassen“, entgegnete Kioku, die nicht mit Eimis Plan einverstanden zu sein schien.
„Kioku“, wandte sich Alayna zu ihr, „wir haben keine Chance sie zu befreien, wir brauchen Hilfe.“
„Aber“, sagte sie, wurde dann jedoch von Takeru unterbrochen.
„Eimi und ich schaffen das, diesen Typen aufzuhalten. Holt Hilfe“, sagte er in einer ruhigen Stimme, obwohl er selbst noch keine Ahnung hatte, wie er diesen Typen aufhalten sollte.
„Na gut“, gab Kioku nach und machte sich mit Alayna sofort auf. Takeru blieb erst einmal im Türrahmen stehen.
„Toni“, fing Denji wieder an zu sprechen, während er versuchte, mit einer ruckelnden Bewegung die Fesseln etwas zu lockern. Er stellte aber schnell fest, dass es nicht möglich war. „Was verlangst du? Ich kann dir helfen, das zu bekommen, was du willst!“
Eimi kniete sich zu Denji und Nacho und beschützte beide vor den Angriffen von Anons Bändern. Währenddessen versuchte er mit einer Hand, Nacho wachzurütteln. Allmählich bewegte er seine Augen, blinzelte und wachte auf.
„Denji, Denji, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er in einer schwachen Stimme.
„Alles in Ordnung bei mir, Nacho, mach dir keine Sorgen“, erklärte Denji und versuchte seinen Kopf wieder zu Toni zu drehen, was in seiner unbequemen Position gar nicht so einfach war.
Als Nacho feststellte, dass er gefesselt an einem Stuhl auf dem Boden lag, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Hat dieser Mistkerl uns wirklich entführt?! Wie hat er das angestellt?!“
„Toni, ich kann dir alles geben, was du willst! Was möchtest du? Geld?“
Takeru beobachtete Toni, wie er einen Schritt aus dem Schatten in der Ecke des Raumes machte und etwas mehr in das Licht ging, das eine kleine Lampe auf den Boden warf. Sein Gesicht sah nicht mehr so gleichgültig aus wie noch vor kurzem. Sein Ausdruck war plötzlich traurig. Takeru wunderte sich, warum dieser Mann traurig sein sollte, er war schließlich bisher derjenige gewesen, der diese Situation am besten unter Kontrolle hatte. Seine großen, dunklen Augen sahen verächtlich auf Denji herab, seine Hände immer noch hinter seinem Rücken verschränkt. Jedes Mal, wenn ein Band auf ihn zuschnellte, wich er mit der minimalsten Bewegung aus, die man zum Ausweichen brauchte. Die Aura, die diesen Mann umgab, machte ihn unfassbar geheimnisvoll und mysteriös.
„Einen Neustart“, sagte Toni knapp. „Einen Neustart für mein Volk.“
„Was meinst du mit Neustart? Toni, ich werde dir helfen, dass du das bekommst. Mach mich frei und du kriegst sofort Unterstützung von mir. Ich habe Geld, ich habe Beziehungen. Ich werde dir helfen.“
„Du bist viel wert, deswegen werde ich dich eintauschen“, erklärte Toni mit ruhiger Stimme. „Holt ruhig die Vastus Antishal. Holt ruhig die Zeitungen und Zeugen. Holt die Männer und Frauen, die alle teilnehmen an der Ausbeutung dieser Welt. Seht alle zu, wie leicht es ist, das Leben eines Menschen gegen wertloses Geld einzutauschen.“
Für Takeru sprach Toni in Rätseln. Wollte er nun Rache? Wollte er sein Volk retten oder Geld? Er konnte sich momentan noch keinen Reim darauf machen, was die Worte Tonis zu bedeuten hatten. Denji versuchte wieder durch kleine Bewegungen die Fesseln zu lockern, doch es half einfach nichts. Diesmal machte Nacho mit und konnte einen Arm befreien. Takeru erschreckte, als er sah, dass Nachos Arm etwa bei der Hälfte des Oberarms aufhörte. Er hatte keinen Arm. Es schien zunächst, dass es ihm nicht half, sich mit diesem Armstumpf befreit zu haben, jedoch hatte er nun etwas mehr Platz in den Fesseln und es gelang ihm sicher gleich, sich richtig zu befreien.
„Hilf mir“, befahl er kurz und Eimi wusste, was zu tun war. Er legte sein Schwert beiseite, um Nacho aus den Fesseln zu ziehen. Das machte es nun auch für Denji möglich, sich zu befreien.
Toni schien das gar nicht zu gefallen, dass sich seine wertvollen Geiseln befreiten, jedoch griff er nicht an.
„Ich weiß wieder, wie er uns überwältigen konnte“, fiel es Nacho ein, der sich mit seinem vorhandenen Arm die Schulter rieb, die ihm anscheinend schmerzte. „Ich stieß mit dem Kopf gegen etwas und fiel zu Boden.“
Denji, der nun auch aufstand, untersuchte erst Nacho nach Verletzungen, erkannte jedoch, dass beide unversehrt waren.
„Ihr seid frei“, erkannte Eimi und betrachtete Anon. „Lasst uns Anon befreien und abhauen!“
Er wandte sich zu Takeru und verlangte Hilfe; der hielt jedoch inne, als Denji etwas sagte.
„Nein“, sagte Denji und deutete Nacho, Eimi zu helfen, das Regal zu heben, unter dem sich Anon immer noch regungslos befand. „Wir klären das.“
Takeru ging sofort zu Eimi. Nacho und er hoben das Regal, während Takeru darunter kroch und eines der Bänder, die sich nicht bewegten, festhielt und daran zog, um Anon zu befreien. Mit seiner vollen Kraftanstrengung schaffte es Takeru, diesen erwachsenen Mann herauszuziehen. Er stellte erfreut fest, dass das Training doch etwas gebracht hatte. Schnell ließen Nacho und Eimi das Regal wieder fallen und gemeinsam trugen sie Anon in den Gang hinaus. Die peitschenden Bänder hörten allmählich auf, sich zu bewegen. Eimi überprüfte, ob Anon verletzt war und versuchte, ihn durch einige Klatscher ins Gesicht zu wecken. Takeru ließ sich schnaufend nieder und lehnte sich an die Wand. Er brauchte eine kurze Pause, um seine Kraft wieder zu sammeln.
Denji rieb sich seine Handgelenke und sprach weiter, während Anon endlich wieder aufwachte. „Ich werde mich hier nicht wegbewegen und ich werde nicht kämpfen, bis ich erfahren habe, was du wirklich willst“, erklärte sich Denji und streckte seine Arme aus, als würde er sich wieder fesseln lassen. „Mein Name ist Denji Atsui aus dem Hause Atsui. Es ist wahr, dass ich niemals großen Schmerz oder große Probleme erfahren habe und ich nun von einem sehr privilegierten Standpunkt heraus spreche. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich die andere Seite nicht kenne und dass ich mich nicht auch für diese Seite einsetze. Ich spüre, wenn es anderen nicht gut geht und ich helfe.“ Als er das sagte, wandte sich Denji kurz zu Nacho und erhielt von seinem Freund ein bestätigendes Nicken. „Also sag mir, wer bist du?“, verlangte Denji zu wissen und starrte Toni direkt in die Augen.
Von der Position, in der Takeru saß, konnte er Toni direkt betrachten. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn, denn an dieser Person war etwas so wesentlich anders als bei allen anderen Leuten, die er bisher getroffen hatte. Es war nicht nur der Fakt, dass die einzigen Bewegungen, die Toni ausführte, dafür waren, etwas auszuweichen. Er hatte seine Hände bisher nicht verwendet und zeigte auch kein einziges Anzeichen dafür, angreifen zu wollen. Diese merkwürdige Mischung daraus, dass er nichts tat und den Dingen, die er forderte, verstörte Takeru sehr.
„Mein Name ist Toni Pungrip“, fing Toni an, sich zu erklären. Seine Stimme war dabei sehr ruhig und friedlich. Er setzte sich auf den Boden, begab sich in den Schneidersitz und legte seine Hände in seinen Schoß. „Ich stamme vom Kontinent Nordlucdia und mein Volk stirbt. Wir erleiden gerade eine riesige Hungersnot. Die Regierung unseres Landes ist korrupt und bankrott. Keiner hilft uns. Als ich nach Hilfe auf anderen Kontinenten bat, wurden meine Gesuche verwehrt oder ignoriert. Die ganze Welt ist durchdrängt von krankem Egoismus und Hunger nach Macht und Geld. Doch echten Hunger ignoriert man, solang er nicht der eigene ist. Ich will mein Volk vor dem Aussterben retten. Ich will Aufmerksamkeit. Ich will das Leben.“
Denji setzte sich nun auch und begab sich in die gleiche Position wie sein Gegenüber. Auch Anon richtete sich auf, rieb sich seine Schultern und seinen Kopf und setzte sich. Er sagte nichts und betrachtete nur die Situation. Es kehrte eine merkwürdige Ruhe ein. Takeru konnte immer noch das tropfende Wasser irgendwo in einem Gang hören und von draußen hörte man mit hetzenden Schritten Leute durch den Bahnhof gehen. Immer wieder gerieten die Freunde in gefährliche Situationen und jedes Mal schien es die Welt dort draußen nicht zu kümmern, was eigentlich geschah. War genau das Tonis Problem? Sein Volk starb, aber niemand schien es auf der Welt zu kümmern? Zugegebenermaßen musste er sich eingestehen, dass er, bevor er dieses Abenteuer begonnen hatte, ebenfalls nicht gewusst hatte, dass Nordlucdia in so einer Notsituation zu sein schien.
„Toni, ich kann dir mehr Unterstützung anbieten, als du bekommst, wenn du mich gegen etwas eintauschst“, fuhr Denji fort, während sich Nacho hinter ihn stellte. „Ich habe sehr gute Beziehungen zur Senatorin des Landes. Ich kann das Parlament dazu bringen, ein Abkommen zu verfassen, dass Nordlucdia Hilfe zuspricht.“
Toni hörte sich in Ruhe an, was Denji zu sagen hatte. Er bewegte sich kaum und hörte nicht auf, sein Gegenüber direkt anzustarren. „Woher weiß ich, dass das nicht wieder eines der leeren Versprechen ist, die mir schon so oft gegeben wurden?“, hakte Toni nach einer kurzen Überlegzeit nach.
„Fakt ist, dass du es niemals erfahren wirst“, sprach Denji und machte kurz eine dramatische Pause, „außer du kommst mit mir und überzeugst dich selbst. Wir sind auf dem Weg, die Senatorin zu treffen. Du kannst direkt mit ihr sprechen.“
„Denji“, wollte Nacho ihn unterbrechen, wurde von Denji jedoch mit einer gehobenen Hand zurückgewiesen.
„Komm mit mir. Von mir aus bleibe ich gerne deine Geisel. Überzeuge dich selber von meinen Worten. Keine Tricks.“
Takeru war ganz verunsichert. Er ignorierte Anon, der sich neben ihm aufrichtete, seinen Trenchcoat zurecht zog und sich nach den Mädchen umsah. Takeru starrte direkt in Tonis Gesicht. Es war ganz leicht, ihm das Konzept des bösen Mannes auf die Stirn zu kleben, jedoch zu realisieren, dass dieser Kerl nachvollziehbare Beweggründe hatte, ließ ihn nicht mehr so böse wirken. Aber war es richtig, dass Denji sich weiterhin als Geisel anbot? Was war sein Plan?
„Denji, lasst uns gehen. Ihr seid frei. Wir müssen mit diesem Kerl nichts mehr zu tun haben“, forderte plötzlich Eimi, der sich in die Mitte des Raumes stellte. „Ich halte es für keine gute Idee, was du vorhast. Du weißt nicht einmal, ob seine Geschichte stimmt.“
Nacho drehte sich zu Eimi um und zog eine Augenbraue fragend nach oben. Denji sprach zunächst nicht, stand auf und ballte eine Faust. Als auch er sich zu Eimi umdrehte, sah Takeru einen unfassbar ernsten Ausdruck auf Eimis Gesicht. So wie er Eimi bisher kennengelernt hatte, war Takeru davon überzeugt, dass er alle nur beschützen wollte. Obwohl von Toni gerade keine Gefahr auszugehen schien, sah er, wie Eimi sein Schwert griffbereit hielt und jederzeit bereit war, sich verteidigen zu müssen. Bemerkte oder spürte Eimi etwas, das Takeru gerade nicht wahrnahm? Toni beobachtete das Gespräch in aller Ruhe.
„Dann, Jungchen“, meldete sich Denji zu Wort, „wird es Zeit, dass du deinen kleinen Horizont einmal erweiterst. Hier ist jemand, der Hilfe braucht, also biete ich ihm meine Hilfe an. Hast du daran etwas auszusetzen? Wenn er lügt, dann werde ich mich schon zu wehren wissen. Außerdem sieht jeder, der sich auch nur etwas empathisch mit anderen auseinandersetzt, in seinen Augen, dass er nicht lügt.“
Eimi war sprachlos und wusste nicht, wie er auf das reagieren sollte, was Denji gerade gesagt hatte. In diesem kurzen Augenblick, in dem niemand etwas sprach, stand Toni auf.
„Ich nehme das Angebot an“, bestätigte er knapp und wandte sich zu Eimi und blickte danach Takeru an. „Du bist der Junge mit dem Schwert. Dann musst du der Junge mit dem Buch sein.“
Takeru schnürte sich auf einmal die Kehle zu. Woher wusste er von dem Buch? Eimi und er tauschten panische Blicke aus, doch bevor sie etwas sagen oder fragen konnten, hörten sie schnelle Schritte und eine Sekunde später stürmte Vasanta in den Gang – einige Mitglieder Vastus Antishal und Schutztruppler im Schlepptau. Schnell war der Gang im Keller voll von Leuten.
„Anon!“, stellte sie erstaunt fest, als er gegenüber der offenen Tür an der Wand gelehnt war. „Dir geht es gut!“
Anon nickte zur Bestätigung. Dann ignorierte Vasanta Takeru und ging in den Raum. Als sie die Männer dort stehen sah, hielt sie einen Moment inne, um sich ihre Worte zurechtzulegen.
„Denji, Nacho, euch scheint es gut zu gehen“, stellte sie fest und Takeru bemerkte, dass sie sich wohl kannten. „Geht beiseite. Die Schutztruppe ist ebenfalls hier und wird dich wegen Entführung festnehmen.“
Denji stellte sich ihr in den Weg und rieb seine Schläfen. Nacho schien die Situation schon längst für abgeschlossen zu halten und verließ den Raum. Kurz darauf drängten sich Alayna und Kioku an den Schutztrupplern vorbei, um nach ihren Freunden zu sehen.
„Tak! Geht es dir gut? Was ist passiert?“, wollte Alayna wissen und beugte sich zu ihrem Bruder herunter. Takeru erklärte ihr kurz, was geschehen war.
Kioku hingegen strahlte freudig, als sie sah, dass es Anon gut ging und setzte zu einer Umarmung an, merkte aber schnell, was sie da tat, wandte sich nervös ab und beugte sich ebenfalls zu Takeru herunter, um zu sehen, wie es ihm ging. Takeru sah, dass sie etwas errötet war, konnte sich jedoch nicht darauf konzentrieren.
„Er weiß etwas über das Buch und das Schwert“, flüsterte Takeru seinen Freunden zu. Die Mädchen wussten darauf keine Antwort.
„Vasanta, das kann ich nicht zulassen“, entgegnete Denji.
Vasanta sah verdutzt drein. Sie schien zunächst so, als hätte sie es falsch verstanden, deswegen fragte sie noch einmal genau nach, ob sie Denji richtig verstanden hatte und dieser bestätigte seine Aussage noch einmal.
„Lass es mich erklären. Dieser Mann braucht Hilfe. Es sieht zwar nicht so aus“, an dieser Stelle machte er eine kurze Pause und sah sich im verwüsteten Raum um, „aber eigentlich hat dieser Mann keine Gewalt ausgeübt. Fakt ist, dass er tatsächlich nichts getan hat.“
„Gefesselt hatte er euch trotzdem“, wandte Anon ein und trat in den Raum. Eimi bewegte sich zu seinen Freunden, um ebenfalls nachzusehen, wie es Takeru ging. „Was ist hier eigentlich passiert? Ich war kurz etwas … ausgeknockt.“
„Er hat euch trotzdem entführt und festgehalten“, erwiderte Vasanta an Denji gewandt. „Er muss wenigstens angezeigt werden.“
„Das werde ich nicht“, sprach Denji und stellte sich verteidigend vor Toni, der sich wie immer kaum bewegte und die Situation ruhig betrachtete. „Ich werde ihn zur Senatorin bringen und ein Abkommen aushandeln, das ihm hilft.“
„Ich kann dir nicht folgen, Denji“, verstand die Rothaarige von den Vastus Antishal nicht.
„Lass uns das draußen klären, Süße“, schlug Denji flirtend vor und wirkte auf einmal wieder entspannter. Vasanta hingegen reagierte gar nicht so entspannt auf diesen Spruch, ging mit Denji jedoch ohne zu zögern mit.
Nacho schnippte mit dem Finger und deutete den Schutztrupplern zu gehen. Nun setzten sich die Leute, die sich alle in dem engen Gang des Kellers aufhielten, in Bewegung. Die Mitglieder der Vastus Antishal und die Schutztruppler machten den Anfang. Anon begleitete Vasanta hinaus und Denji führte Toni und Nacho nach oben. Takeru deutete seinen Freunden noch einen kurzen Moment zu warten. Als sich niemand mehr im Keller befand und die drei ihn neugierig anstarrten, sprach er.
„Er hat das Buch erwähnt. Außerdem weiß er etwas über dein Schwert, Eimi“, sagte er knapp, um das Thema noch einmal aufzugreifen.
„Das habe ich auch mitbekommen. Ob er weiß, dass das Schwert eigentlich Ea gehört?“, wunderte sich Eimi und betrachtete das Schwert in seinen Händen. „Ich hatte bei diesem Mann schon die ganze Zeit über ein merkwürdiges Gefühl und konnte es mir nicht erklären. Es ist so komisch, dass sich Denji so auf ihn einlässt.“
„Denkt er, dass ich das Tagebuch noch bei mir habe?“, wunderte sich Takeru, der daran denken musste, dass Anon seine Leute nach dem Buch suchen ließ. „Mir ist auch nicht klar, warum er das erwähnen musste.“
„Was ist, wenn er etwas mit Want Sanntach zu tun hat, der auch für den Angriff auf Yofu-Shiti verantwortlich ist?“, warf Alayna ein, die sich auch keinen Reim darauf machen konnte, dass eine weitere Person von dem Tagebuch wusste.
„Das Vorgehen dieser zwei Männer scheint mir aber zu unterschiedlich, als dass sie etwas miteinander zu tun haben könnten. Want war ziemlich brutal und hat Angriffe auf mehrere Städte geleitet. Toni scheint mir genau das Gegenteil davon zu sein. Ihr habt gesehen, dass er nicht gekämpft hat“, schlussfolgerte Eimi. „Trotzdem wäre es fatal, wenn er tatsächlich etwas mit Want und Vaidyam zu tun hat, aber das vor uns geheim hält.“
„Jetzt, wo Denji vorhat, Sayoko zu besuchen, können wir auf jeden Fall nicht darauf hoffen, dass er uns bei der Suche nach Papa hilft“, seufzte Takeru und stand auf. Er fasste sich wieder an die Stelle seines Hinterkopfes, an der er sich leicht verletzt hatte und stellte fest, dass er nicht mehr blutete. Die blutige Kruste verklebte etwas seine Haare und es fühlte sich nicht angenehm an, danach zu tasten.
„Können wir bitte darüber sprechen, was mit Anon passiert ist?“, wechselte Kioku das Thema und sah ziemlich besorgt auf das Band, das um ihr Handgelenk gewickelt war. „Warum war er bewusstlos, aber seine Bänder haben sich trotzdem bewegt?“
„Denji hat mir alles erklärt“, hörten die Freunde plötzlich die Stimme von Anon, der die Treppe nach unten kam, um wahrscheinlich nachzusehen, wo sie geblieben waren. „Ich kann euch alles über mein Band erzählen.“
Er kam näher und stellte sich vor die Freunde. Dann nahm er Kiokus Hand, an deren Gelenk ihr Band herumgewickelt war und schaute es für einen Moment an. Takeru beobachtete wieder, dass sie leicht errötete. „Aber zunächst werde ich euch etwas anderes erklären müssen.“
Anon ließ Kioku wieder los und kratzte sich unter seinem Stirnband. Auf einmal wirkte Anon wieder sehr entspannt. Takeru befürchtete, dass ihm das, was er gleich zu sagen hatte, nicht gefallen würde. Er stellte sich innerlich schon darauf ein, dass ihm ein weiterer Stolperstein in den Weg auf der Suche nach seinem Vater gelegt wurde.
„Dieser Vorfall heute war etwas Besonderes. Ihr habt nicht nur Vasanta von den Vastus Antishal, sondern auch Denji kennengelernt, der ein langjähriger Freund eures Vaters ist. Denji ist auf dem Weg, mit Toni zusammen die Senatorin Sayoko Fusai zu treffen, die ihr auch schon kennengelernt habt. Wie es scheint, haben sie alle das gleiche Ziel: Jediro-Khale, das Dorf in dem wir den Hinweisen über euren Vater nachgehen wollen.“
„Was?!“, wunderte sich Takeru, „heißt das etwa …“
„Ja, das heißt, dass sie mit uns reisen werden“, erklärte Anon weiter. „Wie sie mir erklärt haben, waren Denji und Nacho sowieso auf dem Weg dorthin, um sich dort mit Vasanta zu treffen. Nur haben sie es bisher noch nicht dorthin geschafft, weil … naja, die Entführung dazwischenkam. Es ist echt ein Zufall, dass die Senatorin dort schon wartet.“
„Heißt das, wir werden mit ihnen durch die Wüste reisen?“, hakte Alayna nach.
