KKZ 2 – Kapitel 22 – 28

Kapitel 22 – Vido
Kapitel 23 – Familien
Kapitel 24 – Fahrt ins Tal
Kapitel 25 – Ärger im Zug
Kapitel 26 – Wir sind die Schutztruppe
Kapitel 27 – Der Einsatz
Kapitel 28 – Das Labor


Kapitel 22 – Vido

Ein lautes Rufen unterbrach die Stille des Abends. Es war ein Rufen, welches er noch nie zuvor gehört hatte. Es war so anders; als wenn jemand Aufmerksamkeit wollte oder nach Hilfe schrie. Es war so anders und fremd, dass er in der Sekunde, in der es passierte, wusste, was damit gemeint war. Ohne Zögern brach er auf, um dem Rufen zu folgen.

Als sich Alayna am gleichen Tag, früh morgens in der Mitte der Bibliothek in den Schneidersitz setzte und Jumon sie bat, einmal in sich zu gehen, gingen ihr viele Dinge durch den Kopf. Sie musste daran denken, wie sie an Jumons Haus angekommen waren, wie sie erfuhr, was ihr Vater in der Vergangenheit getan hatte und wie Jumon sie zum Training eingeladen hatte. Er forderte sie auf, sich wie bei einer Meditation von allen Gedanken zu lösen. Alayna fiel das jedoch unglaublich schwer. Innerhalb der letzten Zeit war so viel passiert, dass diese Erinnerungen wie ein Wirbelsturm durch ihr Innerstes fegten. So sehr sie es auch versuchte, es half nichts. Sie seufzte.
„Der Schlüssel zu dir selbst“, unterbrach Jumons tiefe Stimme die Stille, „liegt in dir. Ich merke, dass du sehr angespannt bist.“
„Ja“, seufzte Alayna wieder. Sie holte einmal tief Luft, ihre Augen waren dabei immer noch geschlossen.
„Du magst es mir wahrscheinlich nicht glauben“, erklärte Jumon ruhig, „aber ich kann das gut nachempfinden, dass dein Leben gerade auf dem Kopf steht. Ich möchte gerne etwas versuchen.“
„Wie, etwas versuchen?“, fragte sie verwundert. In ihrer Bauchgegend spürte Alayna plötzlich eine merkwürdige Anspannung. Sie wusste immer noch nicht, ob das mit dem Training eine so gute Idee war. Takeru und Eimi hatten sie gestern noch einmal dazu überreden müssen. Und wer wusste schon, was nun auf sie zukam?
„Ich möchte, dass wir dich besuchen“, sagte Jumon und Alayna hörte, wie er dabei aufstand. Er stellte sich hinter Alayna und berührte sie dabei an der Schulter.
„Wie meinst du das?“
„Du wirst sehen.“
Gerade noch spürte Alayna, wie sie auf einem Teppich in der Bibliothek saß. Es roch nach alten Büchern und die Stille in dem Raum wurde nur durch leises Knistern des Kaminfeuers unterbrochen. Sie spürte diese merkwürdige Anspannung in ihr. Doch nachdem Jumon im nächsten Moment etwas Leises flüsterte, war diese Anspannung und ihre Orientierung sofort weg. Sie wusste, dass ihre Augen immer noch geschlossen waren, jedoch konnte sie plötzlich etwas erkennen. Sie stand mit Jumon in einem Raum, den sie erst auf den zweiten Blick als ihr altes Zimmer wahrnahm. In diesem sehr kindlich eingerichteten Zimmer saß sie selbst als achtjähriges Mädchen auf einem Stuhl an ihrem Schreibtisch und bastelte an etwas. Es klopfte an der Tür und ihre Eltern kamen herein. Sie sprachen zu ihrem jüngeren Selbst. Dann stand sie auf und ging hinterher.
„Papa, Mama“, hallte es in Alaynas Kopf. Sie zögerte keine Sekunde und lief der kleinen Alayna hinterher. Als sie das Zimmer verließ, stand sie plötzlich im Schnee. Sie drehte sich um und erkannte das brennende Gebäude hinter ihr. Es dauerte nicht lange, da erkannte sie, dass es ihr Zuhause war. Diesmal dachte sie sich, diesmal müsse sie hineinrennen und Mama retten. Als sie durch die Flammen rannte und im Gebäude war, befand sie sich plötzlich im Arbeitszimmer ihres Vaters. Er saß an seinem Schreibtisch und war vertieft in seine Arbeit.
„Papa, geh nicht“, echoten ihre Gedanken im Raum. Doch ihr Vater hörte sie nicht. Sie versuchte noch lauter zu sprechen, aber es funktionierte nicht. Unglaubliche Trauer machte sich in ihrem Inneren breit und sie fing an zu weinen. Als sie sich ihrem Vater näherte, wurde das Bild plötzlich unklar. Der Raum verdunkelte sich.  So laut es ging, rief sie wieder nach ihrem Vater, doch es fühlte sich auf einmal so an, als würde sie jemand ziemlich stark würgen. In der nächsten Sekunde erkannte sie eine dunkle Gestalt, die sie am Hals packte. Alayna streckte ihre Hände aus, um sich zu verteidigen. Dabei sah sie aber nicht ihre Arme, sondern einen dunklen Nebel, aus dessen Kern noch dunklere Blitze und Flammen schlugen. Eine undefinierbare Angst machte sich in ihr breit. Was war das für ein Nebel? Plötzlich zuckte diese fremdartige Energie durch ihren Körper und sie merkte, wie sie von dem Würger befreit wurde. Ihr Körper schmerzte.
„Dort ist es versteckt“, sagte Jumon. Alayna fand sich mit geöffneten Augen in der Bibliothek wieder. Sie saß immer noch im Schneidersitz auf dem Teppich. Es roch wieder nach alten Büchern.
Panisch tastete sie ihren Körper ab um herauszufinden, ob sie wirklich wieder in der Bibliothek war.
„Was, was war das!?“, rief sie aufgebracht und stand dabei auf. Sie sah sich mehrmals um, damit sie sich wirklich sicher sein konnte, dass dieser Albtraum vorbei war.
Zur Beruhigung berührte Jumon sie an der Schulter, vor Schreck wich sie jedoch erst zurück.
„Was habe ich da gesehen, Jumon!?“ Ihre Atmung raste. Sie wollte dieses schreckliche Gefühl nicht noch einmal spüren.
„Das ist also das, was dich beschäftigt“, meinte Jumon kühl und setzte sich wieder hin. „Es tut mir leid, dass ich dir das zeigen musste. Aber das ist der Schlüssel.“
„Was meinst du mit Schlüssel?“ Alayna konnte nicht sitzen bleiben. Nervös ging sie ein paar Schritte hin und her.
„Was ist damals passiert, als dich dieser Mann festhielt?“, erkundigte sich Jumon. Er klopfte auf den Boden, damit sie sich ebenfalls hinsetzte.
Zögernd nahm sie wieder Platz. Ihre Augen suchten im Raum nach einer Antwort, ihre rechte Hand kratzte unruhig an ihrer Schulter.
„Ich wurde festgehalten, von so einem Typen“, erzählte sie nach einer kurzen Pause. „Er hat mir Fragen über meinen Vater gestellt. Irgendwann würgte er mich. Danach fand ich mich in einem halb verwüsteten Raum wieder.“
„Das muss sich schrecklich angefühlt haben“, vermutete Jumon. Dabei sah sein Gesichtsausdruck lieb aus. Ein neues Gefühl wurde in ihr immer stärker. Es schien so, als würde Jumon richtig zuhören. Nicht, dass die anderen ihr nicht zuhören würden, doch bei ihm war es irgendwie anders. Es war fast so, als könnte er auch spüren, wie sich diese Erfahrungen anfühlten.
„Was ist mit mir passiert?“, fragte Alayna.
„Wenn Menschen in einer außergewöhnlichen Situation stecken, entdecken sie meistens Verbindungen zu ihrem Inneren. Wie es mir scheint, hast du in diesem Moment dein Aros entdeckt.“
„Mein Aros?“, hakte sie nach. Für sie klang das wie irgendein esoterischer Zauber.