„Ja, die Karawane, die uns dort hinführt, macht sich gerade schon bereit; sie warten schon auf uns. Wir sollten uns also beeilen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Anon und erwartete, dass man ihm folgte. Alayna und Kioku gingen zuerst. Eimi blieb noch einen kurzen Moment stehen.
„Mir gefällt an der Sache etwas nicht“, murmelte Eimi und legte dabei eine Hand auf Takerus Schulter. „Ich habe im Gefühl, dass irgendwas Schlimmes passieren wird.“
„Warum wissen so viele Leute über das Buch Bescheid? Warum machen die Freunde meines Vaters, was sie wollen?“, fragte Takeru sehr ernst. „Wir müssen wachsam sein und aufpassen.“
„Wenigstens sind wir nicht alleine. Wenn wir noch mehr Freunde deines Vaters kennenlernen werden, die Vastus Antishal uns begleiten und Anon dabei ist, werden wir sicher keine Sorgen haben, müssen, oder?“
„Anon schien uns heute zwar einen Schwachpunkt gezeigt zu haben, aber das wird sicherlich nicht noch einmal passieren, richtig?“, hoffte Takeru.
„Hoffen wir mal“, sagte Eimi knapp.
„Wenn wir Sayoko treffen, bedeutet das auch, dass wir Tsuru und Pecos wiedersehen?“, fragte Takeru nach.
„Wer weiß.“
„Und wer weiß, ob dieser Toni dabei bleibt, nicht zu kämpfen.“
Jetzt gingen auch Eimi und Takeru los, nahmen die Treppe nach oben, gingen durch das Bahnhofsgebäude und schritten hinaus auf den Platz des Bahnhofs. Die Sonne, welche nun schon über den Gipfeln der Berge schwebte, erhellte die farbigen Gebäude der Stadt. Es waren viele Leute unterwegs, die sich jedoch nicht für die große Gruppe an Schutztrupplern interessierten, die um Vasanta herumstanden und irgendwas besprachen. Anon, der gerade noch mit Kioku und Alayna gesprochen hatte, winkte die Jungs zu sich heran und erklärte ihnen, dass die Reise bald weitergehen würde. Zur Sicherheit Denjis und Tonis würden sie mit Vasanta zusammen reisen, sodass jeder sicherstellen konnte, dass nichts Gefährliches geschah.
Zunächst kehrte Ruhe ein, denn die Freunde waren ziemlich erschöpft und hatten keine Kraft, all die Fragen zu stellen, die noch in ihren Köpfen schwirrten. Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren und jeder bereit war abzureisen, machten sich alle auf den Weg zum anderen Ende der Stadt, wo eine Karawane aus verschiedenen Kutschen bereitstand, jeden durch die Wüste bis nach Jediro-Khale zu transportieren.


Kapitel 46 – Hintergrundinformationen

Der erste Gedanke, den Alayna hatte, war, ob sich der Sand eines Strandes vom Sand einer Wüste unterschied. Die Karawane stellte sich auch als ganz anders heraus, als Alayna es aus den Büchern ihrer Kindheit kannte. Die unterschiedlich großen Kutschenwagen der Karawane fuhren nicht etwa auf Rädern, wie es gleichartige Kutschen in der Stadt taten, denn sie fuhren mit einem Kettenantrieb. Die Ketten der Kutsche waren sehr breit und die Kabine, in der man saß, sah sehr spartanisch aus. Es gab links und rechts eine Bank, auf der bis zu fünf Personen sitzen konnten. Die Kabine war außerdem sehr niedrig und hatte an den Seiten getönte Scheiben, sodass man hinaussehen konnte. In die Wagen ohne Fenster packten die Mitglieder der Vastus Antishal einige Kisten hinein. Diese Wagen mussten also für den Transport von Waren und Gegenständen gedacht sein. Alayna hatte solche Gefährte bisher noch nie gesehen. Mehrere dieser Kutschen bildeten die Karawane.
Sie beobachtete ebenfalls, wie Vasanta mit einigen Frauen und Männern der Schutztruppe sprach, bevor sie zuerst mit Toni in eine der großen Kutschen stieg. Wie es schien, kamen die Schutztruppler nicht mit auf die Reise nach Jediro-Khale und vertrauten die Sicherheitsverwahrung Toni Pungrips ausschließlich Vasanta an.
Toni und Vasanta saßen sich ganz hinten im Wagen gegenüber. Denji, der sich für Toni verbürgt hatte und somit durchsetzte, dass keiner Handschellen tragen musste, als Zeichen seines guten Willens ihm gegenüber, setzte sich direkt neben Toni. Nacho setzte sich ihm gegenüber hin und neben ihm nahmen dann Kioku und Eimi Platz. Alayna selbst setzte sich zwischen Anon und ihren Bruder. Als alle eingestiegen waren und die Vorbereitungen abgeschlossen waren, fuhr die Karawane los. Anon meinte, dass es etwa bis zum Abend dauern würde, bis sie in Jediro-Khale ankommen würden. Sie hatten eine lange Fahrt vor sich.
Während der Fahrt war es sehr still. Die Gefährte machten ein merkwürdiges, unbekanntes leises Geräusch, das Alayna nicht beschreiben konnte, als diese über den erdigen Boden langsam auf sandiges Terrain wechselten. Takeru und Eimi erholten sich von den Anstrengungen des Kampfes, den sie geführt hatten und sprachen kaum. Takeru sah abwechselnd nachdenklich aus dem Fenster und wieder in die Runde.
Alayna verstand, dass Eimi es für eine nicht so gute Idee hielt, Toni mitzunehmen, wenn sie doch eigentlich Wichtigeres zu tun hatten. Jedoch, als sie den schlanken Mann so betrachtete, spürte sie keinen Funken Gefahr von ihm ausgehen. Dennoch schwirrten ihre Gedanken immer wieder darum, wer dieser Mann eigentlich war und mit wem er etwas zu tun hatte. Was hatte er zu verheimlichen?
Als sich die Karawane langsam über den sandigen Boden von der kleinen Stadt in der Schlucht entfernte und die Berge kleiner und blauer zu werden schienen, wurden Alaynas Gedanken von der Konversation zwischen Nacho und Vasanta abgelenkt.
„Hast du ihn eigentlich dabei?“, fragte Nacho auf einmal.
Darauf zog Vasanta unter der Bank einen langen Koffer hervor, nahm ihn sich auf den Schoß und öffnete ihn. Darin war etwas in einem Filztuch eingewickelt und Alayna konnte noch nicht genau erkennen, was es war.
„Es tut mir wirklich leid, dass wir das nicht in Ruhe in der Stadt erledigen konnten. Willst du ihn wirklich hier haben?“, hakte sie nach, um sicherzugehen.
Nacho warf Toni einen strengen Blick zu und meinte nur: „Ja. Die Umstände erfordern es.“
Alayna war sicher, dass es um das Etwas in dem Koffer ging und neugierig lugte sie zum Ende des Wagens, um zu erkennen, um was es sich handelte. Offenbar hatte das Gespräch auch die Aufmerksamkeit von Takeru, Eimi und Kioku geweckt, die nun alle neugierig auf Nacho und Vasanta starrten. In aller Ruhe zog sich Nacho seine Lederjacke aus und legte sie unter die Bank. Darunter trug er nur ein weißes Unterhemd, das seinen muskulösen rechten Arm zur Schau stellte; sein linker hörte ungefähr ab der Mitte des Oberarmes auf.
Vasantas eine metallene Hand packte vorsichtig eine Metallprothese aus dem Filztuch aus und mit der anderen überprüfte sie, ob alles mit Nachos Prothese in Ordnung war. Dann holte sie unter dem Tuch einen kleinen Aufsatz in Form eines Schraubendrehers heraus und schraubte ihn sich auf den Finger ihrer eigenen Metallhand. Damit lockerte sie einige Teile am Ende der Prothese und nahm danach ein ringförmiges Teil ab. Alayna konnte aus der Entfernung die genauen Einzelteile nicht erkennen, sah aber, dass einige dünne Kabel davon herunterhingen.
„Ich habe die Kontakte etwas verfeinert. Sie sollten nun leichter auf deine Stimuli anschlagen“, erklärte Vasanta und Alayna sah ein kurzes Lächeln auf ihrem sonst ernst wirkenden Gesicht. „Der Rest funktioniert, wie wir geübt haben.“
„Oh, endlich bekommst du deinen Arm!“, freute sich Denji für seinen Freund und hob seine Hände, um mit ihnen zu gestikulieren, bemerkte aber, dass er für den geringen Platz in der Kutsche zu viel gestikulierte und nahm sie dann, jedem in der Runde ein verlegenes Lächeln schenkend, wieder auf seinen Schoß.
Nacho drehte sich mit seiner linken Seite zu Vasanta und sie nahm das ringförmige Einzelteil und steckte es ihm auf den Armstumpf.
„Es wird gleich etwas weh tun, du weißt ja selbst, wie empfindlich diese Stelle ist“, warnte sie ihn vor, als sie den Ring, der an einer Stelle geöffnet war, fest an die Haut andrückte und an der offenen Stelle zusammenschraubte. Dabei zuckte er etwas zusammen, als der Ring sich um seinen Oberarm schloss. Nacho sah sich ganz genau an, wie Vasanta den Ring befestigte und danach die Kontakte, die am Ende der Kabel hingen, an die richtigen Stellen platzierte. Als sie damit fertig war, holte sie ein kleines Gerät heraus, um die Funktion der Kontakte zu überprüfen. Jedes Mal, wenn das Gerät einen Kontakt berührte, gab es einen kleinen, bestätigenden Piepston von sich.
Denji strahlte vor Freude für seinen Freund und schien es kaum erwarten zu können, dass Nacho den Arm befestigte.
„Den Rest übernimmst du selber“, sagte Vasanta und übergab die Prothese Nacho. Dieser zögerte erst, ihn sich anzustecken, wie als müsste für er diesen besonderen Moment noch etwas Raum schaffen. Als er bemerkte, wie alle im Wagen ihn beobachteten, zögerte er erst kurz und ließ einen kurzen Seufzer los. Dann steckte er sich den Arm dann an den Ring. Mit einem kurzen Klick rastete dieser ein.
„Gut, nun konzentriere dich darauf. Er braucht etwas, um dich zu erkennen und ordentlich zu reagieren. Das alles benötigt Übung“, erklärte Vasanta, als sie den Schraubendreheraufsatz von ihrem Finger nahm und alle nicht mehr benötigten Teile im Koffer verstaute, den sie dann wieder unter die Sitzbank schob.
Alayna musste sich eingestehen, dass es ziemlich spannend war, zuzusehen, ob die Prothese nun reagierte oder nicht. Das Metall der Prothese glänzte wunderschön. Die Deckplatten der Prothese, die wahrscheinlich dafür da waren, die Getriebe und Kabel darunter zu verstecken, waren in verschiedene, gleichmäßige Segmente unterteilt. Am feinsten war die Unterteilung bei den Fingern.
Nacho fixierte seinen Blick auf den Arm und konzentrierte sich stark. Dann, nachdem eine mit Spannung gefüllte Stille in dem Wagen eingekehrt war, konnten alle dabei zusehen, wie sich seine Finger bewegten.
„Es funktioniert!“, jubelte Denji, der seine Arme vor Freude hochwarf. „Das alles ist der Mechanikerin der Vastus Antishal zu verdanken!“
„Du weißt“, entgegnete Vasanta leicht genervt, „dass ich diesen Titel nicht leiden kann.“
Der Erfolg Nachos zauberte komischerweise allen ein Lächeln auf das Gesicht, obwohl ihn die Gruppe, bis auf Anon, noch nicht einmal wirklich kannte. Der Gedanke, nur mit einem Arm groß geworden zu sein und nun endlich über einen funktionierenden Ersatz zu verfügen, war etwas, über das sich jeder freuen würde.
„Also wann … ehm, wie …“, hakte Takeru neugierig nach und versuchte, dabei nicht unhöflich zu wirken. „Wie hast du deinen Arm überhaupt verloren?“
Alayna war sich ganz und gar nicht sicher, ob das eine angebrachte Frage war, deswegen sagte sie erst nichts und wartete ab, ob die Frage ihres Bruders nicht doch zu neugierig war.
 „Wir waren so dumm“, kicherte Denji zunächst nervös und wurde dann ganz still. Er wirkte traurig.
„Wir waren so jung. Ich habe dir schon längst verziehen, Freund“, sagte Nacho ruhig und wandte sich danach zu Takeru, während er weiterhin übte, seine Prothese zu bewegen. „Weißt du, als Denji und ich jung waren, haben wir so etliche Abenteuer miteinander erlebt. Eines endete damit, dass ich meinen Arm verlor. Aber Denji hier hat mich gerettet und ins Krankenhaus gebracht. Wer weiß, was sonst passiert wäre.“
„Wer weiß, ob du ihn nicht doch noch hättest, wenn du mit mir nicht losgezogen wärst“, wandte Denji ein und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Er hatte anscheinend immer noch ein schlechtes Gewissen über das Geschehene.
„Wie fühlt sich das an?“, fragte Takeru erneut. Ihr Bruder war wohl ziemlich neugierig darauf zu wissen, wie das so war, nur einen Arm zu haben.
„Nun ja“, fing Nacho an und musste etwas wegen Takerus kindlicher Frage schmunzeln. „Fühlen tu ich nichts. Es ist ja kein Arm mehr dran. Aber man gewöhnt sich schnell daran, alles nur mit einem Arm zu machen, wenn du das meintest.“
Takeru nickte.
„Jetzt wirst du dich wieder daran gewöhnen müssen, Dinge mit zwei Armen zu machen“, fügte Vasanta hinzu.
„Wie war das bei dir, Vasanta?“, fragte Takeru nun die Rothaarige der Vastus Antishal.
Zunächst schien sie gar nicht so glücklich darüber zu sein, das gefragt zu werden.
„Ich weiß nicht, ob das nun zu viel war“, mischte sich nun Anon ein, der wohl wusste, was es mit Vasantas Geschichte auf sich hatte.
Doch sie hob ihren Metallarm und blickte darauf, wie als könnte sie sich erinnern, wie ihr eigener Arm gewesen war. Allerdings schwieg sie und schien Takerus Frage tatsächlich nicht beantworten zu wollen.

Kioku sah Anon ganz genau an. Sie musste darüber nachdenken, was im Keller des Bahnhofs mit ihm und seinen Bändern passiert war und blickte nun auf das Band, das sie um das Handgelenk gewickelt hatte und seinem ganz ähnlich war. Es schien noch mythischer zu sein als vorher.
„Wie geht es dir mittlerweile, Anon?“, hakte sie nach und sah ihm direkt in seine schönen, blauen Augen.
„Schon besser“, lächelte er sie an und kratzte sich dabei an der Stirn. Daraufhin sah Kioku ihn noch etwas ernster an und er gab nach. „Ich muss mich einfach nur etwas ausruhen, dann komm ich schon wieder zu Kräften.“
Trotzdem machte sich Kioku Sorgen, vor allem, weil sie noch keine Antwort über den Kontrollverlust seiner Bänder hatte. Was, wenn das noch einmal passierte und man ihm jedoch nicht helfen konnte, weil seine Bänder es nicht zuließen? Eimi schien genau zu wissen, worüber sie nachdachte. Er nickte ihr bestätigend zu und sah dann Anon an. War das ein Zeichen, ihn endlich darauf anzusprechen? Sie wollte unbedingt Klarheit über seine Fähigkeiten und Kräfte haben.
„Anon, sag uns bitte, was es mit deinen Bändern auf sich hat. Wir fragen uns das schon so lange und nachdem du … die Kontrolle verloren hast, müssen wir einfach alles wissen, damit wir dir besser helfen können“, forderte sie von ihm entschlossen.
Eimi und Alayna wandten sich ganz neugierig zu ihm und Takeru nickte interessiert mit dem Kopf. „Ja, bitte verrate es uns endlich“, bat er.
„Ist das jetzt die Stunde, in der wir über unsere Verletzungen reden?“, wandte er ein und schmunzelte etwas. Jedoch, nachdem er in die Runde blickte und die Neugierde der Freunde in deren Augen sah, entschied er sich um. Er streckte seinen linken Arm aus und krempelte seinen Ärmel hoch. Das Band schien um seinen kompletten Arm gewickelt zu sein und lag fest an. Zur Demonstration ließ er ein Band aus seinem Ärmel herauskommen und zeichnete damit unbestimmbare Formen in die Luft.
„Wo fange ich da am besten an?“, überlegte er, während sich das Band durch die Luft bewegte. „Ich interessiere mich schon seit meiner Jugend für Antiquitäten. Dieses Band ist eine wahre Antiquität. Normalerweise lässt sich durch Anzeichen der Herstellung, des Alterungszustandes oder des Fundortes viel herausfinden über antike Gegenstände. Jedoch nicht bei diesem Band. Als ich es vor etlichen Jahren gefunden habe, fand ich es so interessant, dass ich schnell mehr darüber herausfinden wollte. Ich lernte, dass es auf meine Gedanken reagiert, wenn ich es berühre, dass es sich bewegen lässt und seine Dichte verändert, wenn ich nur fest genug daran denke. Es konnte nach etwas Training kontrolliert werden. Seitdem kann ich es im Kampf benutzen, wie ihr schon so oft festgestellt habt.“
„Ist Kiokus Band das gleiche?“, fragte Takeru neugierig nach.
„Ja und nein. Ich habe über dein Band, Kioku, noch nicht so viel herausgefunden wie ich wollte“, antwortete Anon ehrlicherweise. „Du musst bisher noch nicht befürchten, dass dir das Gleiche widerfährt wie mir.“
„Warum aber hast du die Kontrolle darüber verloren?“, wiederholte Kioku ihre Frage.
„Es hat damit zu tun, wie unsere Seele auf Gegenstände reagiert. Ihr müsst wissen, dass unsere Seele nicht nur auf andere Lebewesen einen Einfluss hat – wie wenn man zum Beispiel eine freundschaftliche Beziehung zu einem Menschen oder einem Tier führt – sie beeinflusst ebenso leblose Gegenstände.“
„Was bedeutet das?“, fragte Alayna nach, die sich wunderte, ob das, was Anon gerade gesagt hatte, ebenfalls auf das Tagebuch übertragbar war.
„Dieser Einfluss ist etwas, das du weder sehen noch riechen kannst. Du kannst diesen Einfluss, den eine Seele auf einen Gegenstand hat, nur spüren. Als Beispiel schaut euch Nachos Arm an. Momentan ist er noch nur eine Prothese, die er schwer bewegen kann“, erklärte er und zeigte mit seinem Band auf Nachos neuen Arm. „Irgendwann wird Nacho gut genug geübt haben, dass er seinen Arm ohne Probleme bewegen kann. Dabei steckt er nicht nur körperliche Energie in das Training, sondern auch seine geistige. Er setzt sich mit dem Gegenstand in seinen Gedanken auseinander und wird letztendlich auch einen Teil seiner Seele darauf übertragen. Dies passiert, ohne dass er es beabsichtigt und ohne, dass er es steuert. So etwas passiert nun einmal.“
„Was hat das jetzt mit deinem Band zu tun?“, hakte Eimi neugierig nach. Alle, die in der Kutsche saßen, wirkten sehr neugierig auf das, was Anon erklärte. Vor allem Kioku, die an seinen Lippen hing.
„Ganz selten gibt es jemanden, der diesen Prozess steuern kann. Der es also schafft, Teile seiner Seele absichtlich, kontrolliert und gesteuert auf Gegenstände zu übertragen. So ist es mit diesem Band hier passiert. Die Aura, die es umgibt, ist stark und ich konnte sie schon sehr früh spüren. Deswegen suchte ich jemanden auf, der sich mit diesen Prozessen auskennt, einen Autor diverser Bücher, der sich mit solchen Dingen täglich auseinandersetzt. Also besuchte ich Jumon Butsu.“
„Du kennst Jumon?“, wunderte sich Takeru und machte große Augen.
„Also irgendwie wundert es mich nicht mehr, dass sich alle kennen“, wandte Alayna leise ein und rollte unbemerkt mit den Augen.
„Oh, ihr habt Jumon schon kennengelernt?“, fragte Denji und grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Er war damals mit eurem Vater unterwegs, als ich mich seiner Gruppe anschloss.“
„Du hast mit unserem Papa gekämpft?“, wollte Takeru wissen.
„Ja, wir haben damals die Shal besiegt. Man sieht es mir zwar heute nicht mehr an, aber ich war ein echt guter Kämpfer“, erklärte er. „Ich meine, ich habe es sicherlich immer noch drauf.“
Nacho musste grinsen.
„Was hast du mit Jumon über das Band herausgefunden?“, versuchte Kioku das Thema wieder auf Anons Erklärung zu wenden.
„Die Seele, die dieses Band beeinflusst, ist uralt und hat schon einiges miterlebt. Wir konnten nicht genau herausfinden, von wem das Band stammt oder warum es diese Fähigkeiten hat, jedoch stellten wir eines fest …“
Kioku konnte die Antwort gar nicht erwarten und fand es schrecklich, dass Anon an dieser Stelle eine kleine Pause machte, um die Freunde unabsichtlich auf die Folter zu spannen.
„Der Einfluss der Seele erschuf etwas, das wir heutzutage als Fluch bezeichnen würden. Es ist verflucht. Momentan lässt es sich gut kontrollieren, außer in seltenen Situationen, wie die heutige. Langsam und stetig wickelt sich das Band um meinen Körper und ich merke, dass es sich enger zusammenzieht. Es wirkt an manchen Tagen, als würde es mich auffressen wollen.“
Auch hier machte er wieder eine kurze Pause und nahm einen tiefen Atemzug. Es schien, dass das Folgende schwer auszusprechen war, deswegen musste er sich erst einmal sammeln.
„Früher oder später wird es mich komplett umwickelt haben und dann werde ich wahrscheinlich sterben.“
Diesen Satz wollte keiner der Freunde hören.
Ein stechender Schmerz fuhr Kioku durch die Brust und wie hypnotisiert von diesem Gefühl griff sie sich an die Stelle, wo ihr Herz war. Sie wollte es nicht wahrhaben, dass Anon sterben könnte – zumindest nicht jetzt und nicht bald. Für einen kurzen Augenblick musste sie daran denken, dass sie wollte, dass Anon alt wurde und sie das miterleben durfte. Irgendwie musste es doch eine Möglichkeit geben, das aufhalten zu können.
„Kann man nichts tun?“, fragte Kioku vorsichtig und bemerkte, dass ihre Stimme ihre Gefühle widerspiegelte. „Diesen Fluch muss man doch irgendwie brechen können.“
„Kannst du es nicht einfach abnehmen?“, hakte Takeru neugierig nach.
„Ich befürchte, dass die Lösung für dieses Problem noch im Dunkeln liegt“, erklärte Anon, der verneinend zu beiden Fragen schüttelte.
Nachdem nachdenkliche Stille die Stimmung in der Kutsche einnahm, traute sich zunächst keiner, etwas zu sagen. Das monotone Knirschen auf dem Sand und der trostlose Blick hinaus auf die Wüste veränderte die Stimmung keineswegs. Somit wusste Kioku die Antwort auf die Frage, was es mit Anons Band auf sich hatte. Würde ihr das Gleiche widerfahren? Noch einmal blickte sie hinab auf das Band, das ihr Handgelenk umwickelte und versuchte zu spüren, ob es sich in letzter Zeit auch enger zugeschnürt hatte, jedoch war das einzige, was sie spürte, eine unfassbare Beklommenheit in ihrer Brust. Die Gedanken drehten sich immer wieder um Szenen, in denen sie Anon sterben sah. Es waren schreckliche Gedanken, die sie nicht haben wollte, die sie jedoch ohne Einwilligung gefangen nahmen. Ihre Gedanken wurden dabei so vernebelt, dass sie nicht einmal mehr mitbekam, was um sie herum passierte.
Nicht einmal, dass Anon seine Hand auf ihre Schulter legte.
„Vielleicht werde ich ja mit etwas Unterstützung einen Weg finden, diesem Schicksal zu entgehen“, sprach er und blickte ihr dabei in die Augen. Es schien so, als würde er nur zu ihr sprechen.
„Dieses Band, von dem du gesprochen hast“, sprach plötzlich Toni, der bisher sehr still gewesen und niemanden angesehen hatte. „Ich kenne jemanden, der dir helfen könnte, es loszuwerden.“
„Wie meinst du das!?“, fragte Anon schockiert, während er aufsprang. Er merkte, dass er dadurch das Gefährt ins Schwanken brachte und setzte sich wieder hin. „Woher kennst du diese Person? Wer ist es? Ich suche schon so lange nach jemandem, der sich damit auskennt …“
Alle Augen waren nun auf Toni gerichtet. Denji überschlug seine Beine und stütze seinen Kopf gemütlich auf seine Hand. Dadurch machte er es sich etwas bequemer zum Zuhören, denn er wirkte so, als würde ihn das höchst interessieren. Vasanta hingegen verschränkte ihre Arme und war gar nicht angetan davon, dass ihr Gefangener überhaupt etwas anderes tat, als still in einer Ecke zu sitzen. Kioku war aufgeregt. Nervös rutschte sie auf ihrem Sitz etwas hin und her. Hatte Toni wirklich eine Antwort darauf, wie Anon von dem Fluch befreit werden könnte? Wenn das wirklich der Fall sein sollte, dann war das beklemmende Gefühl in ihrer Brust gerade um einiges kleiner geworden.
Bevor Toni auf Anons Fragen antwortete, faltete er seine Hände nachdenklich vor seinem Gesicht. Der Ausdruck, den seine Augen auf einmal hatten, waren von Furcht und Sorge geprägt, das sah Kioku genau.
„Ich befürchte“, fing Toni in einer sehr ruhigen, ernsten Stimme an zu erklären, „dass dies nicht bedeutet, dass du das überlebst. Dennoch wird er dich von diesem Band befreien können.“
Die Gesichter von Eimi, Alayna und Denji waren wie eingefroren. Takeru war wie Kioku selbst nun ziemlich aufgebracht. Was meinte dieser Kerl eigentlich, ihr erst Hoffnungen zu machen und diese dann eine Sekunde danach zu zerstören? Am liebsten wäre Kioku aufgestanden und hätte Toni geohrfeigt, jedoch war weder der richtige Ort noch der richtige Moment dafür.
Zu ihrer Überraschung blieb Anon jedoch ganz ruhig. Er strich sich einmal mit seiner linken Hand über sein Gesicht, wie wenn man gerade aufwachte und versuchte richtig wach zu werden. Anon wirkte so, als hätte er diese Antwort schon oft hören müssen und hatte immer allein mit seinen Gefühlen zurechtkommen müssen. Doch damit war jetzt Schluss. Kioku fasste sich den Entschluss, Anon mit diesem Schicksal nicht alleine zu lassen. Nicht nur, weil sie helfen wollte oder weil sie ebenfalls ein Band um ihr Handgelenk trug, das mit Anons in Verbindung zu stehen schien. Da war noch etwas anderes, das wie eine kleine Blume, leuchtend in ihrem Inneren aufging und ihr Wärme und Zuversicht spendete. Wenn sie an Anons Seite war, wusste sie einfach, dass all diese Probleme lösbar waren.
„Erzähl mir von ihm“, forderte Anon.
„Das ist kompliziert“, antwortete Toni, „ich kenne ihn eigentlich nicht.“
Denji und Eimi schlugen die Hände über dem Kopf zusammen.
„Was soll das nun wieder heißen!?“, brach es aus Kioku wütend heraus. „Erst kennst du eine Lösung, die Anon jedoch umbringt und dann sagst du, du kennst wen und nun doch nicht!? Entscheide dich mal!“
Alayna berührte Kioku am Knie, um ihr zu deuten, dass sie sich etwas beruhigen sollte. Die anderen waren genauso angespannt wie Kioku. Toni sprach für sie in Rätseln.
„Ihr habt mich verschont und bietet mir Hilfe an. So viel Anstand besitze ich, dass ich euch im Gegenzug ebenfalls diese Hilfe anbiete. Ob ihr jedoch diese Geschichte glaubt oder nicht, obliegt euch ganz allein“, fing Toni an zu erklären und verlor keine Sekunde lang diese kühle, ruhige Aura um sich herum. Die Freunde blieben ganz ruhig, denn diese Geschichte interessierte sie. Selbst Kioku nahm sich nun etwas zurück und schien auf einmal ganz ruhig, Anon zuliebe.
„Ich habe ihn selbst nie getroffen. Jedoch gehöre ich zu einem engen Kreis an Leuten, die von ihm nicht nur Unterstützung bekommen, sondern auch Anweisungen. Er ist auf der Suche nach so einigem, unter anderem nach gewissen Gegenständen. Er hat die sieben Leute, die direkt unter ihm agieren, damit beauftragt, diese Gegenstände zu sammeln – unter anderem mich. Jedoch hat er nie erwähnt, wofür diese Gegenstände eigentlich waren. Ich habe das selbst nie hinterfragt.“
„Kann es sein, dass es sich bei einem dieser Gegenstände um mein Band handelt?“, hakte Anon nach und erhielt von Toni ein bestätigendes Nicken. „Welche Gegenstände sind das noch? Ich nehme an, es ist nicht nur mein Band.“
Die Antwort darauf schockierte die Freunde.
„Er sucht ein Stoffband, welches sich von allein bewegen kann, ein Schwert ohne Klinge, einen Kompass, der keine Richtung zeigt und eine Schreibfeder, mit der man nicht schreiben kann.“
Dass sich alleine drei dieser vier Gegenstände in diesem Wagen befanden, ließ den Freunden einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Sich fragend und wundernd blickten sie sich an und wussten nicht, wie sie darauf reagieren sollten.
Kioku wunderte es etwas, dass das Tagebuch nicht erwähnt wurde. War es doch nicht so wichtig, wie sie und vor allem Takeru annahmen?
„Ich sehe, dass sich hier einiges angesammelt hat“, erkannte Toni warnend. „Ihr schwebt in Gefahr. Andere suchen ebenfalls danach und sind bereit, weitaus brutalere Gewalt anzuwenden, um das zu bekommen, wonach sie suchen.“
„Warte, können wir das Schritt für Schritt angehen? Mir ist das gerade zu viel“, wandte Takeru plötzlich ein. „Der Kompass gehört Laan und das Schwert Ea. Ist vielleicht einer der beiden derjenige, der nach den Gegenständen sucht?“
„Ja, aber Ea wollte das Schwert noch nicht zurück. Laan schien auch nicht daran interessiert zu sein, den Kompass mitzunehmen, als die beiden verschwunden sind. Außerdem meinte er, er würde sie suchen. Damit kann er ja kaum die Gegenstände meinen“, erklärte Eimi ihm.
„Also kann es sich nicht um die beiden handeln“, schlussfolgerte Takeru.
„Was das Band ist, ist nun klar. Aber was soll denn diese komische Schreibfeder sein?“, hakte Alayna nach, die ebenfalls über die Zusammenhänge dieser Informationen nachdachte. Toni schüttelte zur Antwort nur den Kopf.
„Warum sammelt er diese Gegenstände?“, hakte Takeru nach und sah erwartungsvoll in die Runde.
„Sie sind auf jeden Fall mächtige Waffen. Vielleicht hat er auch davon gehört, was sie alles können? Aber selbst wenn, was hat dieser Kerl damit vor?“, wollte Eimi unbedingt wissen.
„Und was hat es mit ihm auf sich?“, hakte Anon nach, der mehr über die Zusammenhänge erfahren wollte.
„Ich werde nicht viel sagen können, da ich ihn kaum kenne. Jedoch hat er mir Hilfe angeboten, als ich auf der Suche nach Unterstützung meinen Heimatkontinent verlassen habe“, erklärte Toni in Ruhe. „Damals kam ein älterer Mann namens Akian Malasakit auf mich zu und erzählte mir von diesem Mann, der helfen würde. Damals schien er mir wie ein Erlöser, nachdem unserem Volk schon von so vielen die Hilfe verwehrt wurde. Akian versprach mir nicht nur, das dieser Erlöser für Frieden auf der Welt kämpft, sondern mich auch unterstützt, mein Volk zu retten. So kam es, dass er mich rekrutierte und mich bald einer Gruppe ähnlich Gesinnter vorstellte. Wir waren sieben Personen unterschiedlichster Gesinnung und Herkunft. Ich erkannte schnell, dass sich unsere Absichten wesentlich unterschieden, obwohl Akian versuchte, mir etwas anderes weiszumachen. Dennoch hatten wir alle etwas gemeinsam: Wir arbeiteten für ihn. Nun, ehrlicherweise taten das sicherlich die anderen. Die wenigen Aufträge, die ich bekam, führte ich kaum oder nur mangelhaft aus.“
„Warum?“, hakte Anon nach.
„Du solltest jemanden angreifen“, schlussfolgerte Eimi und überraschte damit die anderen.
„Stimmt genau. Wie ihr vielleicht schon festgestellt habt, ist das nicht mein Stil.“
„Uns ist aufgefallen, dass du kein einziges Mal einen Angriff gestartet hast. Du hast dich nicht einmal verteidigt. Im Endeffekt bist du jedes Mal nur ausgewichen“, erkannte Takeru.
„Warum handelst du so?“, hakte Eimi neugierig nach, den dieser Art von Kampfstil anscheinend sehr interessierte.
Tonis Blick wurde sehr ernst, als er dies beantwortete. „Ich bin diese Reise angetreten, um mein Volk vor dem Tod zu bewahren, nicht, um aus kaltblütiger Rache weitere Leben zu nehmen.“
Irgendwie leuchtete das Kioku ein. Vielleicht war auch genau diese Einstellung das, was Tonis Aura so besonders machte. Klar, die Sache mit der Entführung Denjis war nicht zu entschuldigen, aber zu seiner Verteidigung hatte er tatsächlich kein einziges Mal Gewalt ausgeübt.
„Erzähl uns mehr darüber“, forderte Vasanta kühl, die sich dem Gespräch nun auch anschloss. „Uns liegen interessante Informationen über Akian Malasakit vor, jedoch möchte ich erst etwas mehr von dir hören.“
„Ich werde aus persönlichen Gründen über ihn nichts erzählen. Jedoch kann ich euch die Namen der anderen nennen. Über Nafsu Percintaan und Lunja Gynav weiß ich nicht sehr viel. Diese Damen waren während unserer gemeinsamen Besprechungen immer sehr schweigsam. Jedoch weiß ich, dass die dritte Frau im Bunde, Jidu Jaloux, auf dem Benua-Kontinent sehr erfolgreich mit ihrer politisch-religiösen Sekte ist. Was sie aber hier auf diesem Kontinent sucht, ist mir gänzlich unklar. Neben meiner Wenigkeit und Akian, der zu den sieben Personen gehört, befinden sich noch zwei weitere Männer in dieser Gruppe: Want Sanntach und Vaidyam Zlovnmamir.“
Den Freunden gefror das Blut in den Adern, als sie diese Namen hörten. Die zwei Männer, die den großen Angriff auf Yofu-Shiti angeführt hatten, hatten also mit Toni zu tun und es war definitiv nicht auszuschließen, dass die anderen genannten Personen ebenfalls mit dieser bösen Organisation zu tun hatten.
„Das wird den Boss aber ziemlich interessieren“, grinste Vasanta, die glücklich darüber zu sein schien, dass sie einen Informanten gefangen genommen hatte. „Schätze, deine Verhandlungen mit der Senatorin werden nun etwas spannender.“
„Halt, halt“, wandte Denji ein und fuchtelte etwas herum. „Ich habe Toni zugesichert, dass er faire Verhandlungen für ein Abkommen bekommt.“
„Das soll er auch kriegen“, entgegnete Vasanta. „Aber es spricht ja nichts dagegen, dass die Vastus Antishal dabeisitzen und ein paar Informationen bekommen, als Preis für die sichere Eskorte, oder?“
„Toni, kannst du uns mehr über diese Organisation sagen?“, hakte nun Takeru nach.
„Welche Organisation?“, entgegnete Toni und zog dabei verwundert eine Augenbraue nach oben.
„Die, die für die ganzen Angriffe verantwortlich ist“, erklärte Takeru kurz, der sichtlich verwundert auf Tonis Reaktion war.
„Ich weiß nicht, von welcher Organisation du genau sprichst, Junge. Hört zu, ich habe euch nun wirklich alles gesagt, was ich weiß. Ich bin ein Einzelgänger. In was für Machenschaften die anderen Personen stecken oder in was für Gruppierungen sie unterwegs sind, kann ich euch nicht sagen. Mir ist dies auch ziemlich egal. Ich tue das, was nötig ist, um mein Volk vor dem Tod zu bewahren.“
Die Zielstrebigkeit Tonis beeindruckte die Freunde, jedoch reagierten sie auch jeder unterschiedlich auf die gesagten Informationen. Kioku wollte mehr über diesen Mann herausfinden, der Toni Hilfe angeboten hatte und der Anon vom Fluch seines Bandes befreien konnte. Sie war jedoch besorgt, was dieser Mann mit der Macht des Bandes anstellen würde.
Die Zielstrebigkeit Tonis beeindruckte die Freunde, jedoch stellten sie fest, dass sie unterschiedlich auf die gesagten Informationen reagierten, als sie darüber sprachen. Alayna sorgte sich um die anderen Personen aus Tonis Gruppe, die, wenn sie so waren wie Want und Vaidyam, sehr gefährlich werden könnte. Was, wenn diese Leute weitaus schlimmere Dinge taten und eine größere Gefahr für den Frieden auf der Welt darstellten?
Takeru war verwundert, dass bei den von Toni erwähnten Gegenständen das Tagebuch nicht mit dabei gewesen war. Dass sie nun nicht nur von den Shal, sondern auch von noch mehr Leuten gesucht wurden, beunruhigte Takeru. War sein Vater deswegen auch in Gefahr?
Eimi sah ein globaleres Problem. Die Bedrohung, die sich wie ein schleichender Schatten von überall aus der Welt an diesem Punkt sammelte, sollte nicht nur für die Freunde, sondern für die ganze Welt eine Herausforderung werden.
„Vasanta, Denji, bitte lasst uns gemeinsam eine Lösung finden, wie wir mit diesen Informationen umgehen“, wandte sich Anon nun an die beiden. „Wir müssen zusammen mit der Senatorin, den Vastus Antishal und den anderen darüber sprechen. Das haben wir ihm versprochen.“
Die Betonung, die auf dem ‚ihm‘ lag, empfanden die Freunde alle als besonders. Hatte Anon etwas zu verheimlichen? Die Gedanken rund um Tonis Informationen lenkten die Freunde jedoch von dieser Kleinigkeit ab, über die Kioku nur nicht weiter darüber nachdachte.
„Ihr werdet noch mehr zu besprechen haben. Eine letzte Sache habe ich euch noch nicht verraten“, sagte Toni und die Blicke der Freunde richteten sich wieder auf ihn. „Ich befürchte, dass euch noch Schlimmeres erwartet. Der vermeintliche Erlöser zettelt gerade einen Krieg an.“


Kapitel 47 – Vor der Verhandlung

Eine riesige rot-braune Mauer umgrenzte Jiro-Khale. Den Freunden wurde von Anon erklärt, dass das Dorf sich öfters vor Sandstürmen schützen musste und diese Mauer dazu diente, den Großteil eines solchen Sturmes abzubremsen. Jiro-Khale glich von der Größe her einer Stadt, jedoch lebten dort nicht sehr viele Menschen, weswegen es vom Aufbau und der Struktur eher einem Dorf glich. Im Norden und Westen der Stadt umrahmten felsige Hügel die Stadt, deren Kuppeln man gerade so über der Stadtmauer ausmachen konnte, wenn man davorstand. Die Kutsche fuhr durch das südliche Tor der Stadt und hielt unweit davon in einem kleinen Bereich an, in dem mehrere Kutschen standen, die mit diversen Waren beladen oder entladen wurden. Takeru sah ebenfalls einen großen Stall, vor dem einige Kamele und Pferde gerade mit Heu gefüttert wurden. Auf der gegenüberliegenden Seite dieses Bereiches erkannte er einige Läden und Handwerksstätten, die ihre Waren anpriesen. Neben etlichen Werkzeugen, Töpfen, Körben und Ersatzteilen für Kutschen gab es auch Läden, die Nahrungsmittel wie Obst, getrockneten Fisch oder Brot anboten. Mit Sicherheit befanden sich noch mehr solcher Läden im Inneren des Ortes.
Als Takeru als erster aus der Kutsche stieg, überraschte ihn die trockene Wärme. Die Sonne knallte direkt auf den festen und lehmroten Boden. Nichts war in der Umgebung, was diese Wärme hätte absorbieren können. Seit dem Anfang der Reise hatten die Freunde den Winter hinter sich gelassen und spürten das allmählich wärmer werdende Wetter des Frühlingsanfangs. Jedoch kam Takeru der Wechsel eines etwas warmen Wetters zu der noch milden Hitze der Wüste sehr extrem vor. Im Sommer musste diese Hitze unerträglich sein, dachte er sich und sah sich weiter um, während er weiterhin seine Gedanken sortierte, die durch die Informationen, die er von Toni erhalten hatte, durcheinander geraten waren.
Da war eine Sache, die er plötzlich realisierte, die ihm vorher auf seiner Reise nicht wirklich aufgefallen war. Die Menschen des Ortes, die gerade ihren täglichen Gewohnheiten und Arbeiten nachgingen, hatten alle eine spürbare friedliche Aura um sich herum. Abgesehen von den schlimmen Dingen, die sich auf der Welt ereignet hatten, den brenzligen Situationen, in die er schon geraten war und den tragischen Geschichten von Menschen, die er zu hören bekommen hatte, hatten diese Leute vielleicht ganz andere, fundamentalere Probleme. Hatten sie genug verkauft, um sich Essen für ihre Familie zu leisten? Wie schafften sie es, in der harten, trostlosen Wüste zu überleben? Hatten diese Leute überhaupt Freizeit? Als ihm diese Gedanken durch den Kopf flogen, schien die Zeit etwas langsamer zu vergehen und er sah sich die Leute genauer an. Ein Mann bezahlte einem Verkäufer das Brot, das er gerade gekauft hatte und steckte es sich in eine Tasche. Als er an einem weiteren Laden vorbeilief, hörte er daraus die Hammerschläge eines Schmiedes, der auf heißes Metall schlug. Eine Frau hängte getrocknete Fische unter das Vordach ihres Ladens, während zwei kleine Kinder ihr zwischen den Beinen umhertollten. Eine andere Person führte ein Pferd zu den Ställen, wo es an einer Tränke frisches Wasser zu sich nahm. Dann wandte sich sein Blick zu Toni, der nun zusammen mit Vasanta aus der Kutsche stieg. Im hellen Sonnenlicht schien das Tattoo auf seinem glatzköpfigen Schädel von einem tieferen, intensiveren Blau zu sein. Als er die Kutsche verließ, blieb er ganz ruhig stehen, bis ihm angewiesen wurde, was er als nächstes zu tun hatte. Takeru ging die Geschichte mit seinem Volk, das hungerte, nicht aus dem Kopf. War das eine glaubwürdige Geschichte? Er kannte sich zu wenig mit der Welt aus, als dass er das hätte beurteilen können. Ihn faszinierte jedoch, wie ruhig Toni zu bleiben schien. Dann fragte er sich, wie die Verhandlungen wohl ausgehen würden.