„Das ist das, was uns am Leben hält, die Energie, die durch jeden von uns fließt.“ Jumon beugte sich nach vorne und berührte ihre Hand. Auf einmal sah sie nicht mehr Jumon vor sich sitzen, sondern eine dunkle Silhouette, in der ein helles Licht brannte. Auch in sich selbst sah sie so ein Licht.
„Durch besondere Geschehnisse oder Training kann man Kontrolle darüber erlangen“, erklärte Jumon weiter. „Diese Energie ist der Schlüssel zu etwas Neuem. Wenn du die Kontrolle über deine eigene Energie erlangst, kannst du großartiges vollbringen.“
„So wie du Geister sehen kannst?“, wunderte sie sich. „Werde ich auch Geister sehen?“
„Du wirst etwas ganz Eigenes können.“
Alayna schloss für einen kurzen Moment wieder die Augen. Sie sah sich mit acht Jahren. Schnell wich das Bild der Vorstellung, wie ihr Vater für die Befreiung der Welt kämpfte. Er stellte sich allen Problemen und kämpfte für etwas Großartiges. Auf einmal ließ sie eine merkwürdige Angst zittern. Es fühlte sich so an, als würde die Zukunft der gesamten Welt auf ihren Schultern liegen. Diese Verantwortung, die ihr Vater ihr aufgebürdet hatte, war zu viel für sie. Alles was sie wollte, war doch nur ein normales, unaufregendes Leben zu führen.
„Alayna, wir sind für dich da“, sagte Jumon, um sie zu beruhigen. „Du musst nicht alleine kämpfen, dich dem Bösen stellen und deinen Vater befreien. Das ist eine Aufgabe, die uns alle betrifft. Jeder trägt seinen Teil dazu bei. Wir müssen nur herausfinden, was dein Teil ist.“ Tröstend legte er seine Hand auf ihre. „Du musst mir Vertrauen, Alayna. Ich zwinge dich nicht, zu kämpfen. Niemand zwingt dich, gegen die Welt anzutreten. Das Einzige, was ich von dir möchte, ist, dich selbst verteidigen zu können. Ich könnte es niemals vor deinem Vater verantworten, wenn dir etwas zustoßen würde. Dein Vater ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Es ist mir wichtig, dass weder ihm, noch euch etwas zustößt. Mein Beitrag ist es, das Wissen der Welt zusammenzutragen, die Nachkommen unserer Generation zu schützen und euch etwas über Selbstverteidigung beizubringen. Wir können uns entscheiden. Ich habe Menschen gesehen, die aktiv kämpften. Vor langer Zeit habe ich mich dafür entschlossen, das Gute zu schützen. Diese zwei Dinge können das Gleiche sein, müssen es aber nicht.“
Schnell wischte sie sich eine Träne aus dem Auge. „Du meinst, dass ich nicht kämpfen muss?“, wiederholte sie zögernd. Sie spürte immer noch diese Angst in sich. Aber vielleicht war da etwas dran. Jeder Mensch hatte die Wahl.
„Es geht oft nicht um das Müssen, eher um das, was wir wollen. Was willst du, Alayna?“, fragte nun Jumon.
„Ich will, dass es meiner Familie wieder gut geht.“
„Das, was ich dir gezeigt habe, ist der Schlüssel zu dem, was du beitragen kannst, um dieses Ziel zu erreichen.“
„Was, was muss ich dafür tun?“, hakte sie nach.
„Versuche etwas zu meditieren, damit du diese Energie in dir spüren kannst. Auch wenn es dir Angst macht, es ist ein Teil von dir und du musst das akzeptieren. Wenn du das schaffst, dich dieser Angst zu stellen, bist du einen großen Schritt weiter.“
„Mich dieser Angst stellen“, wiederholte Alayna. Sie wusste, dass dies eine schwierige Aufgabe für sie sein würde.
„Probieren wir es gemeinsam?“, bot ihr Jumon an. Dabei lächelte er. Nach einem kurzen Zögern nickte sie und willigte dem Meditieren zu.