Die Informationen, die Toni mit der Gruppe geteilt hatte, beunruhigten Takeru enorm. Gegen Want und Vaidyam anzutreten, hätte den Freunden schon mehrmals das Ende bereiten können. Nur mit viel Glück und der Unterstützung der Freunde seines Vaters hatten sie immer wieder aus der Gefahr in Sicherheit gebracht werden können. Was hatte das aber alles zu bedeuten, dass nun mehr Personen nach ihnen, dem Tagebuch und den Gegenständen suchten? Waren sie in Gefahr?
Die Gruppe ging nun zu Fuß weiter. Angeführt von Vasanta, Nacho und Denji, die Toni nah neben sich hielten, folgten daraufhin Anon und Kioku. Das Schlusslicht bildeten Eimi, Alayna und Takeru, die sich neugierig umblickten. Es hieß, dass sie ins Zentrum des Ortes mussten, dort läge der heilige Tempel mit seinem gewaltigen Vorplatz. Dort wollten sich alle mit Matra Pursiuru, der Priesterin und das Oberhaupt des Dorfes, treffen. Dann endlich, nach so viel Zeit, sollte er endlich einen Hinweis darüber bekommen, ob sein Vater sich in dieser Stadt aufhielt oder ob er zumindest auf seiner Reise hier durchgekommen war. Er fasste sich an die Stelle an seiner Brust, an der der Kompass unter seiner Kleidung hing und spürte, dass er einer Antwort schon ganz nah war. Nichts wünschte er sich mehr, als seinen Vater und Antworten auf all seine Fragen zu finden, noch bevor der Krieg ausbrach, von dem Toni gesprochen hatte.
Anon und Kioku fielen zurück und hielten etwas mehr Abstand von Vasanta und den anderen. „Ihr wolltet wissen, wie Vasanta ihren Arm und ihr Bein verloren hat?“, ging Anon auf die Frage ein, die Takeru vorher in der Kutsche gestellt hatte. „Ihr habt es nicht von mir, ja? Aber ihr solltet Vasanta darauf nicht mehr ansprechen“, sagte Anon warnend.
„Was ist mit ihr passiert?“, fragte Alayna nach, die es ebenfalls zu interessieren schien. Takeru und Eimi wandten sich ebenfalls Anon zu. Sie liefen alle sehr nah an Anon, sodass er die Geschichte nicht so laut erzählen musste.
„Vasanta hat sich mit ihrer Familie und anderen auf der Flucht befunden, weil ihr Zuhause durch einen Bürgerkrieg zerstört worden war. Es war damals eine relativ kleine Revolution, die nicht lange anhalten sollte, jedoch schlimm genug war, Menschen von ihrem Zuhause zu vertreiben. Eine Minderheitengruppe auf Benua provozierte einen Bürgerkrieg, um die Macht zu übernehmen. Dabei wurden so viele Städte zerstört. Auf der Flucht kämpften sich die Menschen, die mit Vasanta unterwegs waren, durch das Gebirge, um dort in Höhlen Schutz zu finden. Jedoch waren die Leute orientierungslos und das Wetter spielte auch nicht mit. Trotz der Hilfe der Vastus Antishal kamen die Menschen in ein ziemlich gefährliches Gebiet. Ich weiß sonst nur das, was mir Lliam – eins der Mitglieder der Vastus Antishal – einmal erzählt hat. Beim Versuch, ein sicheres Plateau zu erreichen, gerieten die Leute in eine Gerölllawine, die sich wegen des schlechten Wetters im Gebirge gelöst hatte. Dabei verlor Vasanta einen Teil ihrer Gliedmaßen und leider auch ihre Familie. Sie gibt sich seither die Schuld dafür. Ich glaube, dass sie die einzig Überlebende war, hat ein Trauma in ihr ausgelöst.“
Diese Vorstellung ließ es Takeru eiskalt den Rücken hinunterlaufen. Dieses schreckliche Ereignis hatte eine Tragweite, die Vasanta bis heute noch beeinflusste. Sie tat ihm leid und er fühlte sich etwas schlecht, weil er sie einfach so aus dem Blauen heraus gefragt hatte, was ihr passiert war.
„Zu dieser Zeit war ein Mitglied der Vastus Antishal mit jener Gruppe von Flüchtlingen unterwegs“, erzählte Anon weiter und die Freunde hörten neugierig zu. „Kyrmoo Isurando hat Vasanta damals retten können. Ein Glück, dass Vasanta trotz ihrer Verletzungen überleben konnte. Kyrmoo war auch diejenige, die Vasanta zu den Vastus Antishal brachte, bevor sie selbst im Kampf ihr Leben verlor. Vasanta sah in Kyrmoo immer eine Art Ersatzmutter. Seit ihrem Tod ist Vasanta etwas in sich gekehrter – habe ich mir zumindest sagen lassen.“
„Das ist ja schrecklich“, kommentierte Alayna die Geschichte. Kioku sah besorgt Anon an.
„Haben die anderen der VA auch solche Geschichten erlebt?“, erkundigte sich Eimi, der sehr konzentriert wirkte.
Takeru musste unweigerlich daran denken, wie Arec ihn gepackt und angebrüllt hatte. Ein schlechtes Gewissen schlich sich bei ihm ein, als er sich erinnerte, wie er den Kristall zerstört hatte, der Arec so wichtig war.
„Ja, sie alle haben diverse schwere Schicksalsschläge ertragen müssen“, erklärte Anon ruhig. „Daraus schöpfen sie Kraft, sich gegen alle Herausforderungen stellen zu können, die uns heute begegnen. Sie kämpfen für das Gute, das könnt ihr mir glauben, auch wenn ihre Ansichten und Techniken das teilweise nicht so aussehen lassen.“
Da kam ihm Shin in den Kopf. Dieser Mann wirkte so nett und liebevoll und Takeru erinnerte sich daran, wie aufgeregt er nach seinem Vater gefragt hatte, als wäre er ein Held. Hatte Shin ebenfalls solch ein Ereignis durchmachen müssen? Wenn ja, wie schaffte er es dann, eine gute Laune zu bewahren? Takeru ertappte sich selbst dabei, wie er in letzter Zeit immer wieder schlechte Laune hatte. Aber damit war nun Schluss! Denn er wusste, dass diese Matra einen Hinweis für ihn hatte, wo sein Vater sein sollte.
Was Takeru gerade nicht aufgefallen war, war, dass Eimi einen sehr ernsten Blick aufgesetzt hatte. „Wie kommt es, dass du so viel über die Vastus Antishal weißt, Anon? Warum bist du kein Mitglied geworden?“, hakte Eimi kritisch nach.
„Ach, weißt du, das ist so eine Sache …“, fing Anon an zu erklären, hielt jedoch kurz inne. Die Gruppe gelangte über eine breite steinerne Treppe auf den großen Vorplatz vor dem Tempel. Anon nahm gerade die letzte Stufe, als er das gefragt wurde und sah sich um. Takeru erkannte, dass sich sein Gesichtsausdruck schlagartig änderte, als er sich die uralten Gebäude ansah, die aus einer fremden Zeit zu sein schienen. „Dieser Ort hier ist eine wahre Antiquität. Diese Tempel sind uralt und schaut euch doch einmal an, wie prächtig sie dastehen!“
Anon lenkte das Gesprächsthema offensichtlich ab, jedoch war das Takeru egal. Während Eimi versuchte, weiter nachzuhaken, betrachtete er das, was sich ihm darbot. Vor ihm stand ein großer prächtiger Tempel aus rotbraunem Gestein. Der Tempel stand auf einem Podium und wirkte dadurch sehr erhaben. Mehrere Säulen umrahmten den Tempel, welcher zwei kleinere Nebentempel besaß. Das Gebäude war sehr riesig und ließ die nebenstehenden Gebäude sehr klein wirken.
„Willkommen in Zentrum von Jiro-Khale“, begrüßte Anon die Freunde und lenkte somit noch mehr von den Fragen ab, die ihm gestellt worden waren. „Auf diesem Platz finden etliche Feste statt. Die Gebäude, die ihr dort und da drüben seht, sind öffentliche Gebäude, Bibliotheken und werden teilweise sogar von der Regierung verwendet.“ Anon erklärte es den Freunden, als wäre er ein Fremdenführer in einer Stadt.
Denji, der mit Nacho, Vasanta und Toni schon die Stufen zum Tempel hinauflief, winkte den Freunden wild zu und als Anon das bemerkte, schickte er sich an, mit den Freunden nachzukommen.
„Wir wollen Matra doch nicht warten lassen.“
Gleich würde er eine Antwort darauf erhalten, wo sein Vater steckte, dachte sich Takeru und sah hoffnungsvoll in die Augen seiner Schwester, die das Gleiche zu denken schien. Auch wenn er das Tagebuch gerade nicht hatte, der Kompass nicht funktionierte und so viel Unbekanntes noch vor ihnen lag, konnte sich Takeru darauf verlassen, dass es jetzt endlich mal wieder einen Schritt vorwärts ging.
Sie erreichten den Tempel. Neben dem Eingangstor befanden sich zwei große Schalen auf Podesten, in denen Feuer brannte. Als sie das Gebäude betraten, schüttelte es Takeru kurz, weil der Temperaturunterschied zu draußen enorm war. Lichtsäulen beleuchteten die Eingangshalle und er konnte nicht erkennen, woher das Sonnenlicht zu kommen schien. Die Eingangshalle war ebenfalls mit Säulenreihen untergliedert und eine weitere Treppe führte die Freunde hinauf in einen Hauptraum. Die Schritte hallten zwischen den hohen Wänden hin und her und betonte dadurch jedes Geräusch. Auf der Stirnseite des Hauptraumes befand sich auf einem Podest eine Art Altar, in dessen Mitte auf einem steinernen Tisch ein Felsbrocken lag, umringt von mehreren Kerzen. Auch hier beleuchteten Lichtsäulen den Raum und diesmal konnte Takeru ausmachen, dass das Licht durch Schlitze im Dach in den Raum fiel. Der Boden und die Wände waren mit diversen geometrischen Mustern und Mäandern dekoriert. Die ganze Situation fühlte sich besonders an. Das spezielle Licht schaffte eine mystische Atmosphäre. Dadurch, dass jedes Geräusch sofort gehört wurde, versuchte man besonders leise zu gehen, um die Ruhe dieses heiligen Ortes nicht zu stören. Anons Augen strahlten, als er durch diese besonderen Räumlichkeiten fast zu schweben schien. Immer wieder deutete er mit seiner Hand auf Details, die einem durch den ersten Eindruck noch verborgen blieben. Alayna und Kioku sahen sich staunend um, als er ihnen immer wieder außergewöhnliche Stellen dieser Räumlichkeiten zeigte, wie etwa kleine Musterbänder an der Decke oder kleine Statuen, die Feuerschalen hielten.
In der Mitte des Raumes blieb Vasanta mit Toni stehen. Denji streckte einmal seine Arme und gähnte, er schien müde zu sein. Alayna und Eimi sahen sich noch neugierig um, als aus einer wenig beleuchteten Ecke zwei Frauen in den Raum traten.
Die eine Frau hatte dunkle Haut und lange, schwarze Haare, die sie zu einer Steckfrisur nach oben gebunden hatte. Ein grünes Band, das sie um ihren Kopf trug, hielt die Frisur mit einem Knoten fest. Sie hatte zwischen ihren Augenbrauen einen hellgrünen kreisrunden Punkt. Unter ihren Augen hatte sie in der gleichen Farbe zwei etwas größere Ovale. Sie trug schlichte, braune Kleidung und einige Armbänder. Neben ihr ging eine etwas größere Frau, die deutlich mehr Schmuck wie Armbänder, Ketten und Ringe trug, als die erste Frau. Die Haare dieser Frau waren in zwei Zöpfen geflochten, die locker über ihre Schulter hingen. Über ihrem braunen Kleid trug sie ein mit grünem Stoff verziertes Oberteil. Das Band, das sie um den Kopf trug, war ebenfalls grün und wies ein rotes Muster aus Rauten und Dreiecken auf. Wie die andere Frau hatte sie aus einer hellgrünen Farbe Formen im Gesicht bei ihr waren es jedoch eine Raute und zwei Dreiecke. Der Blick beider Frauen war sehr ernst.
„Matra! Uwanari!“, begrüßte Denji die Frauen freudestrahlend und wollte sie umarmen. Während Uwanari der Umarmung jedoch auswich, ließ sich Matra von Denji umarmen. Nacho tauschte zur Begrüßung, genau wie Vasanta, einen Handschlag aus.
„Willkommen in Jiro-Khale“, begrüßte Matra auch die Freunde und gab jedem einen Handschlag. Gerade aber, als Matra sich von den Kindern wieder abwenden wollte, um sich Vasanta und Toni zu widmen, ließ Takeru ihre Hand einfach nicht los. Überrascht sah Matra den Jungen an und verzog neugierig ihre Augenbrauen. Jetzt war seine Chance.
„Du weißt, wo mein Vater steckt“, sagte er und ließ sie dabei nicht los.
Wie als hätte Anon gewusst, dass das passieren würde, stellte er sich schnell hinter Takeru, packte ihn an den Schultern und zog ihn von Matra weg. „Tak, es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, das Matra zu fragen“, wandte er ein und zwinkerte Matra zu, sodass nur sie es sehen konnte. „Sie muss sich erst einmal um Toni kümmern.“
Verwundert löste sich Takeru von Anons Griff und wandte sich ihm zu. Für einen kurzen Moment wusste er nicht, was er sagen sollte und sah verzweifelt zu seiner Schwester, die nur mit den Schultern zuckte. Kioku tat das Gleiche und sah Anon fragend an. Es war eine merkwürdige Situation für Takeru.
Dann ging er auf Matra zu und wollte sie am Arm berühren, damit er wieder Aufmerksamkeit von ihr bekam. Er konnte diese Situation nicht so enden lassen, gerade jetzt, als er der Antwort auf seine Frage so nah war.
„Matra“, fing er an zu reden, als seine Hand kurz davor war, Matras Arm zu berühren. Eine andere Hand griff jedoch nach seiner und hielt ihn so fest, dass es schmerzte. Die andere Frau stand plötzlich neben ihm und ließ ihn nicht mehr los.
„Was soll das?“, wunderte sich Takeru. „Matra, ich will eine Antwort!“
Matra drehte sich zu ihrer Begleiterin und sah sie streng an. Ohne ein Wort zu sagen, nickte sie ihr zu und Uwanari ließ daraufhin Takeru los.
„Die Verhandlung ist bald vorbereitet“, erklärte sie knapp und kühl. Ihr Blick verlor dabei kein bisschen ihrer Strenge. „Du musst auf ein Gespräch mit mir warten, bis diese abgeschlossen ist.“
„Aber …“, versuchte Takeru einzuwenden, wurde dann aber von ihr unterbrochen.
„In dieser Welt gibt es auch andere Sachen, die wichtig sind, Sohn von Ginta Sabekaze“, entgegnete sie streng und formell. Takeru wunderte es für eine Sekunde, dass er nicht bei seinem Namen angesprochen wurde und das nutzte Matra, sich an Vasanta und Toni zu wenden, wobei sie Toni keines einzigen Blickes würdigte.
„Die Verhandlung findet in einem anderen Gebäude statt. Ihr folgt mir dorthin. Für unsere Gäste wurden Zimmer vorbereitet.“ Dann wandte sich Matra wieder allen zu. „Uwanari führt euch in eure Zimmer, Anon folgt mir bitte.“
Nachdem Anon zustimmend genickt und sich von den Freunden verabschiedet hatte, verließ Matra mit Vasanta, Denji, Nacho, Toni und ihm den Hauptraum des Tempels in die Richtung, aus der Matra vorher gekommen war. Die Freunde standen nun alleine Uwanari gegenüber, die bisher kein einziges Mal gelächelt hatte.
Kioku legte dem verdutzt schauenden Takeru zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter. „Hab ein wenig Geduld“, sagte sie und Takeru wandte sich von ihr ab.
„Wenn ihr mir bitte folgen würdet“, forderte Uwanari und ging in die entgegengesetzte Richtung hinaus. Den Freunden blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Takeru fühlte sich gut damit, in Bewegung zu sein, weil er sich dadurch von seiner Ungeduld ablenken konnte, fühlte sich aber gleichzeitig auch sehr unwohl, weil er nicht das bekam, was er sich wünschte: eine Antwort.
Uwanari führte die Freunde hinaus aus dem Tempel. Auf dem großen Vorplatz lag vom Tempel aus auf der rechten Seite ein kleines Gebäude, das anscheinend das Hotel war, in dem sie übernachten sollten. Während sie zum Hotel liefen, überlegte Takeru ständig, ob er nicht Uwanari darauf ansprechen sollte, wo ihr Vater war. Jedoch war ihm einfach nicht behaglich in ihrer Nähe. Diese Frau versprühte eine eisige Kälte, die ihn davon abhielt, sie anzusprechen. Alayna bemerkte dies und ging nah neben ihm und lächelte ihn an. Aber das beruhigte ihn keineswegs. Warum musste er es akzeptieren, dass die Erwachsenen so über die Situation entschieden? Warum akzeptierte Alayna das, wo sie doch wusste, dass sie der Antwort ganz nah waren? Irgendetwas fühlte sich unfassbar merkwürdig an dieser Situation an.

Kurz darauf führte Uwanari sie in das Hotel und ein Page eilte sofort zu ihr, als sie das Gebäude betrat. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr und deutete mit den Fingern auf die Freunde. Dann verabschiedete sie sich mit einem Nicken und überließ es dem Pagen, die Freunde auf ihr Zimmer zu führen. Das Zimmer bestand aus einem großen Gemeinschaftsraum mit einer kleinen Küche. Zwei Türen führten jeweils zu eigenen Schlafzimmern und Bädern. Kioku und Alayna belegten gleich ein gemeinsames Zimmer, während Takeru und Eimi das andere Schlafzimmer bekamen.
Während die anderen die Zimmer inspizierten, setzte sich Takeru in den Gemeinschaftsraum auf das Sofa und fuhr sich frustriert durch sein Haar. Dabei lehnte er sich nach hinten, lag mit seinem Kopf auf der Stütze des Sofas und betrachtete die Decke des Zimmers. Zu warten, bedeutete für ihn Bewegungslosigkeit. Diese Bewegungslosigkeit machte ihn unruhig. Er spürte den rauen Bezug des Sofas an seinen Händen. Sein Ellbogen zwickte ihn und dann spürte er eine erstickende Schwere in seiner Brust. Immer wieder wiederholten sich die Gedanken, dass er seinem Vater schon sehr nah war, er dennoch noch nicht gefunden wurde.
„Möchtest du auch etwas trinken?“, fragte ihn Eimi plötzlich, der aus dem Schlafzimmer wieder zurück in den Gemeinschaftsraum trat. Er ging schnurstracks zur Küchenzeile und füllte zwei Gläser mit Wasser. Dann setzte er sich zu Takeru aufs Sofa und drückte ihm ein Glas in die Hand. Takeru nahm das Glas und trank davon, ohne etwas zu sagen. Irgendwie war er für einen Moment froh darüber, dass ihn Eimi unterbrochen hatte.
„Ich frage mich, ob wir Sayoko, Tsuru und Pecos noch einmal sehen“, sprach Eimi und stellte sein Glas auf einen kleinen Tisch, der vor dem Sofa stand.
„Eimi, findest du nicht merkwürdig, wie Matra reagiert hat?“, wunderte sich Takeru und lenkte somit vom Thema ab. Das war das einzige Thema, das ihn gerade beschäftigte.
„Nun ja, mich wundert es mittlerweile gar nicht mehr, wie die Freunde eures Vaters so sind. Mich verwundert es nur, wie viel die Vastus Antishal mit allen zu tun haben. Dafür, dass es doch die Schutztruppe gibt, haben die sehr oft ihre Finger irgendwo mit im Spiel.“
„Irgendwas muss dahinterstecken“, vermutete Takeru und nahm noch einmal einen kräftigen Schluck seines Wassers. „Eimi, es wäre doch jetzt kein Problem gewesen, dass sie uns verrät, was es mit dieser Sache mit meinem Vater auf sich hat, richtig?“
„Ja“, bestätigte Eimi, hatte aber trotzdem einen besorgten Gesichtsausdruck. „Leider hat Matra recht damit, dass die Verhandlung wirklich wichtig ist. Die Informationen, die uns Toni gegeben hat, sind wertvoll. Wenn sie mehr aus ihm herausbekommen, dann kann die Schutztruppe vielleicht diesen Krieg, von dem Toni gesprochen hat, verhindern. Damit können wir den ganzen Kontinent beschützen. Tak, warum reicht es dir nicht, das etwas später zu erfahren?“
Schockiert sah Takeru seinen Freund an, stand auf und ging in das Schlafzimmer. Dass Eimi ihm diese Frage gestellt hatte und dass er es nicht nachvollziehen konnte, machte Takeru wütend. Wie viele Wochen schon musste er darauf warten, ein Anzeichen des Aufenthaltsortes seines Vaters zu finden? Wie lange schon suchte er nach ihm und wollte ihn wieder nach Hause holen? Es fühlte sich für Takeru an wie eine Ewigkeit. Kopfschmerzen vernebelten seine Gedanken, als er sich auf das Bett schmiss. Er wusste zwar, dass Eimi eigentlich auf seiner Seite war, jedoch waren diese Gefühle, die sich im Moment in ihm breitmachten, so schlecht, dass er sich nicht auf das Vertrauen zu seinem Freund konzentrieren konnte.

Kioku kam mit Alayna zurück in den Gemeinschaftsraum und zusammen setzten sie sich auf die Sofas, die um den kleinen Tisch darum herumstanden.
„Die Dusche tat jetzt richtig gut“, sagte Alayna entspannt und trocknete ihr Haar mit einem kleinen Handtuch.
„Das stimmt“, stellte Kioku fest. Dann wandte sie sich zu Eimi und fragte, wo Takeru war.
„Er hat sich gerade ziemlich wütend in Richtung Schlafzimmer bewegt“, erklärte Eimi und sah besorgt auf die geschlossene Schlafzimmertür, auf die er deutete.
„Was ist passiert?“, wunderte sich Alayna. „Es geht sicher darum, dass Matra ihm nichts gesagt hat, richtig?“
Eimi nickte bestätigend. „Ich verstehe ja, dass ihr schon so lange nach eurem Vater sucht und dass diese Information gerade alles bedeutet. Aber die Verhandlung ist wirklich unfassbar wichtig. Ich kann Matras Reaktion verstehen.“
„Ich auch“, gestand Alayna murmelnd.
Kioku sah sich ihre beiden Freunde an und war erleichtert, dass sie das Zwinkern, das Anon Matra geschenkt hatte, niemandem außer ihr aufgefallen war. Sie fragte sich, was Anons Plan war. Mittlerweile waren sie in Jiro-Khale angekommen und er hatte ihr immer noch nicht sagen können, wie sie die Situation mit Takeru lösen konnten. Irgendeine Information muss es doch über seinen Vater geben, sodass Takeru beruhigt sein konnte. Oder war das etwas, über was Anon in der Verhandlung mit Senatorin Sayoko sprechen wollte? So unsicher sich Kioku darüber war, wusste sie jedoch eines genau. Irgendetwas musste passieren.
„Vielleicht sollte ich Anon noch einmal aufsuchen“, schlug Kioku vor. „Vielleicht kann ich ihn ja doch darum bitten, eine Antwort über die Situation eures Vaters aus Matra hervorzulocken.“
„Gar keine schlechte Idee“, stimmte Eimi mit ein. „Aber das bedeutet, dass du ihn während der Verhandlung stören möchtest?“
„Vielleicht kann ich ihn ja noch erwischen, bevor sie anfängt. Meinst du nicht?“, schlug Kioku vor und hatte wirklich die Hoffnung, dass sie ein gutes Timing hatte.
„Du kannst aber nicht alleine gehen“, warf Alayna ganz schnell ein. „Ich sollte dich begleiten.“
„Oh, das ist nicht nötig“, erwiderte Kioku nervös. Alayna durfte auf keinen Fall mitbekommen, dass diese ganze Geschichte mit Matra und dem Hinweis eigentlich gar nicht echt war. Sie brauchte eine Chance, alleine mit Anon zu reden. „Ruh du dich doch ruhig aus, du wirkst sehr müde.“
„Ja, da hat sie recht“, stimmte Eimi glücklicherweise mit ein. „Du siehst nicht gerade fit aus. Außerdem kann ich Kioku begleiten. Vielleicht treffe ich auch auf Senatorin Sayoko und kann sie ebenfalls darum bitten, uns zu helfen, ohne dass das irgendwelche negativen Einwirkungen auf die Verhandlung hat. Falls Tsuru auch dabei sein sollte, werde ich auch mit ihr sprechen. Ich habe das Gefühl, dass wir uns gut verstehen. Das könnte ein Vorteil sein.“
Gespannt sah Kioku in die Runde. Wenn Eimi dann nach Sayoko und Tsuru suchte, konnte sie sicherlich für einen Moment mit Anon alleine reden und herausfinden, was eigentlich der Plan war, ohne dass er es mitbekam. Das war eine gute Chance! Alayna ließ sie sicherlich nicht alleine. Sowieso hatte Kioku in letzter Zeit das Gefühl, dass Alayna keine Sekunde von ihrer Seite wich. Jetzt musste sie nur abwarten, ob Alayna auf diesen Vorschlag einging.
„Na gut“, sagte sie und erleichterte somit Kioku. „Dann kann ich bei Tak bleiben, das ist vielleicht gar nicht schlecht. Eimi, wenn du an Kiokus Seite bleibst, wäre das keine Sache für mich.“
Was Alayna damit meinte, war für Kioku ein Rätsel. Aber sie war sich sicher, dass das etwas damit zu tun hatte, dass Alayna sie nicht alleine ließ. Jedoch war es ihr tatsächlich wichtiger, sich erst einmal um die Sache mit Anon zu kümmern.
„Sollen wir uns gleich aufmachen?“, fragte sie Eimi. Je schneller sie eine Antwort von Anon bekam, desto besser war es für die Situation und desto besser konnte sie Takeru helfen.
Eimi trank sein Wasser aus und stand auf. „Dann lass uns sie suchen gehen.“
Die beiden Freunde verließen das Hotel und machten sich auf den Weg zur Verhandlung.


Kapitel 48 – Der Sandsturm

Im selben Augenblick, als sich die Tür hinter Kioku schloss, bereute Alayna schon, dass sie zugestimmt hatte, nicht mitzukommen. Sie umschlang eines der großen Kissen, das sich neben ihr auf dem Sofa befand und atmete einmal tief durch. Sie hatte Kioku in letzter Zeit für jede Sekunde im Auge behalten. Selbst als sie geschlafen hatten, war sie noch eine Weile länger wachgeblieben, aus Angst, dass Kioku einen Anfall oder ähnliches erleiden könnte. Sie machte sich wahrhaftig Sorgen darüber, dass sie wieder zu Aoko werden könnte. Jetzt jedoch, als Eimi ihr angeboten hatte, Kioku zu begleiten, um Anon aufzusuchen, sah sie es als Chance, einmal ihre wachsamen Augen zu entspannen.
Aber irgendwie fühlte sich das nicht gut an, etwas so für sich einzufordern. Alayna hatte zwar nie gesagt, dass sie eine Pause brauchte, sondern hatte sie sich jetzt einfach genommen, jedoch fühlte sich daran irgendetwas komisch an.
Als sie so auf dem Sofa saß, das Kissen immer noch umschlungen und überlegend, Kioku nicht doch nachzugehen, gingen ihr noch mehr Gedanken durch den Kopf. Es wäre sicherlich ein Problem, wenn Kioku zu Aoko werden würde, während sie mit Eimi alleine war. Bisher hatte Alayna ihm noch nichts über die Situation erzählt, was zwar nicht wie lügen war, sich aber definitiv so anfühlte. Sie hoffte darauf, dass Sie schnell genug Anon finden würden, damit er für Kioku da sein konnte. Außerdem spürte sie in diesem Moment, wie sehr sie sich verändert hatte. Die Alayna, die gerade ihre Freunde alleine losgeschickt hatte, damit sie eine kleine Pause von all den Dingen nehmen konnte, die am geschehen waren, war eine andere, als die, die vor all den Ereignissen zu Hause vor sich hingelebt hatte. Die alte Alayna hatte nämlich kein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie sich einfach eine Auszeit genommen hatte. Sie hatte sich in ihr Zimmer eingesperrt, sich auf ihr Bett geschmissen und die Musik aufgedreht. Sie hatte alte Familienfotos durchstöbert, um sich abzulenken, hatte sich die Fingernägel lackiert oder einfach nur dagelegen und so lange die Decke ihres Zimmers angestarrt, bis all die schlechten Gefühle verschwunden waren. Die alte Alayna hatte ihre Freunde getroffen, um sich mit ihnen auszutauschen und alles zu besprechen, was sie so empfand. Doch als sie so an die Mädchen dachte, die sie ihre Freunde nannte, merkte sie auch, dass Freundschaft mehr sein musste, als jene die sie zu Hause zurückgelassen hatte. Freundschaft bedeutete nicht, sich einmal in der Woche irgendwo in der Stadt zu treffen, um über irgendwelche Klassenkameraden zu lästern. Freundschaft bedeutete, für jemanden da zu sein, egal was passierte. Da realisierte sie, dass ihre sogenannten Freunde ihr nie wirklich beigestanden hatten, wenn es ihr richtig schlecht gegangen war. Sie hatten ihr auch niemals Ratschläge gegeben, die etwas geholfen hätten. Im Endeffekt war alles, was sie früher für eine wahre Freundschaft gehalten hatte, nur sehr oberflächlich gewesen. Gehörte das zum Erwachsenwerden dazu? Zu verstehen, wenn Freunde doch keine waren? Wenn ja, wie hielten dann alle anderen Erwachsenen diesen Schmerz aus?
Ein Geräusch aus Takerus Zimmer holte sie für einen Moment wieder aus ihren Gedanken. Sie merkte, dass sie sich wieder im Hier und Jetzt befand und erkannte, was gerade wirklich wehtat. Kioku alleine zu lassen, war eine Entscheidung, die ihr gerade Schmerz bereitete, denn Kioku war diejenige, die Alayna niemals allein lassen würde, da war sie sich sicher. Also wieso sollte sie Kioku nun hängen lassen? Sie musste aufstehen und ihr hinterhergehen! Dann hatte sie auch gleich die Chance, mit Anon einen Schlachtplan festzulegen, wie sie mit Kioku und Aoko in Zukunft umgehen sollten. Es war keine Zeit für eine Pause! Sie schubste das Kissen beiseite, das über die Kante des hellbraunen Stoffsofas auf den Boden kullerte und erst dann zum Stillstand kam, als es gegen den kleinen Holztisch vor dem Sofa stieß. Schnurstracks ging sie auf Takerus Zimmer zu und wollte gerade die Tür öffnen, als diese schlagartig aufgerissen wurde und Alayna glücklicherweise gerade noch so ihre Hand davon wegziehen konnte. Takeru kam herausgestürmt und quetschte sich an ihr vorbei.
„Hey, was soll das!?“, brüllte sie ihn an und merkte nicht, dass für einen Augenblick die alte Alayna wieder zum Vorschein kam, die ihren kleinen Bruder immer so angebrüllt hatte. „Kannst du nicht aufpassen!?“
Dann sah sie zu, wie ihr kleiner Bruder sie ignorierte, während er ins Badezimmer stürzte und einen großen Schluck Wasser zu sich nahm und sich etwas davon ins Gesicht spritzte. Daraufhin zog er sich seine Jacke an und hielt dabei etwas in der Hand, das sie erst auf den zweiten Blick als den Kompass erkannte. Als er aus dem Badezimmer zurückkam und Alayna immer noch nicht wusste, was das gerade sollte, blieb er vor ihr abrupt stehen und präsentierte ihr den Kompass, indem er ihr diesen viel zu nah vor das Gesicht hielt.
„Schau!“, sagte er freudestrahlend und Alayna wusste erst nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Ihr Bruder war plötzlich außer sich vor Freude.
„Alayna, er reagiert! Sieh doch nur hin!“, forderte er von ihr und nahm den Kompass wieder mehr zu sich. „Die Zeiger können sich eigentlich gar nicht bewegen, aber hier, er schlägt aus, siehst du?“
Alayna erkannte, dass die Zeiger des Kompasses wirklich leicht hin und her zitterten. Dann schlug Takeru theatralisch die Hände über den Kopf zusammen und lief auf der Stelle hin und her.
„Er möchte uns etwas zeigen, Alayna. Es könnte ein Hinweis auf Papa sein! Wenn Matra hier wohl schon etwas gesehen hat, dann kann es sehr gut sein, dass es mit Papa zu tun hat!“, erklärte er und sprach dabei ganz schnell. Dann schlüpfte er in seine Schuhe und wandte sich an die Ausgangstür, als Alayna ihn am Kragen seiner Jacke festhielt.
„Halt, halt!“, forderte sie von ihm ein. „Was denkst du, was du tust?“
„Ich werde Papa suchen gehen!“, erklärte er und deutete noch einmal auf den Kompass, wie als wenn seine Schwester seine Erklärungen gerade nicht verstanden hätte.
„Aber das wirst du nicht alleine!“, mahnte sie ihren Bruder. Hatte er aus den Geschehnissen der letzten Zeit nichts gelernt?
„Dann komm mit“, sagte er ganz locker und fügte in einem ernsten Ton hinzu: „Oder willst du Papa nicht finden?“
„Natürlich will ich ihn finden. Aber …“
„Aber was?“
„Ich habe mich gerade dazu entschieden, Kioku und Eimi zu folgen.“
„Wo sind die beiden denn?“, hakte er neugierig nach und sah sich suchend nach den beiden um.
„Sie sind Anon suchen gegangen, um ihn zu überzeugen, doch noch Informationen von Matra zu bekommen, noch bevor die Verhandlung beginnt.“
Dann hielt Takeru einen Moment inne, bevor er wieder sprach. „Aber warum haben die beiden das nicht gleich machen wollen, als ich Matra angesprochen habe?“
Darauf wusste Alayna keine Antwort. Sie konnte auch nicht einschätzen, wie ihr Bruder darüber dachte in diesem Moment. Dann wandte sich Takeru zum Gehen.
„Warte!“, forderte Alayna. „Ich werde dich nicht alleine gehen lassen.“
Warum musste er ausgerechnet jetzt dem Kompass hinterherjagen, wo sie doch zu Kioku wollte? Takeru sah sie ernst an und sie spürte, dass sie ihn wohl nicht überzeugen konnte.
„Wenn sie Informationen von Matra bekommen sollten und wir währenddessen ebenfalls eine Spur entdecken, haben wir doppelt so große Chancen, Papa zu finden“, erklärte er und es leuchtete Alayna irgendwie ein. Als sie noch versuchte, ihre Prioritäten zu sortieren und dazwischen zu entscheiden, ob sie Kioku beschützen, Takeru nicht allein lassen oder ihren Papa finden sollte, öffnete Takeru schon längst die Tür und stand zur Hälfte im Gang. Es stand zwei zu eins für ihren Bruder und sie musste wohl die Gedanken, die sie gerade noch hatte, schlucken und Vertrauen darin haben, dass Aoko sich nicht blicken lassen würde. Also schlüpfte sie auch in ihre Schuhe, nahm ihre Jacke mit und folgte Takeru.

Der Weg führte sie hinaus auf den großen Vorplatz. Da der Kompass keine Himmelsrichtungen kannte und Alayna gerade nicht einschätzen konnte, wo Norden und Süden war, war sie für einen Moment verwirrt. Die Kompassnadel zitterte aber in die Richtung des Tempels und als sie ihm näherkamen, erklärte Takeru, dass die Nadel etwas links neben den Tempel zeigte. Sie gingen also auf den Tempel zu und erkannten, dass dahinter keine Treppe vom Plateau hinunterführte, sondern hohe Mauern diesen von der Seite aus schützten, die vom Vorplatz aus nicht sichtbar waren. Also mussten sie zwangsläufig wieder zurückgehen und die große Treppe nehmen, von der sie gekommen waren. Die große Treppe wieder hinunter zu steigen, nervte Alayna. Aber es blieb ihr keine Wahl, wenn sie ihren Bruder nicht allein lassen wollte.
Takeru eilte mit ihr dann also wieder um das große Plateau herum, in einer Geschwindigkeit, die sie anstrengte. Immer wieder forderte sie von ihrem kleinen Bruder, dass er etwas langsamer laufen sollte. Aber Takeru konnte sich einfach nicht zurückhalten. Als sie um das Plateau herumgingen, erkannte Alayna einen Wohnbereich, die sich neben einem Feld befanden, auf dem Pflanzen angebaut wurden. Die Wohnhäuser in der Siedlung bestand aus kleinen Lehmhäusern, die eng aneinandergebaut wurden. Sie sah die Bewohner der Stadt, die durch die Gassen gingen, sie sah spielende Kinder und auch einmal einen relativ großen und schlanken Hund. Die Wärme der Luft und die Geschwindigkeit ihres Bruders ermüdeten Alayna schnell. Sie hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen und war deswegen erschöpft. Als sie dann aber nach der letzten Ecke der Siedlung in den Bereich kamen, der hinter dem Tempel lag, waren die Geschwister für einen Moment erstaunt.
Vor ihnen breitete sich eine riesige Oase aus, umzäunt und umringt von etlichen Bäumen und Palmen und in deren Mitte ein riesiger See, der in einem glänzenden Blau strahlte. Dahinter erkannten beide, dass sich die Stadtmauer befinden musste. Aber vielleicht lag dort auch mehr.
„Es sieht so aus, als würde der Kompass hinter den See zeigen. Laufen wir darum herum?“, hakte Takeru nach, der für einen Moment überlegen musste, wie es weiterging.
„Dort ist nichts, außer die Stadtmauer“, erklärte ein Stadtbewohner den beiden, der gerade mit einem Korb voller Früchte an ihnen vorbeiging und zufällig Takerus Worte mithörte.
„Da ist nichts anderes?“, fragte Takeru höflich nach.
Der Passant hielt für einen Moment inne. Der Mann hatte so dunkle Haut wie Matra und einige graue Haarsträhnen. „Wenn ihr ein Boot nehmt, stößt ihr direkt auf die Mauer. Dort ist nichts.“
„Dann muss es hinter der Mauer sein“, vermutete Takeru, als er sich zu seiner Schwester wandte. Alayna sah neugierig in die Ferne und befürchtete zu wissen, was dies zu bedeuten hatte.
„Was ist hinter der Mauer?“, fragte Takeru erneut.
„Dort fängt die Wüste an. Die Ausläufer der Gebirge sind zwar im Westen dort und im Nordosten dort zu sehen, aber die Wüste beginnt dort direkt“, erklärte der alte Mann und deutete mit seinen Fingern auf die Gebirgsspitzen, die man von hier aus nicht so gut erkennen konnte. „Die Mauer wurde unter anderem deswegen gebaut, um uns vor Sandstürmen zu beschützen.“
„Wie kommen wir dort hin?“, wollte Takeru jetzt wissen und Alayna legte eine Hand auf seine Schulter und sah ihn mit einem Blick an, der fragte, ob er das wirklich tun wollte. Takeru antwortete mit einem Blick, von dem Alayna wusste, dass nichts auf der Welt ihn davon abhalten könnte, nun dorthin zu gehen.
„Ihr müsstet die Stadt durch das westliche Tor verlassen und dann nach Norden laufen. Aber das ist keine gute Idee. Ihr seid Fremde, ihr kennt euch hier nicht aus“, erklärte der Mann und klang auf einmal sehr streng.
Jedoch ignorierte Takeru seine Warnung, rief ihm ein „Danke“ hinterher und lief schon los.
„Was tust du da!?“, forderte Alayna lautstark zu wissen. Mittlerweile hatten sie sich schon von den Personen der Siedlung entfernt.
„Ich gehe los und Suche nach Hinweisen“, entgegnete Takeru in einem genervten Ton. Seine Schwester hatte jedoch eher das Gefühl, dass er sie lieber ignorieren wollte.
„Wir können das nicht, das ist eine Wüste!“, widersprach sie ihrem Bruder. „Wir haben kein Wasser und keine Ausrüstung, die dafür geeignet wäre.“
„Wir schauen doch nur kurz“, meinte Takeru und lief nun etwas schneller. „Zur Not können wir uns ja irgendetwas überlegen.“
Irgendetwas? Drehte ihr Bruder nun etwa durch?
„Es ist viel zu heiß! Wir müssen Kioku und Eimi bescheid geben und außerdem können wir das doch nicht alleine machen!“, versuchte sie ihren kleinen Bruder zu überreden.
Wie oft hatte sie in den letzten Wochen mit ihrem Bruder schon gestritten und wie oft hatte nichts, was sie gesagt hatte, etwas bewirkt. Das und die Tatsache, dass ihr Bruder mit Eimi schon einmal alleine loszog, gingen ihr gerade durch den Kopf und wie es schien, ihrem Bruder auch. Sie wusste nicht, was in seinem Kopf vor sich ging, aber als er sich für einen Moment zu ihr wandte und ihr tief in die Augen blickte, mit diesem Ausdruck, der ihr das Gefühl gab, dass gar nichts auf der Welt ihren Bruder von etwas anderem überzeugen konnte, sagte er einfach gar nichts. Aber wieso tat er das nun? Sonst sprachen sie immer über alles oder diskutieren es aus, jedoch blieb er jetzt einfach nur still. Es schien, als würde er wissen, dass wenn er nun etwas sagte, Alayna darauf reagieren konnte. Das war zumindest das, was Alayna sich einbildete, als ihr Bruder wieder in Richtung des Stadttores ging. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Ehe sich Alayna versah, durchschritten sie das westliche Tor noch bevor die Einwohner, die sich in der Nähe des Tores befanden, sie aufhalten konnten. Außerhalb der Stadtmauer traf die Hitze die beiden wie eine Wand. Hier draußen befand sich nichts, was die Sonnenstrahlen etwas abschirmte oder sogar Schatten spendete. Alayna lehnte sich kurz an die Stadtmauer und bereute es, die heiße Oberfläche berührt zu haben. Jedoch hielt sie sich nah an der Mauer, als ob diese Alayna vor irgendetwas beschützen könnte. Takeru war hier etwas langsamer. Es war schwieriger, über den sandigen Boden zu laufen.
„Das ist so eine dumme Idee, Tak!“, beschwerte sich Alayna, die ihre Jacke auszog und über ihren Kopf hielt, um sich vor der Sonne zu schützen. Unter ihrer Jacke jedoch, änderte sich nichts an der Temperatur, die so trocken heiß war, dass sie nicht einmal mehr schwitzen konnte. Dafür, dass es Frühling war, erschrak Alayna, wie heiß die Wüste schon sein konnte. Ihre Gedanken über die Hitze wurden aber schnell von den Sorgen über ihre Situation überschattet.
„Alayna, die Kompassnadel zittert immer mehr! Wir sind hier auf einer guten Spur!“, jubelte Tak, dem die Sonne nichts auszumachen schien.