Jumon eilte durch die Bibliothek. Seine Nervosität ließ ihn alles um sich herum ausblenden. Zielstrebig riss er die Tür zum Schlafzimmer auf. Kioku und Alayna standen schon neben dem Bett.
„Schnell, hol warmes Wasser!“, forderte Kioku und Alayna rannte aus dem Raum. „Wir werden auch Handtücher brauchen.“ Schnell kamen Takeru und Eimi mit dazu. Als Kioku erkannte, dass Jumon an der Tür stand, forderte sie ihn auf, ein desinfiziertes Messer zu besorgen und die Jungs, den Raum zu verlassen. Wie es schien, war der Tag der Geburt gekommen.

Etwas früher am Tag, es war ungefähr Mittag, war Eimi an der Reihe mit seinem Training. Er hatte seine Sachen mitgebracht, wie Jumon es von ihm gefordert hatte.
„Nimm deine Sachen bitte mit nach Draußen“, forderte Jumon, der plötzlich hinter einem Regal hervorkam. Kurzerhand folgte Eimi ihm nach draußen. Einige Meter hinter dem Haus befand sich eine kleine Lichtung im Wald. Der Schnee knirschte unter Eimis Füßen. Durch eine kleine Handbewegung forderte Jumon ihn auf, seine Sachen in den Schnee zu legen.
„Wie es mir scheint, bist du ein fitter, junger Mann“, fing Jumon an zu beobachten. Eimi nickte. „Eimi, ich denke, dir ist klar, dass du den körperlichen Part in dieser Gruppe übernimmst. Takeru und Alayna sind beide ziemlich jung und nicht gerade die Sportlichsten.“
„Ich weiß“, antwortete Eimi. „Ich bin es aus dem Waisenhaus gewohnt, körperlich anstrengende Arbeit zu übernehmen. Schon immer habe ich geholfen, wo ich nur konnte.“
„Deswegen möchte ich mit dir zunächst eine körperliche Übung beginnen“, erklärte Jumon.
„Über den anderen Teil habe ich mich schon mit Tak und Alayna unterhalten. Ich denke, ich weiß, wie ich damit umgehen muss.“
„Dann können wir zur Übung kommen“, lächelte Jumon. Er ging einige Schritte hin und her und überlegte, wie er nun am besten anfangen sollte. „Du hast ein Schwert dabei, Eimi.“
Eimi hob es aus dem Schnee und präsentierte dieses. „Es lässt sich zwar nicht aus der Scheide ziehen, aber man könnte es doch trotzdem verwenden, richtig? Es scheint mir relativ stabil zu sein.“
„Das ist richtig“, erklärte Jumon, als er mit seiner Hand über die lederne und mit Metall beschlagene Scheide fuhr. „Es ist definitiv eine Möglichkeit, sich und andere zu beschützen, ohne dabei jemanden tödlich zu verletzen. Hattest du schon vorher damit einmal gekämpft oder geübt?“
Eimi schüttelte den Kopf. „Ich habe das nur einmal so in der Luft versucht. Ich hoffe ja, dass allein dadurch, dass das Schwert in meinem Besitz ist, Angreifer etwas abschreckt werden.“
„Oder es könnte sie provozieren“, entgegnete Jumon. Dann bückte er sich und fuhr mit seiner Hand über den Schnee. Im nächsten Moment lag vor ihm ein Degen aus Eis. Eimis Augen wurden größer.
„Das ist eine meiner Fähigkeiten, für die ich trainiert habe“, erklärte Jumon. „Es gibt Menschen, die ähnliche oder noch viel stärkere Fähigkeiten trainiert haben. Um so etwas zu entwickeln, musst du definitiv die Übungen machen, die ich auch Alayna vorgeschlagen habe.“
Eimi erstaunten die unglaublichen Fähigkeiten von Jumon. So etwas hatte er zuvor noch nie gesehen. Der Gedanke, dass in dieser Welt noch mehr Menschen existierten, die andere Fähigkeiten hatten, erfüllte ihn mit Ehrfurcht.