Diese unfassbare Zielstrebigkeit, die Takeru manchmal hatte, nervte sie immer wieder. Warum hatte sie sich darauf eingelassen, ihn bis hierher kommen zu lassen? Warum konnte sie sich nicht durchsetzen? Zu Hause war das nie ein Problem gewesen und sie hatte ihren Willen immer über seinen hinweg durchsetzen können. Aber was steckte dahinter, dass er sie dazu brachte, mitzukommen? Wenn sie ehrlich zu sich selber war, musste sie sich eingestehen, dass es nicht darum ging, ihn nicht alleine zu lassen. Was, wenn er doch Recht hatte? Was, wenn sich ihr Vater wirklich hier irgendwo aufhielt und sie ihn endlich finden würden?
Nach einer Weile kamen die beiden an den nördlichsten Punkt der Stadtmauer an und Takeru hielt für einen Moment inne. Alayna begrüßte es, dass er eine Pause machte, denn diese trockene Hitze strengte sie an. Auf ihrer linken und rechten Seite sahen sie, wie der Sand langsam anstieg und zu den Ausläufern zweier Gebirge wurde. Dazwischen erstreckte sie eine Weite, die nur mit Sand gefüllt zu sein schien. Der Kompass deutete in diese Leere.
„Tak, warte“, bat Alayna und zum ersten Mal schien er ihr wirklich zuzuhören. Sie sah Sorge in seinem Gesicht. „Wir können nicht einfach in die Wüste spazieren. Was, wenn wir nicht mehr zurückfinden?“
„Wohin zurückfinden? Nach Hause? Wir werden ohne Papa niemals wieder nach Hause zurückkehren können. Ohne Papa gibt es kein Zuhause mehr für mich“, sagte Takeru.
„Ich habe Angst, Tak! Wenn wir in der Wüste verloren gehen, werden wir Papa nie wieder finden! Ohne die richtige Vorbereitung halten wir das nicht lange aus“, brüllte Alayna verzweifelt.
„Ich habe auch Angst“, entgegnete Takeru ganz ruhig. Dann ging er die ersten Schritte auf die Leere der Wüste zu. „Aber ich weiß, dass er dort irgendwo ist. Was, wenn er sich verlaufen hat? Und nicht mehr zurück zur Stadt findet? Wenn es auch nur eine geringe Chance gibt, dass ich ihn finde, werde ich es tun.“
„Du schaffst das nicht alleine!“, warf sie ihrem Bruder vor. Diese Zerrissenheit machte sie noch wahnsinnig und wütend.
„Dann komm mit“, sagte er kühl und ging einfach schnurstracks darauf los. Wenigstens erkannte Alayna, dass ihn der Kompass etwas in die Richtung des rechten Berges führte. Vielleicht bestand eine kleine Hoffnung darauf, dass sie vom Berg aus leichter zur Stadt zurückfinden würden. Also folgte sie ihrem Bruder.

Zunächst liefen beide eine Weile parallel zum Ausläufer des Berges durch die Wüste. Der Kompass schien sie auf einer geraden Linie zu führen. Alayna konnte nicht sagen, wie lang sie unterwegs waren. Die Anstrengung über den Sand zu laufen und die fehlenden Referenzpunkte zur Orientierung erschwerten es ihr, einzuschätzen wie schnell sie waren. Deswegen sah sie immer und immer wieder zurück zur Stadt, die sich nur langsam in der Ferne verkleinerte. Nachdem sie eine etwas größere Düne abwärts folgten, verschwand die Stadt auch kurz für eine Weile. Es hätten mittlerweile ein paar Minuten oder sogar ein oder zwei Stunden sein können, die sie durch die Wüste gewandert waren, bis Takeru auf einmal hielt und verwundert auf den Kompass glotzte.
„Die Nadel ist gerade gesprungen“, sagte er, wandte sich komplett zu seiner rechten Seite und sah zu dem Berg, der sich dort befand. Die felsigen Züge des Berges hatten eine geringe Steigung, waren jedoch sehr verschachtelt. „Jetzt zeigt sie dorthin und kurz davor zeigte sie aber in diese Richtung.“
Verwirrt wechselte Takeru zwischen beiden Richtungen hin und her und schien darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte. Jedoch hielt es ihn nicht lange auf, der Richtung zu folgen, in die der Kompass neu hinzeigte. Nun gingen sie auf den Berg zu und Alayna stellte glücklicherweise fest, dass der Boden unter ihnen weniger sandig und fester zu werden schien.
Takeru folgte einem kleinen Pfad, der sie auf ein flaches Plateau brachte, das etwa fünfzehn oder zwanzig Höhenmeter über dem sandigen Boden lag. Die Steigung war kaum zu spüren und Alayna beruhigte es, von dort aus, die Stadtmauer hinter einer Sanddüne wieder auszumachen. Sie waren bereits ein Stückchen von der Stadt entfernt, jedoch nicht so weit, dass sie nicht zurückfinden würden.
„Hier ist echt gar nichts“, erkannte Alayna und sah sich um. „Außer ein paar großen und ein paar kleinen Steinen ist nichts hier.“
Das Plateau erstreckte sich bestimmt ein paar hundert Meter weiter, bis es auf der Bergseite an eine schroffe Wand stieß. Takeru stand inmitten des Plateaus und starrte gebannt auf den Kompass.
„Alayna, schau mal“, bat er sie und Alayna ging zu ihm. Schon auf halbem Wege streckte er ihr den Kompass entgegen. „Der Zeiger dreht sich hier wild im Kreis.“
„Das ist merkwürdig; was heißt das?“, wunderte sie sich und sah sich noch einmal konzentriert um. „Sind wir hier schon richtig?“
„Jetzt zeigt er wieder in die eine Richtung!“, stellte Takeru fest und zeigte in die Richtung, in der die Stadt lag. Doch dann zeigte er eine Sekunde später darauf in eine komplett andere Richtung, bis der Zeiger sich wieder wie wild im Kreis drehte. „Es ist, als würde der Kompass sich nicht entscheiden können. Hier muss etwas sein! Fang an zu suchen!“
Takeru fing an, den Boden nach irgendwelchen Hinweisen abzusuchen. Jeder zweite Blick fiel auf den Kompass, der mal in eine Richtung zeigte und sich mal wieder im Kreis drehte. Alayna wusste gar nicht, auf was sie genau schauen sollte, als sie den Boden absuchte. Hier sah sie einen Käfer, der sich schnell unter einem Stein versteckte, dort sah sie vertrocknetes Gras, das dunkelbraun war. Die Farbe der Steine unterschied sich kaum vom Boden und sie wusste nicht, nach was sie genau Ausschau halten sollte. Es war ja nicht so, dass ihr Vater unter einem der Kieselsteine saß.
Der Wind war hier auf dem Plateau etwas stärker. Immer wieder wischte sie sich etwas von dem Sand aus dem Gesicht, der dorthin geweht worden war. Es nervte sie, als der Wind immer stärker wurde.
„Tak, ich weiß gar nicht, was ich hier suchen soll!“, rief sie zu ihrem Bruder, der sich auf der anderen Seite des Plateaus befand, und lief auf ihn zu. Ganz neugierig starrte er auf den Boden und untersuchte jeden Stein. Auch er musste sich wegen des aufkommenden Windes immer wieder den Sand aus dem Gesicht wischen, der an der verschwitzten Haut kleben blieb.
„Vielleicht befindet sich ja irgendwo eine Höhle“, schlug sie vor und deutete auf die schroffe Felswand.
„Das kann gut sein“, stimmte ihr Takeru zu. „Lass uns dort einmal …“
Bevor er seinen Satz beenden konnte, zog er seine Hand, in der er den Kompass hielt, vor Schmerz nah an seinen Körper und ließ ihn dabei fallen. Der metallene Korpus des Kompasses fiel auf den steinigen Boden und machte dabei ein besonders klingendes Geräusch.
„Er ist plötzlich ganz heiß geworden“, stellte Takeru fest und rieb sich seine Hand. Dann beugte er sich über den Kompass, dessen Nadel sich nun so schnell drehte, dass man sie kaum mehr wahrnahm. Ganz plötzlich sprudelten kleine Lichtstrahlen wie Wasser aus dem Kompass, bildeten kleine leuchtende Tropfen, die im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden waren. Dann schoss ein grün leuchtender Lichtstrahl aus dem Kompass hervor und die Geschwister erschraken dabei so sehr, dass sie zurücktaumelten und dabei auf ihren Allerwertesten fielen. Der Lichtstrahl schoss fast zehn Meter in die Luft, bevor er zum Halt kam und sich zu einer rechteckigen Box formte. Alayna beobachtete es zum ersten Mal, wie sich eine unsichtbare Tür aus dieser Box öffnete und etwas Dunkles daraus herausfiel.
„Nicht schon wieder!“, erkannte Takeru und seine Schwester wunderte sich, was er damit meinte.
Erst, als diese dunkle Masse näher zu Boden fiel und der Lichtstrahl aufhörte zu leuchten, erkannte sie zwei Männer, die eng umschlungen miteinander rangelten. Kurz bevor sie am Boden aufkamen, ließen sie voneinander ab. Ein Mann mit grünen Haaren schien in der Luft abzubremsen und sanft zu Boden zu schweben, nicht unweit von Alayna entfernt. Dem anderen Mann, der komplett in dunkle Klamotten gekleidet war, schienen plötzlich Flügel aus Papier zu wachsen und er bremste seinen Fall ab, indem er mit den Flügeln schlug. Es dauerte etwas, bis Alayna realisierte, dass dieser Mann Ea war, den sie schon seit den Ereignissen am Labor in Prûo nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Dann fiel ihr Blick auf ihren Bruder, der längst wieder aufgestanden war, den Kompass in die Hand nahm, der anscheinend nicht mehr heiß zu sein schien und auf die Männer zuging.
„Ea!“, rief er, um die Aufmerksamkeit der Männer zu erhaschen. „Endlich sehe ich dich wieder!“
Ea schien für einen Moment innezuhalten und jetzt erst zu realisieren, wo er sich befand. Sein Gesicht, das Blutverschmiert war, nahm ein freundliches Lächeln an. Dann packte ihn der andere Mann von hinten und warf ihn zu Boden, kniete sich auf seine Brust und hielt drohend seine Faust in die Luft, um ihm einen Schlag ins Gesicht zu verpassen; dabei umschloss seine Faust eine leuchtend grüne Box.
Alayna konnte für einige Momente gar nicht mehr verstehen, was hier gerade passierte.
„Hört auf!“, flehte Takeru und Ea schien sich wirklich keinen Millimeter mehr zu bewegen.
Der Mann mit den grünen Haaren hielt ebenfalls für einen Moment inne und sah Takeru neugierig an.
„Tak, da bist du ja endlich!“, lachte Ea und drehte seinen Kopf zu dem schwarzhaarigen Jungen. „Wie lange war ich weg?“
Doch Takeru beantwortete Eas Frage nicht, sondern wandte sich direkt zu dem anderen Mann. „Du bist Laan, richtig? Ich habe hier deinen Kompass. Hier ist er!“
Takeru streckte die Hand mit dem Kompass aus und Laan ließ tatsächlich von Ea los, versuchte, als er aufstand und zu Takeru ging, sich etwas Dreck von der Kleidung zu klopfen, was jedoch nichts brachte, weil der Wind nun stärker wurde und mehr Sand aufwirbelte.
„Bitte, bitte hilf mir, meinen Vater zu finden“, bat Takeru, als er Laan den Kompass überreichte. Alayna fragte sich, ob das der Kerl war, mit dem Ea verschwunden war, so wie es Eimi erzählt hatte. Laan blieb ganz ruhig und bewegte den Kompass etwas, um ihn näher zu betrachten. Dabei fuhren seine Finger vorsichtig über den metallenen Körper. Alayna nutzte die Zeit, sich Laan genau anzusehen. Sein grüner Pony fiel ihm links und rechts über die Stirn. In seinen tiefgrünen Augen befand sich ein violetter Streifen. Ein horizontaler violetter Streifen ging ihm als Tattoo über Wangen und Nase, zwei vertikale Streifen von den Wangenknochen zum Kinn. Er trug ein ärmelloses Oberteil, das seine großen Armmuskeln betonte. Außerdem trug er einen kurzen Rock über einer dunklen Stoffhose. Auffällig war außerdem, dass er einen Anhänger mit einer Feder um seinen Hals hängen hatte.
„Bin ich so lange weg gewesen?“, murmelte Laan vor sich hin, als er den Kompass weiter betrachtete und Alayna in ihren Gedanken unterbrach.
„Es sind fast viertausend Jahre“, antwortete Ea, der sich nun auch hinstellte. Der Wind war mittlerweile so stark, dass man lauter sprechen musste, um sich zu verständigen. Sand wurde aufgewirbelt und das Blau des Himmels war dadurch schon getrübt. „Es ist, wie ich gesagt habe. Du warst sehr lange weg.“
„Das, das kann nicht sein“, zweifelte Laan und wandte sich zu seinem Freund.
Er sucht sie auch“, sagte Ea und machte dabei einen unfassbar ernsten Gesichtsausdruck.
Laan ballte eine Faust um den Kompass. „Wir müssen die Gegenstände wegsperren! Er darf sie nicht kriegen“, erklärte Laan und zog den Kompass näher an sich heran, merkte jedoch einen Widerstand und drehte sich wieder um. Takeru hatte die Kette des Kompasses fest in der Hand und ließ diese nicht los.
„Hilf mir bitte, meinen Papa zu finden“, bat Takeru und Laan erwiderte den ernsten Blick Takerus. Beide schienen für einen Moment innezuhalten, bis Ea den beiden näher kam. Er legte Laan eine Hand auf die Schulter und sagte mit einer ruhigen Stimme: „Der Kleine hier sucht sie auch. Lass ihn auch suchen, wir holen uns den Kompass später.“
Laan schwieg und ließ locker. Takeru schnappte sich den Kompass wieder und schien für einen Moment nicht zu wissen, was er sagen sollte.
„Sie darf nicht in seine Hände gelangen. Wir müssen sie zuerst finden“, erklärte Ea und Laan nickte.
Jetzt hatte sich Alayna das lang genug angesehen und musste nun auch etwas sagen.
„Wen oder was sucht ihr?“, fragte sie, als sie sich zu Ea wandte.
Währenddessen hob Laan seine Hand in die Luft und es wirkte, als würde er sie dort gegen eine unsichtbare Mauer pressen. Im nächsten Moment öffnete er eine weitere unsichtbare Tür. Dahinter schien ein heller Raum zu sein, der ein leichtes grünes Leuchten emittierte.
„Wir suchen unser Licht“, sprach Ea und wandte sich zu Laan, der den Raum hinter der Tür betrat.
„Ihr könnt uns jetzt nicht allein lassen! Nicht schon wieder, Ea!“, brüllte Takeru gegen den stürmenden Wind, der immer stärker wurde.
„Mach dir keinen Kopf!“, lachte Ea. „Wir kommen wieder und holen uns den Kompass ab.“
„Ist euer Licht das Wesen, das unseren Papa entführt hat?“, wollte Alayna noch wissen, aber bevor sie eine Antwort bekam, verschwand Ea hinter der unsichtbaren Tür, die ohne einen Ton ins Schloss fiel. Takeru wollte ihn noch aufhalten, rannte auf die Stelle zu, an der gerade noch die Tür gewesen war und stieß auf keinen Widerstand, was ihn dermaßen ins Taumeln brachte, dass er hinfiel und auf seinem Gesicht landete. Anstatt aufzustehen, blieb er einfach auf dem sandigen Boden liegen.
Für einen Moment stand Alayna da und wünschte sich, dass dies alles ein schlechter Traum war. Sie hatten zwar immer noch den Kompass, aber keiner von ihnen beiden wusste, wie er funktionierte. Ea, der gerade noch hier gewesen war, war erneut verschwunden und es schien ihm egal zu sein, wie es ihr und ihrem Bruder ging. Dann hörte Alayna ein Schluchzen, was sie trotz des starken Windes nur wahrnehmen konnte, weil es ihr so unglaublich vertraut vorkam. Sie kniete sich zu ihrem Bruder und streichelte ihm vorsichtig über den Kopf.
„Steh auf, Tak“, verlangte sie von ihrem Bruder. Erst jetzt realisierte sie, dass der Wind so stark war, dass er zum Sturm wurde. Der Sand peitschte ihr ins Gesicht und den blauen Himmel konnte man kaum mehr erahnen, weil alles voller Sand war. „Wir müssen hier weg.“
„Es hat … alles … keinen Sinn“, schluchzte Takeru dumpf in den Boden. „Wir … finden Papa … nie.“
„Lass das!“, forderte sie von ihm und zog ihn an der Schulter hoch; erst ließ er es einfach zu, doch als seine Schwester ihn auf den Rücken drehte, bewegte er sich selbstständig und setzte sich auf. Sie verstand, wie sich Takeru fühlen musste, aber es war gerade einfach weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um aufzugeben.
„Wir haben keine Zeit, Trübsal zu blasen, Tak! Der Wind wird immer stärker, wenn wir nicht schnell einen Unterschlupf finden, sitzen wir inmitten eines Sandsturmes fest.“ Sie sah sich suchend um. „Gehen wir in diese Richtung, vielleicht finden wir irgendwo eine Höhle, die uns etwas Schutz liefert. Ich glaube, wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig zurück zur Stadt.“
Dann packte sie ihren Bruder am Arm und zerrte ihn einfach mit sich. Ihren anderen Arm schützend vor ihren Kopf gehoben, lief sie auf die Steinwand zu, um sich etwas vor dem peitschenden Wind zu schützen. An der Steinwand angekommen, tastete sie sich ihren Weg weiter. Takeru hatte mittlerweile eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, einfach stehen zu bleiben, also lief er ihr ohne Zögern hinterher. Er hob seine Jacke um seinen Kopf, dass ihn der Sand nicht ins Gesicht blies. Der Sturm war so stark, dass Alayna nur einige Meter weit sehen konnte. Panik machte sich in ihr breit, als ihr die ersten Gedanken durch den Kopf gingen, was mit Menschen in Sandstürmen passierte.
Sie fand einfach keine Höhle, in der sie sich verstecken konnten.
„Ich finde nichts!“, rief sie so laut, um trotz des tosenden Windes gehört zu werden. Aber als keine Reaktion darauf kam, drehte sie sich zu Tak um, der aber plötzlich nicht mehr hinter ihr war. Sie sah sich um, konnte ihn aber nicht finden, also fing sie an, so laut sie nur konnte, nach ihm zu rufen. Sie ging etwas zurück, um ihn zu finden. Tränen liefen ihr über die Wangen, an denen sofort der Sand kleben blieb.
Als sie auch jetzt nicht fündig wurde, musste sie stehenbleiben. Sie drehte sich nach links und nach rechts, sah aber weit und breit kein Anzeichen ihres Bruders. Die Angst übermannte sie und sie musste in die Hocke gehen. Weinend vergrub sie ihr Gesicht in ihren Armen. Das sollte es schon gewesen sein? Sie würde hier in diesem Sandsturm umkommen, ohne irgendetwas in ihrem Leben erreicht zu haben. Sie hatte ihren Vater nicht gefunden, ihren Bruder nicht beschützt und würde hier einfach im ewigen Sand der Wüste verschwinden. Vielleicht war es das Beste, sich einfach hinzulegen und zu warten, bis alles vorbei war. Doch gerade, als sie sich auf ihre Knie begab, um sich hinzulegen, packte sie etwas am Kragen ihrer Jacke und zog sie mit sich.
„Ich habe eine Höhle gefunden, der Kompass hat es mir gezeigt!“, schrie Takeru aus voller Lunge.
Alayna begab sich wieder auf ihre Füße und folgte ihrem Bruder. Sie konnte nicht mehr einschätzen, wo welche Richtung war und vertraute ihrem Bruder blind.
Nach einigen Metern brachte er sie zu einer Felswand und zog sie mit nach unten. Er bückte sich und verschwand unter einem Felsvorsprung. Alayna ging auf die Knie und entdeckte den Eingang einer Höhle, in die sie sich hineinquetschte. Sie musste kurz etwas den Bauch einziehen, damit sie hindurch kam. Mit den Füßen voraus tastete sie in der Luft nach dem Boden, erreichte ihn aber nicht. Takeru bemerkte das, zog einfach an ihrem Fuß und sie ließ sich fallen. Einen halben Meter fiel sie nach unten und kam sicher auf ihren Füßen auf. Durch das Loch kam mit dem Wind etwas Sand; deswegen ging sie mit Takeru einige Schritte von dem Loch weg. Da kein Licht in der Höhle schien, brauchte es etwas Zeit, bis sich Alaynas Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
„Hier sind wir erstmal sicher“, sagte Takeru zu seiner Schwester.
„Ja, erstmal“, sagte sie und versuchte sich selbst durch gleichmäßiges Atmen wieder zu beruhigen. „Was machen wir jetzt?“
„Der Kompass hat gerade reagiert, Alayna!“, erklärte Takeru begeistert. „Das hatte vielleicht gar nichts mit Laan und Ea zu tun gehabt! Vielleicht geht es doch um Papa!“
„Tak, halt, warte mal“, stoppte sie ihren Bruder und kam ihm im Dunklen etwas näher. „Das macht doch gar keinen Sinn. Hast du nicht gesehen, wie der Lichtstrahl diese merkwürdige Box beleuchtet hat?“
„Ja, habe ich gesehen. Natürlich reagiert der Kompass auf Laans Anwesenheit. Aber hast du auch gesehen, dass der Kompass vorher so ein merkwürdiges anderes Leuchten von sich gegeben hat? Das hat vielleicht auf hier unten, in der Höhle, gezeigt.“
Um es ihr zu beweisen, nahm er den Kompass wieder aus seiner Hosentasche und Alayna stellte erstaunt fest, dass der Kompass tatsächlich ganz leicht grün leuchtete, gerade so viel, dass sie die Höhle besser betrachten konnte. Die Decke war relativ tief und die Felsformationen, die den Raum dekorierten, waren spitz und scharfkantig. Dann sprudelte für einen kurzen Moment wieder Licht aus dem Kompass.
„Hier muss es noch einen weiteren Weg geben. Die Höhle hört hier sicher nicht auf, sondern geht noch weiter!“, erklärte Takeru, sah sich hoffnungsvoll um und hielt den Kompass dabei in jede Richtung. „Vielleicht hat sich Papa hier unten auch versteckt, um sich vor dem aufkommenden Sandsturm zu schützen, du weißt schon.“
Takeru lief in dem Raum etwas umher und winkte seiner Schwester dann wild zu. „Wie ich es vermutet habe, hier geht es weiter!“
„Tak, warte“, versuchte sie ihren Bruder aufzuhalten, doch da war er schon durch einen kleinen Spalt in einen neuen Gang der Höhle getreten und verschwunden. Alayna beeilte sich, ihm zu folgen.


Kapitel 49 – Die Verhandlung

In dem Moment, als Eimi und Kioku das Gebäude neben dem Tempel betraten, erkannte Eimi, dass sich dieses Gebäude vom Stil her wesentlich von den restlichen Gebäuden der Stadt unterschied und nicht aus rotem Stein gebaut worden war, sondern betoniert und weiß gestrichen war. Die Wände des Gebäudes waren zwar niedriger als im Tempel, aber dennoch hoch genug um der Person, die in das Gebäude trat, ein besonders erhabenes Gefühl zu vermitteln. Des Weiteren waren sie ebenfalls weiß gestrichen und der hellgraue Boden wies ein marmoriertes Muster auf. Schmale Säulen dekorierten einen Treppenaufgang, der zum ersten Stock führte. Eimi hätte es sich bestimmt genauer angesehen, wären da nicht die Zweifel gewesen, die ihn ablenkten. Er fragte sich, ob sie die Senatorin oder Tsuru noch vor dem Beginn der Verhandlung antreffen würden. Er und Kioku gingen hinauf und entdeckten zu deren Überraschung dort Tsuru, die gerade die letzten Bissen eines Sandwiches zu sich nahm. Sie trug wie beim letzten Treffen ihre Haare zu zwei Knoten gebunden. Außerdem hatte sie wieder eine Latzhose an und trug viel Schmuck.
„Leute, was macht ihr denn hier?“, wunderte sich die grünhaarige junge Frau, die entspannt an dem Geländer der Ebene gelehnt stand und sich gerade die Brille wieder etwas nach oben schob.
„Wir suchen Anon“, antwortete Kioku, nachdem beide von Tsuru mit einer Umarmung begrüßt worden waren. „Hat die Verhandlung schon angefangen?“
„Nein, ihr habt Glück“, grinste sie. „Aber sagt mal, wo habt ihr Tak und Alayna gelassen?“
„Die sind gerade im Hotelzimmer und ruhen sich etwas aus“, erklärte Eimi. „Tsuru, ich hätte eine Bitte an dich.“
„Was denn?“, hakte die junge Frau neugierig nach.
„Meinst du, ich kann bei der Verhandlung mit dabei sein?“, wollte Eimi wissen. Dann würde er schon erfahren, was die Senatorin und die Schutztruppe mit Toni Pungrip so vorhatten, dachte er sich.
„Ja klar, bestimmt“, sagte Tsuru und zeigte auf die Tür. „Die sitzen alle schon drin; wir warten nur noch auf Ryoma.“
„Ryoma ist auch dabei?“, hakte Eimi neugierig nach. Nach den Ereignissen im Labor und in Yofu-Shiti hatte er sicherlich viele Informationen gesammelt, die ebenfalls für die Verhandlung wichtig waren.
Tsuru stieß sich von dem Geländer ab und öffnete den beiden Freunden die Tür. Sie betraten einen Raum, der sehr groß und so hoch wie zwei Stockwerke war. In einer ovalen Form gingen Sitzbänke tribünenartig um eine große, ebenfalls ovale Tafel in der Mitte des Raumes herum. Sofort, als die drei den Raum betraten, wurden ihnen neugierige Blicke zugeworfen, was Eimi ein unbehagliches Gefühl vermittelte, als würde er etwas Verbotenes tun.
Gegenüber vom Eingang saßen ungefähr auf mittlerer Höhe Yuu und Niku, die Begleiter Ryomas und Nacho eng beieinander. Direkt neben dem Eingang drehten sich Oto und Ama Enshû neugierig zu den Freunden um und winkten ihnen freundlich zu. Unweit von dem Ehepaar auf der linken Seite saßen ebenfalls auf mittlerer Höhe die Mitglieder der Vastus Antishal zusammen. Eimi erkannte Vasanta, Shin und Lliam, sowie zwei weitere Mitglieder. Die Frau hatte kurze grüne Haare und trug eine goldene Brille. Neben ihr saß ein Mann mit langen roten Haaren, die von unregelmäßigen grauen Strähnen durchzogen waren. Die beiden Personen warfen ihnen einen sehr kühlen Blick zu. An der Tafel saß an einem Ende Toni und starrte ruhig sein Gegenüber an. Matra saß genau am anderen Ende des Tisches und schenkte Eimi und Kioku einen sehr strengen Blick. Hinter ihr auf den Sitzbänken saßen Uwanari und Aisah mit einem Stapel an Unterlagen. Beide Frauen hatten wohl immer noch die Position der Assistentin jeweils für Matra und Sayoko inne. Zur Linken Matras saßen dann Sayoko und Pecos sowie Denji. Zu ihrer Rechten saßen Arec, der Boss der Vastus Antishal und Anon, der einen nachdenklichen Blick hatte, als er Kioku ansah.
„Ist das eine öffentliche Verhandlung?“, fragte Eimi neugierig im Flüsterton.
„Nein, eigentlich nicht“, entgegnete Tsuru. „Aber wie du siehst, begrenzt sich die Personenzahl auf diejenigen, die den Leitern der Verhandlung assistieren.“
Eimi wusste, dass Niku und Yuu die Begleiter Ryomas waren. Dass die Vastus Antishal wohl vollkommen anwesend waren, wunderte Eimi ebenfalls nicht. Er war sich nur nicht so ganz sicher, was Oto, Ama und Tsuru selbst hier taten. Aber er war sicher, dass sich ihm diese Frage bald erklären würde.
Tsuru entschied sich, mit den Freunden ganz oben auf den Sitzbänken direkt hinter Toni Platz zu nehmen, da sie von dort die beste Übersicht über alles hatten. Außerdem saß dort schon Kûosa und winkte dem Trio aufgeregt zu. Nur einen Moment danach ging die Tür wieder auf und Ryoma trat in den Raum, warf einen Blick in die Runde, nickte bestätigend den anderen zu, bevor er Eimi und Kioku sah. Daraufhin ging er kopfschüttelnd die Treppen hinunter und setzte sich zwischen Denji und Toni an die große Tafel. Sayoko stand auf und eröffnete die Runde.
„Gut, dass wir uns alle hier eingefunden haben. Herzlichen Dank an Matra, uns als Gäste hier zu begrüßen. Ich, Sayoko Fusai, Senatorin von Ruterion, eröffne hiermit das Sonderverfahren gegen den Angeklagten Toni Pungrip. Anwesende dieser Verhandlung sind Matra Pursiuru, Oberhaupt des Bezirks Jiro-Khale, Arec Geraki, Anführer der Vastus Antishal, Pecos Guardador, Leiter der Schutztruppe, Denji Atsui, Entrepreneur sowie Anon Tedium und Ryoma Sakamoto, die als Informanten hier sind“, begrüßte sie die Anwesenden. Während sie so über die Sitzbänke schaute und jeden mit einem Nicken begrüßte, verengten sich ihre Augen, als sie in der letzten Reihe ganz oben neben Tsuru auch Eimi und Kioku entdeckte.
„Ich habe das Gefühl, wir sind nicht gerade willkommen“, flüsterte Eimi zu Kioku zu, die jedoch nichts darauf erwiderte.
Tsuru hingegen zuckte nur mit den Schultern. „Scheint so, als müsstet ihr noch etwas warten, bis ihr mit Sayoko und Anon sprechen könnt.“
Eimi beobachtete weiter die Verhandlung und war gespannt darauf, was passieren würde.
„Die Grundlagen dieser Verhandlung“, erklärte Tsuru weiter, „sind die Gesetzbücher unseres Staates. Obwohl wir Toni Pungrip an seinen Heimatstaat Nordlucdia ausliefern könnten, setzen hier die Regelungen unserer Anti-Terror-Gesetze und den Sondersicherheitsvereinbarungen ein und aufgrund dieser besonderen Situation findet die Verhandlung Toni Pungrips hier statt. Der Umfang und die Menge der Straftaten, die allein auf diesem Kontinent begangen wurden, reichen für eine lange Haftstrafe. Entführung und Bedrohung politischer Persönlichkeiten und Unternehmer sind nur ein kleiner Anteil der Dinge, die über den Angeklagten herausgefunden worden sind.“
Sayoko ließ sich von ihrer Assistentin Aisah einen dicken Ordner geben und knallte ihn vor sich auf den Tisch. Dann setzte sie sich und legte ihre Hand auf den geschlossenen Ordner. „Nun eine kurze Statement-Runde der Anwesenden, um einen Überblick über die Situation zu erlangen. Bitte.“
Nacheinander stand jeder kurz auf und obwohl die Runde von Personen geleitet wurde, die sich persönlich gut kannten, lief der Anfang der Verhandlung trotzdem sehr förmlich ab. Matra begann.
„Als Oberhaupt des Bezirks Jiro-Khale ist es mir mitunter ein persönliches Anliegen, meine Bewohner vor Verbrechern jeglicher Art zu schützen. Meine Position bringt mich jedoch dazu, zunächst eine neutrale Haltung gegenüber dem Angeklagten zu wahren. Nachdem die Gesprächsrunde zu Ende ist und der Angeklagte sich verteidigt hat, werde ich ein Urteil aufgrund der Gesetze des Landes vorschlagen.“
Eimi hätte niemals gedacht, dass eine Verhandlung so aussehen konnte. Normalerweise wurden für Gerichtsverhandlungen Richter und Anwälte benötigt, die hier jedoch gar nicht dabei waren. Wie es schien, übernahmen Sayoko und Matra die Rolle des Richters und Toni schien sich selbst verteidigen zu müssen. Eimi kannte die Gesetztestexte nicht und wusste also nicht, ob die Verhandlung hier wirklich gesetzeskonform war. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als Sayoko zu vertrauen. Als nächstes stand Pecos auf.
„Als Leiter der Schutztruppe schlage ich eine besondere Verwahrung in einer Hochsicherheitszelle auf. Die Profis in meinem Team können den Angeklagten vernehmen. Diese Verhandlung ist also meiner Meinung nach gar nicht nötig.“
Noch bevor Pecos fertig war, stand sein Gegenüber auf. Arec, der Leiter der Vastus Antishal, hatte wie immer einen sehr strengen Blick drauf und anscheinend eine ganz andere Meinung. So sehr Eimi auch dankbar für die Hilfe der Vastus Antishal im Kampf in Yofu-Shiti war, wurde er mit den Taten dieser merkwürdigen Geheimorganisation nicht warm. Wenn es Gesetze gab, dann konnte man danach handeln, dachte sich Eimi. Das, was Pecos gerade noch vorgeschlagen hatte, schien ihm nicht nur logisch, sondern auch schnell umsetzbar, eine perfekte Lösung für die Situation.
„Genug von dieser merkwürdigen Förmlichkeit hier“, forderte Arec, während er sich mit beiden Armen auf dem Tisch abstützte. „Ihr wisst ganz genau, dass er mehr Informationen für uns hat, um endlich die Antworten zu bekommen, die wir haben wollen. Er wird hier und jetzt vernommen oder die Vastus Antishal fordern, dass wir ihn persönlich vernehmen. Nachdem Ryoma uns schon mit Want Sanntach geholfen hat, wollen wir nun weiterhin mit ihm kooperieren.“
„Ich unterstütze Arecs Vorschlag, Leute“, antwortete Ryoma, ohne dabei aufzustehen. „Ihr wisst, dass nicht mehr so viele Puzzleteile fehlen. Wenn jetzt noch der Bericht von Jumon über das Tagebuch fertig ist, werden die Informationen, die uns Toni gleich ausspucken wird, wirklich helfen. Wir sind kurz davor, die großen Geheimnisse zu lüften.“
Hatten Eimi und Kioku gerade richtig gehört? Jumon hatte Informationen über das Tagebuch? Beide sahen sich verwundert an und richteten ihren Blick wieder neugierig auf die Verhandlung, in der Hoffnung, gleich mehr herauszufinden.
„Leider ist er nicht pünktlich“, warf Sayoko ein. „Ziemlich unüblich für ihn. Das bedeutet leider, dass wir uns noch etwas gedulden müssen.“
Nun meldete sich Denji zu Wort, der bisher ganz ruhig geblieben war. Er stand auf, strich sich sein Hemd glatt und wandte sich an alle in dem Raum.
„Liebe Freunde, ich als Opfer dieser letzten Schandtat Tonis möchte euch an eure Menschlichkeit erinnern. Die Taten, die er begangen hat, hatten alle einen besonderen Beweggrund. Ich setze mich hier für Toni ein und wünsche mir, dass ihr gemeinsam mit mir die Unterstützung leistet, die er und die Menschen seines Landes verdient haben. Auch wenn ein Teil seiner Handlungen gegen das Gesetz unseres Landes sind, gibt es Sachen, die wichtiger sind als das. Bitte hört euch seine Geschichte an, bevor eure persönlichen Einstellungen euer Urteilsvermögen trüben.“
„Du weißt doch gar nicht, wie groß diese Sache eigentlich ist!“, warf Arec ihm ziemlich aggressiv vor. Sayoko deutete ihm jedoch, sich zu beruhigen und übergab das Wort an Toni.
„Ich habe schon alles erklärt“, sprach Toni ruhig. Es schien, als würde er sich beim Sprechen nicht bewegen. Diese absolut ruhige Art faszinierte Eimi. In seiner Situation wäre er alles andere als ruhig. Jedoch wunderte es Eimi, warum er sich nicht verteidigte. Wusste Toni nicht, dass, wenn er diese passive Art ablegte, sich das Strafmaß zu seinen Gunsten verändern konnte?
Sayoko massierte sich die Schläfen. Sie hatte so eine Reaktion offenbar nicht erwartet.
„Ich würde Sie bitten, Ihre Worte noch einmal zu wiederholen. Was ist Ihre Geschichte? Warum haben Sie all diese schlimmen Dinge getan?“, bat Sayoko nun ganz höflich.
„Ich bin diese Reise angetreten, um mein Volk vor dem Tod zu bewahren, nicht, um aus kaltblütiger Rache weitere Leben zu nehmen“, wiederholte Toni seine Worte aus der Kutsche. „Mein Volk in Nordlucdia stirbt. Wir verhungern, das Land trocknet aus und keiner hilft uns.“
„Sayoko“, sprach Denji weiter, „es geht hier um Menschenleben. Wir müssen Toni unterstützen.“
„Mir ist diese Misere bisher unbekannt gewesen“, erklärte Sayoko und notierte sich etwas auf einem Blatt Papier. „Die Regierung Ruterions hat zwar versucht, in den letzten Jahren eine gute diplomatische Beziehung zum nordlucdianischen Kontinent aufzubauen, hatte aber bisher wenig Erfolg. Die dortige Regierung lässt auch sehr wenig Informationen nach außen gelangen, weswegen uns der Zugang zum Land und somit die Ausübung von humanitärer Hilfe verwehrt blieb.“
Es klang so, als würde Sayoko sich nun rechtfertigen, obwohl es doch an Toni lag, sich bei dieser Verhandlung zu verteidigen. Eimi fand es höchst spannend, wie sich die Konversation am Tisch entwickelte und konzentrierte sich vollends darauf. Was er nicht mitbekommen hatte, war, wie Anon für einen kurzen Moment Augenkontakt mit Kioku aufnahm und sie sich ohne zu sprechen unterhielten.
„Dieser Ruf nach Hilfe rechtfertigt jedoch nicht Tonis Taten“, wandte Pecos ein und sah dabei Arec an. „Eine Verurteilung mit Gefängnisstrafe lässt uns dennoch die Informationen bekommen, die wir benötigen. Ist doch ein Kompromiss, richtig?“
Arec stand wieder auf, diesmal aggressiver. „Du verstehst immer noch nicht, in welcher Lage wir stecken! Eure Gesetze sind viel zu langsam, um auf diese rasant wachsende Bedrohung schnell genug zu reagieren.“
„Du sagst das doch nur, weil dir etwas Persönliches im Weg steht“, entgegnete Pecos.
Eimi kam es fast so vor, als wären die zwei kleine Jungs, die sich um etwas total Unwichtiges stritten. Solche Situationen hatte er im Waisenhaus schon viel zu oft gesehen.
„Ach, deine Aktion in Prûo hatte keine persönlichen Hintergründe?“, warf Arec ihm vor und blickte dabei hinauf zu Tsuru. Die Blicke der anderen, bis auf Tonis, folgten seinem.
Eimi, der neben Tsuru saß, erkannte, wie unangenehm ihr das plötzlich wurde, aber sie versuchte ihr Bestes, dies nicht anmerken zu lassen.
„Leute, beruhigt euch wieder“, schlichtete Ryoma. „Sayoko, du weißt ganz genau, dass uns diese Situation bald komplett aus den Händen gerät, wenn wir nicht schnell handeln. Matra, auch wenn dir die Sicherheit deines Landes am Herzen liegt, lässt uns das Geschehene nur eine Möglichkeit zum Handeln offen. Oder möchtest du, dass sich die Ereignisse in Prûo und in Yofu-Shiti wiederholen?“
Matra starrte Ryoma einfach nur kühl an und sagte nichts dazu. Arec und Pecos hatten sich mittlerweile wieder hingesetzt und überließen Ryoma das Wort.
Eimi und die Freunde hatten Ryoma bisher schon ein paar Mal getroffen und immer wieder schaffte es dieser Mann, einen neuen Eindruck zu hinterlassen, der es immer schwieriger machte, ihn als Person richtig einzuschätzen. Diese Stärke und Ruhe, die er gerade ausstrahlte, fühlten sich so an, als würde sie den ganzen Raum füllen. Obwohl Sayoko und Matra die Verhandlung leiteten, schien es in Wirklichkeit so zu laufen, dass Ryoma der Anführer dieses ganzen Geschehens war. Aber was war seine genaue Position? Eimi dachte darüber nach, was Ryoma bisher mit ihnen gesprochen hatte und konnte nicht klar ausmachen, ob Ryoma eher auf der Seite der Vastus Antishal oder auf der Seite der Schutztruppe stand. Dass Ryoma mit den VA nach den Ereignissen in Yofu-Shiti Want Sanntach vernommen hatte, ließ es so aussehen, als würde er eng mit den VA zusammenarbeiten. Doch als Eimi der Kampf im Labor ins Gedächtnis kam, fiel ihm ein, dass Ryoma damals mit der Schutztruppe eng zusammengewirkt hatte. Eimi entschied sich dafür, dass Ryoma hier doch als Vermittler und Anführer auftrat, während er das Gefühl hatte, dass Matra, Sayoko und Anon sehr neutral zu dieser Situation standen. Warum hatte Anon denn bisher noch nichts gesagt? Ihn wunderte es überhaupt, dass Anon mit am Tisch saß.
„Ich möchte euch vorschlagen, Toni in meine Obhut zu übergeben. Als Wiedergutmachung sozusagen. Ich nehme ihn in mein Team auf, als Gegenleistung für die Unterstützung seines Volkes.“
Einen Moment lang blieb es ruhig und es gab keine direkte Reaktion darauf. Arec stand zwar nicht auf, teilte seine Meinung aber erregt mit. Pecos hingegen sagte nichts. Nur Denji saß da mit einem großen Grinsen und freute sich, dass jemand Toni helfen wollte.
„Zieht ihr dieses Angebot tatsächlich in Erwägung?“, wunderte sich Matra empört, nachdem sie sich in der Runde umgesehen hatte. „Wenn die Informationen stimmen, die uns Anon mitgeteilt hat, können wir nicht sichergehen, dass er uns nicht in den Rücken fällt.“
„Das wird Toni nicht tun“, warf Anon ein, der endlich auch etwas zu sagen hatte. „Toni kämpft nicht.“
„Außerdem haben wir das größere Druckmittel in der Hand“, stellte Sayoko fest und sah Denji dabei an. „Denjis Firmen und Hilfsorganisationen werden sich nur mobilisieren, wenn wir das bekommen, was wir wollen.“
„Das ist genau das, wovon ich spreche“, erklärte Ryoma noch einmal. „Wir sichern seinem Volk Hilfe zu, nachdem er mir geholfen hat, die anderen Mitglieder der Organisation zu finden.“
Obwohl Toni mit dem Rücken zu Eimi saß, bemerkte er, wie neugierig er auf dieses Angebot reagierte. Sein Kopf drehte sich nun immer zu demjenigen, der sprach.
„Also, das ist jetzt nicht wirklich das, was ich eigentlich vorhatte“, entgegnete Denji. „Das ist schon ziemlich unmenschlich, findet ihr nicht?“
„Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir die gesamte Menschheit retten können“, sagte Ryoma ernst.
Bevor wieder jemand etwas sagen konnte, übergab Sayoko das Wort an Toni, der sich bisher alles ganz ruhig angehört hatte.
„Was ist Ihre Meinung?“, fragte sie höflich.
Was bedeutete es, dass Sayoko tatsächlich auf diesen Vorschlag einging? Eimi war immer noch der Überzeugung, dass eine Verurteilung durch das Gesetz das Sinnvollste war.
„Ich bin nicht sicher, was ich davon halten soll“, flüsterte er zu Kioku, die nachdenklich antwortete.
„Du weißt jedoch, wie stark Ryoma ist. Wenn Toni wirklich eine Zusicherung für Hilfe an sein Volk erhält, was sollte ihn dazu bringen, Ryoma zu hintergehen?“
„Wir wissen doch nicht einmal, ob das, was er sagt, überhaupt stimmt. Was, wenn das alles nur eine Masche ist? Was, wenn er noch gefährlicher ist, als Want und Vaidyam zusammen?“
Doch darauf wusste Kioku keine Antwort.
„Ich habe zwei Bedingungen“, fing Toni an zu erklären. „Die erste Bedingung ist, dass mein komplettes Volk gerettet wird. Ich meine nicht nur eine Zusicherung an Nahrung, Wasser und der Möglichkeit, unser Land wieder in seinen prachtvollen Zustand zu bringen, den es einst hatte. Ich will, dass mein Volk ebenfalls von unserer Regierung befreit wird, die die Minderheiten und Randgruppen unterdrückt und uns alles nimmt, was wir besitzen.“
„Das würde bedeuten, dass wir einen Bürgerkrieg anzetteln müssen“, stellte Sayoko fest. „Das ist nicht möglich.“
„Wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird, stimme ich nicht zu.“
„Sayoko, du hast genug Beziehungen zu den Politikern auf der ganzen Welt, dass wir sicher einen Weg finden können, das zu ermöglichen“, versuchte Denji sie zu überzeugen. „Wenn es jemand hinbekommt und ermöglichen kann, dann du.“
„Das würde ein unfassbares Risiko für unsere Regierung bedeuten. Ich brauche einen Moment, um darüber nachzudenken. Bitte teilen Sie uns Ihre zweite Bedingung mit“, sagte Sayoko.
„Meine zweite Bedingung sollte etwas einfacher zu erfüllen sein. Akian Malasakit darf nichts geschehen. Meine Bedingung ist, dass er körperlich unversehrt bleibt.“
„Gehört er nicht auch eurer Organisation an?“, hakte Ryoma nach, wahrscheinlich nur, um noch einmal sicherzugehen.
„Ich weiß immer noch nicht, von welcher Organisation ihr sprecht“, verteidigte sich Toni. „Ich bin Einzelgänger.“
„Wenn sich mehrere Personen zusammentun und dann auch noch die Befehle einer höherrangigen Person annehmen, bedeutet dieses Vorgehen, dass ihr mehr oder weniger eine Form einer Organisation darstellt“, erklärte Pecos ganz nüchtern. „Wie auch immer die Teamarbeit unter euch Shal aussieht, ist eine andere Sache.“
„Want hat das beim Verhör bestätigt“, erklärte Ryoma. „Jemand gibt euch die Befehle und wir wollen wissen wer. Wer ist der neue Anführer der Shal?“
„Warum sollten wir für eine weitere Person aus dieser Organisation körperliche Unversehrtheit versprechen?“, wunderte sich Arec. „Laut den Informationen, die uns vorliegen, hat dieser Kerl wahrscheinlich noch mehr Dreck am Stecken als Toni hier.“
„Wenn ihr auf meine Bedingungen nicht eingeht, werde ich euch nicht helfen können“, entgegnete Toni, der immer noch sehr ruhig und kontrolliert sprach. „Das ist euer Problem. Ihr habt Macht, wisst sie aber nicht richtig zu nutzen. Ihr wollt die Welt retten und regieren, hört aber nicht richtig hin, wo die Probleme wirklich liegen. Ihr denkt, eure Vorstellungen von Anstand und Moral machen euch automatisch besser als andere Menschen. Wer hat euch beigebracht, über andere so zu urteilen und zu entscheiden?“
„Ich verspreche es dir“, sagte Ryoma, stand auf und ging zu Toni. Er befreite ihn von seinen Handschellen, während Toni ganz in Ruhe sitzen blieb. Dann sah er Sayoko erwartungsvoll an. Während Denji etwas verwirrt aussah, schienen Pecos und Matra erzürnt über die Geste Ryomas zu sein. Pecos stand demonstrativ auf, wurde von Sayoko jedoch mit einem Handwinken gebeten, sich wieder zu setzen und ruhig zu bleiben.
„Nun gut“, fing sie an zu sprechen, während sie sich ihre Schläfen rieb. „Obwohl ich lieber die Entscheidungsgewalt habe, erfordert diese besondere Situation ein mitwirken von allen Parteien. Ich habe schon einmal gesehen, wie wichtige Dinge scheiterten, weil falsch entschieden wurde. Mir ist ebenfalls bewusst, dass unsere Handlungen und unser zukünftiges Vorhaben das Ende der geordneten Welt verhindern kann. Eins haben wir es geschafft, dass die Welt nicht zugrunde gerichtet wurde. Nun scheint es wieder in unserer Verantwortung zu liegen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir sind sieben Personen. Lasst uns abstimmen. Die Mehrheit entscheidet. Wer sich enthält signalisiert, dass er jedwedes Vorhaben verneint und uns nicht unterstützen möchte. Egal für was entschieden wird, wir handeln gemeinsiam. Wer dafür ist, dass Toni Pungrip unter den Bedingungen, die festgelegt wurden, unter Ryomas Obhut gelangt, sodass wir uns um die großen Probleme der Welt kümmern können, hebe nun bitte die Hand.“
Denjis, Arecs und Ryomas Hände gingen, ohne zu zögern, in die Luft. Matra sowie Pecos ließen ihre Hand unten. Somit blieb es noch an Sayoko und Anon, sich zu entscheiden. Nach einem kurzen Zögern hob Anon die Hand, während Sayokos Hand unten blieb. So stand es vier zu drei dafür, dass Toni in Ryomas Team aufgenommen wurde.
„Es ist entschieden“, verkündete Sayoko und schloss die Unterlagen, die vor ihr lagen. In dieser Sekunde ging ein kurzes Gemurmel durch den Raum, das jedoch schnell unterbrochen wurde. Noch bevor einer der anderen etwas zum Ende dieser Verhandlung sagen konnte, wurde die Tür aufgestoßen und eine Person trat herein.
„Zum Glück habe ich es noch geschafft, bevor der Sandsturm über die Stadt hereinbricht“, begrüßte eine Frau mit schwarzen Haaren die Anwesenden.


Kioku erkannte sie sofort wieder. Es war Takerus und Alaynas Mutter. Sie trug eine enge, schwarze Hose und eine unauffällige, dunkle Jacke. Als sie die Kapuze von ihrem Kopf nahm, erkannte Kioku, dass Alaynas Mutter schönes, schwarz glänzendes Haar hatte, das ungefähr so lang war, wie Alaynas. Jedoch erkannte sie sofort, dass die Augen und die Gesichtszüge eher so waren wie bei Takeru.
Sie ging die Stufen hinunter und lief schnurstracks auf Ryoma zu.
„Die Verhandlung ist schon vorbei, bin ich zu spät?“, fragte sie.
Dann bekam Kioku mit, wie Ryoma ihr alles erzählte. Auch wenn Kioku selbst ein merkwürdiges Gefühl bei der Situation mit Toni hatte, war sie irgendwie froh, dass Ryoma nun auf ihn aufpasste. Das bedeutete, dass Toni Anon vielleicht helfen konnte, sich vom Fluch des Bandes zu befreien. Das weckte in ihr etwas Hoffnung, dass Anon doch nicht so schnell sterben musste. Es erleichterte ihre Sorgen immens, dennoch waren sie nicht ganz verschwunden.
Dann wurde es im Verhandlungsraum unruhig. Alle Anwesenden standen auf und diskutierten miteinander. Während Arec mit den anderen Mitgliedern der Vastus Antishal etwas besprach, wandte sich Pecos sorgenvoll an Sayoko, um sie nicht doch noch zu überzeugen, die Abstimmung nicht gelten zu lassen. Denji bedankte sich bei Matra, obwohl diese dagegen gestimmt hatte und sprach sie dann auf den Sandsturm an. Er wurde von ihr jedoch beruhigt, dass er nichts zu befürchten hätte; in der Stadt wären alle sicher.
Als Tsuru aufstand und zu Sayoko ging, blieben Eimi und Kioku noch kurz sitzen.
„Wer ist diese Frau?“, hakte Eimi neugierig nach, der Kiokus Blick gefolgt war.
„Das ist die Mutter von Tak und Alayna“, sagte Kioku ganz ruhig. „Ich habe sie schon einmal gesehen.“
„Wie, du hast sie schon einmal gesehen?“, wollte Eimi unbedingt wissen.
Kioku zögerte erst, etwas zu sagen, weil sie sich unsicher war, wie Eimi reagieren würde. Es war nicht gut, dass sie mit Anon kooperierte, um Takeru von dem verlorenen Tagebuch abzulenken, das wohl Jumon nun im Besitz hatte. Dann hatte sie ihm sogar noch verheimlicht, dass sie Sora damals in der Praxis in Yofu-Shiti gesehen hatte.
„Sag schon, Kioku, was ist passiert?“, forderte Eimi, bevor Kioku ihre Gedanken zu Ende denken konnte.
„Damals in der Praxis war sie da.“
„Nach dem Kampf in Yofu-Shiti meinst du?“, wollte Eimi mehr wissen. Seine Augen wurden größer, verloren aber nicht ihren besorgten Blick.
„Ich habe sie nur kurz gesehen und wusste zunächst nicht, wer sie ist.“
„Warum hat sie ihre Kinder nicht besucht?“, wunderte er sich und blickte hinunter, wo sie mit Ryoma stand und sprach. Mittlerweile standen Niku und Yuu neben Toni und bewachten ihn. Genau in diesem Moment blickte Ryoma hinauf zu Eimi und Kioku und die Mutter tat es ihm gleich. Sie schien die beiden sofort zu erkennen und zögerte nicht, auf sie zu zugehen. Ryoma folgte ihr mit einem strengen Gesichtsausdruck. Bevor sich jedoch alle begrüßen konnten, deutete Ryoma den Freunden, dass sie vor die Tür gehen sollten, was sie anschließend auch taten. Ryoma schloss die Tür zum Verhandlungsraum hinter sich und die vier standen nun wieder im Foyer.
Noch bevor Kioku irgendwie mit sich selber ausmachen konnte, wie sie auf diese merkwürdige Situation reagieren sollte, begann Ryoma ziemlich wütend zu reden.
„Was macht ihr hier!? Solltet ihr nicht zusammen mit Takeru und Alayna im Hotel sein?“, wollte Ryoma wissen.
„Wir wollten nur kurz mit Anon sprechen, bevor die Verhandlung beginnt“, erklärte Eimi. „Außerdem dachten wir, wir können noch mit Matra über den Vater von Tak und Alayna reden. Tsuru hat uns reingelassen.“
„Tsuru …“, murmelte Ryoma genervt und knirschte etwas mit den Zähnen. Dann sprach endlich die Mutter ihrer Freunde.
„Ihr seid Eimi und Kioku, richtig?“, versicherte sie sich und wartete kurz das bestätigende Nicken der Freunde ab. Dann umschlag sie beide in einer Umarmung, was etwas schwierig war, da sie wesentlich kleiner war als Eimi und etwas kleiner als Kioku. Die zwei mussten sich etwas bücken, damit sie richtig umarmt werden konnten. Kioku vernahm ein leichtes Schluchzen, das kaum wahrnehmbar war. „Danke. Danke, dass ihr für Tak und Alayna da wart, die ganze Zeit. Ich weiß … ich weiß gar nicht, wie ich euch ordentlich danken kann.“
„Schon gut“, sagte Kioku, als sich Sora wieder aus der Umarmung löste.
Dann wandte sich Sora zu Ryoma. „Ich habe dir alles gesagt“, meinte sie, wobei Kioku nicht genau verstand, was sie damit meinen könnte. „Ich gehe jetzt zu meinen Kindern.“
Noch bevor Kioku ihr die Fragen stellen konnte, die sie an die Mutter ihrer Freunde hatte, hatte Sora schon kehrtgemacht und verschwand aus dem Gebäude so schnell, wie sie aufgetaucht war. Eimi schien ebenfalls, wie Kioku selbst, etwas verunsichert zu sein, was das gerade sollte.
„Warum müsst ihr immer überall da sein, wo es einfach nicht passt?“, seufzte Ryoma und wirkte nicht weniger erzürnt als zuvor.
„Warum hältst du Tak und Alayna aus allem raus?“, forderte Kioku zu wissen. Diese Frage sprudelte aus ihr heraus, ohne dass sie vorher darüber nachdenken konnte. Aber sie verlangte nun, Antworten zu bekommen. Allein deswegen, weil sie wiedergutmachen wollte, dass sie Eimi einige Sachen verheimlicht hatte. „Es geht immerhin um ihren Vater! Warum hast du ihnen nie die Wahrheit darüber gesagt, was wirklich passiert?“
„Warte“, unterbrach Eimi kurz. „Hätten wir bei der Verhandlung nicht beisitzen dürfen?“
„Natürlich nicht!“, entgegnete Ryoma. „Jetzt wisst ihr, dass Anon Jumon das Tagebuch gegeben hat.“
„Anon hat was?“, wundert es Eimi.
„Ihr versteht nicht, was hier wirklich passiert!“, warf Ryoma ihnen vor.
„Dann erkläre es uns doch!“, entgegnete Kioku. Gerade wurde ihr diese Geheimniskrämerei zu viel.
„Versteht ihr nicht, dass ich mein Bestes versuche, Gintas Kinder aus allem herauszuhalten? Sie davor zu schützen, dass ihnen etwas passiert? Wenn ich meinen besten Freund schon nicht selbst finden kann, dann kann ich wenigstens dafür sorgen, dass seiner Familie nichts passiert!“, verteidigte Ryoma sich, der nun lauter wurde.
In diesem Augenblick ging die Tür auf und Anon sowie Oto kamen heraus und schienen mitbekommen zu haben, was vor sich ging. Oto blickte ihren alten Freund traurig an und nahm Ryoma in den Arm, während sich Anon zu Eimi und Kioku stellte.
„Du bist überarbeitet“, stellte Oto leise fest und legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter. „Du musst dir eine Pause gönnen.“
„Das kann ich nicht“, erwiderte Ryoma, der sich tatsächlich von seiner Freundin beruhigen ließ. „Das weißt du genau.“
„Wir alle tun unser Bestes, um Ginta zu finden. Wir schaffen das“, ermutigte sie ihn.
Eimi und auch Kioku wussten in diesem Moment gar nicht, was sie sagen sollten.
„Hört zu“, meinte Ryoma, als er sich wieder an die beiden richtete. Er rieb sich genervt seine Schläfen. „Ich weiß, dass ich euch nicht viel erzählt habe. Ihr seht hoffentlich ein, dass es nur zu eurem Schutz war.“
Kioku antwortete nicht, da sie Ryoma erst aussprechen lassen wollte. Vielleicht beantwortete er endlich all die Fragen, die die Gruppe schon seit so langer Zeit hatte. Eimi kratzte sich am Hinterkopf, er schien wirklich einzusehen, dass der Schutz von Alayna und Takeru im Vordergrund stand.
„Durch das, was hier alles passiert, seid ihr in ständiger Gefahr. Die Schutztruppe, die Vastus Antishal und ich haben es fast geschafft, die Strukturen der Shal aufzudecken. Ihr hättet diesen beiden Feinden niemals begegnen dürfen, dennoch hat das Ganze geholfen, wenigstens eine Person Dingfest zu machen. Da nun auch Toni Pungrip in unserer Hand ist, können wir den eigentlichen Drahtzieher bald finden und unser Land und auch Ginta retten. Das Einzige, was nun wirklich gar nicht geht, ist, dass ihr uns im Weg steht. Ich kann nicht die Welt retten und euch beschützen. Versteht ihr das?“
„Aber was verlangst du von uns? Das wir in einem Hotelzimmer sitzen und darauf warten, bis alles vorbei ist?“, hakte Kioku nach und dachte dabei an Takeru, der sich davon nicht abhalten lassen würde, seinen Vater zu suchen. „Das wird nicht passieren, das weißt du ganz genau.“
„Deswegen habe ich dich dazu überredet, hierher zu kommen“, warf Anon auf einmal ein. „Ich konnte dir nicht sagen, dass ich das Tagebuch an Jumon gegeben habe, das hättest du nicht akzeptiert. Ich musste euch irgendwie dazu bringen, hierherzukommen, sodass jemand von uns auf euch aufpassen kann.“
Er lehnte sich an die Tür, vor der er stand und konnte ihr für einen Augenblick gar nicht in die Augen schauen. Ihr fiel in diesem Moment auf, dass es das erste Mal war, dass er ihr nicht direkt in die Augen blickte. Das weckte einige unangenehme Gefühle in ihrer Bauchgegend.
„Hier ist es sicher. Matra kann sich so um euch kümmern, dass wir in Ruhe die Leute der Organisation finden und ausschalten können“, erklärte Anon weiter.
„Und dann? Hättet ihr Tak die ganze Stadt nach seinem Vater absuchen lassen?“, wunderte sich Kioku erzürnt. Dass Anon ihr das nun sagte, schockierte sie. Hatte er noch mehr Geheimnisse vor ihr? Natürlich war sie einverstanden gewesen, den Plan etwas hinauszuzögern. Aber das war doch alles nur dafür gewesen, Takeru etwas zu beruhigen. Hatte er ihr nicht versprochen, dass ihnen schon etwas einfallen würde? Das war nun der Plan? Takeru im Hotel einzusperren, bis alles vorbei war?
„Ich hatte vor, euch dazu zu überreden, dass ich Takeru weiter behandle“, meldete sich nun auch Oto zu Wort. Sie wirkte ganz anders auf Kioku, weil sie ihren Arztkittel nicht trug. Kioku wusste zwar, dass sie Ärztin war, jedoch hatte sie das für einen Moment vergessen, da sie Alltagskleidung trug. „Das hätte ein wenig Zeit geschunden.“
„Ich habe nun wirklich keine Zeit, mit euch das auszudiskutieren“, unterbrach Ryoma. „Wir haben wirklich Besseres zu tun. Wir haben das so entschieden und es wurde so umgesetzt. Das Einzige, was ich von euch verlange, ist, Takeru und Alayna aus der Sache einfach herauszuhalten. Meint ihr, ihr könnt das?“
„Wir unterstützen euch und lassen euch nicht alleine“, versicherte Oto mit einem Lächeln und strich eine ihrer Locken, die ihr ins Gesicht hingen, hinter ihr Ohr.
„Oto und auch Matra werden sich gut um euch kümmern“, bestätigte Anon und blickte auf den Boden.
„Was, du bleibst nicht mehr bei uns?“, entgegnete Kioku schockiert. Wenn Anon jetzt ging, dann bedeutete das, dass sie nicht erfuhr, ob er den Fluch loswerden konnte.
„Ich werde Ryoma unterstützen. Irgendjemand muss auf Toni aufpassen, während er mit Ryoma unterwegs ist. Ich habe nun schon Kampferfahrung mit ihm sammeln können“, sagte Anon zu ihr.
„Das ist eine bescheuerte Idee“, meldete sich nun auch Eimi zu Wort. Es wunderte Kioku sowieso, wieso er so lange nichts gesagt hatte. Das konnte nur bedeuten, dass er damit einverstanden war, dass Takeru und Alayna in Sicherheit bleiben sollten. Aber nach den ganzen Ereignissen, die bisher geschehen waren, war das auch kein Wunder. Dass er sich nun gegen Ryomas und Anons Idee aussprach, bewies nur, dass er wahrscheinlich der gleichen Meinung wie Pecos war und Toni lieber eingesperrt hätte. „Toni gehört ins Gefängnis, das wisst ihr ganz genau!“
Jetzt reichte es Ryoma offenbar vollkommen; er konnte seinen Zorn nicht länger unterdrücken, also ging er auf Eimi zu und baute sich drohend vor ihm auf. Kioku wollte einschreiten, sah aber, wie Eimi dies einfach zuließ. Sein Gesichtsausdruck wurde ernster und er schien darauf zu warten, was Ryoma ihm zu entgegnen hatte.
„Hör gut zu, Kleiner“, bedrohte ihn Ryoma, der wieder mit den Zähnen knirschte. „Du hast absolut keine Ahnung! Lass uns Erwachsene die Arbeit machen. Möchtest du etwas bewirken? Tritt doch der Schutztruppe bei und setz dich an einen Schreibtisch, um Straftaten zu dokumentieren. Dann wirst du sehen, dass der Schutztruppe selbst oft die Hände gebunden sind! Aber klar, spiel den Helden und tritt bei, arbeite mit Pecos und sieh zu, wie die Welt untergeht, während ihr viel zu langsam handeln könnt!“
„Jetzt reicht es aber“, meinte Anon und zerrte Ryoma von Eimi weg. „Du weißt, dass die Schutztruppe gute Arbeit leistet, Ryoma.“
Oto machte einen besorgten Gesichtsausdruck, konnte aber nichts sagen. Kioku wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Eimi hatte schon irgendwie recht, aber ihr war es lieber, wie es Ryoma und Anon machten. Aber wenn das bedeutete, dass Anon nicht mehr mit der Gruppe unterwegs war, zweifelte sie an dieser Entscheidung. Gab es einen Kompromiss? Wie sie für die Sicherheit ihrer Freunde sorgen konnte und gleichzeitig bei Anon blieb? Es schien so verzwickt, dass ihr der Kopf vor lauter Nachdenken schmerzte.
„Ganz ehrlich, warum diskutiere ich gerade überhaupt?“, wunderte sich Ryoma und wandte sich der Tür zum Verhandlungsraum zu. Er öffnete diese, als in dem Moment jemand anderes die große Eingangstür im Erdgeschoss aufriss. Kioku lehnte sich gegen die Brüstung, sah hinab und beobachtete, wie Sora wieder hineinkam. Entsetzt warf sie ihren Blick nach oben und hatte einen verängstigten Gesichtsausdruck. Ihre blauen Augen strahlten Besorgnis aus.
„Die Kinder!“, schrie sie panisch. „Die Kinder sind nicht da! Tak und Alayna sind verschwunden!“