„Nimm dein Schwert in die Hand. Ich möchte, dass du folgende Angriffe verteidigst“, forderte Jumon und schwang dabei seinen Eisdegen demonstrativ um sich herum. Dabei hatte er seine linke Hand auf den Rücken gelegt. Dann sprintete Jumon auf Eimi zu und versuchte, ihn mit einigen Hieben und Stichen anzugreifen. Instinktiv nahm Eimi das Schwert in beide Hände und versuchte so gut es ging, die Angriffe zu parieren. Dabei wurde Eimi einige Male von dem Degen getroffen. Mit jedem Treffer wuchs Eimi an dieser Stelle am Körper ein kleiner Schneekristall. Nach einigen Minuten pausierten die beiden. Eimi schnaufte.
„Du deckst deine rechte Seite noch sehr schlecht“, erklärte Jumon und deutete auf seine mit vielen kleinen Schneekristallen versetzte rechte Seite.
Danach gab Jumon ihm einige Tipps, wie er beide Seiten besser schützen könnte. Nach einiger Zeit der Übung und der Umsetzung sah Jumon schon einige Erfolge.
Etwas später und nach weiteren zwei Pausen wollte Jumon den nächsten Schritt einleiten. „Dadurch, dass dort draußen Gegner lauern, die einfach unberechenbar sind, möchte ich nun eine weitere Übung machen. Während du versuchst, dich zu verteidigen, versuche nun auch, Gegenangriffe zu starten.“
Eimi machte sich bereit und sah Jumon tief in die Augen. Als dieser sich jedoch umdrehte und sich nicht weit von Eimi entfernt in den Schnee setzte, war er erst einmal verdutzt. Jumon legte seine Hand auf den Schnee und bevor Eimi etwas sagen konnte, wuchsen um Eimi herum Männer aus Schnee aus dem Boden, die neben Schwertern aus Eis nun auch Äxte und diverse andere Waffen in den Händen hielten.
„Schneemänner!?“, rief Eimi erstaunt.
„Schneemänner“, antwortete Jumon kühl. Dann begann der Angriff. Die sieben Männer aus Schnee griffen alle gleichzeitig an. Sie hatten jeweils verschiedene Körpergrößen und auch verschiedene Geschwindigkeiten. Es viel Eimi ziemlich schwer, sich auf alle gleichzeitig zu konzentrieren, jedoch konnte er sich durch die Übungen vorher viel besser verteidigen. Es gelang ihm auch, bei einem Schneemann einen Gegentreffer zu landen, wodurch dieser sich wieder in Schnee auflöste. Leider wurden die übrigen Schneemänner durch den Zerfall ihres Kumpanen nun wesentlich schneller. Eimi musste sich ducken, durch den Schnee stapfen und schnell reagieren. Er kassierte einige Treffer, wodurch seine Motivation aber nicht sank. Er wollte unbedingt versuchen, sein Bestes zu geben. Jedes Mal, wenn Eimi den Angriff einer Waffe mit der Scheide seines Schwertes abblockte, wurde er einige Schritte zurückgedrängt. Er spürte, dass es ihm noch an Körperkraft fehlte. Er war aber erstaunt, dass das Material der Scheide so stabil war, dass nicht einmal Kratzer auf dem Metall zu sehen waren.
Es dauerte etwas, bis Eimi es schaffte, einen zweiten Schneemann anzugreifen, wodurch sich dieser auch in Schnee auflöste. Eine Weile später ließ er sich jedoch auf den weichen, weißen Boden fallen. Schnaufend lag er dort und die Schneemänner hielten plötzlich inne.
„Ich … kann … nicht … mehr“, schnaufte Eimi. Dabei stieß er kleine weiße Atemwolken in die Luft. Es war viel zu anstrengend, sich durch den Schnee zu kämpfen.
„Ich glaube, das reicht fürs erste“, meinte Jumon und steckte sein Buch in die Tasche. Als er aufstand und zu Eimi ging, reichte er ihm eine Hand und half ihm aufzustehen. Mit einem Fingerschnippen zersetzten sich die Schneemänner wieder in ihre tausend kleinen Einzelteile. Danach brachte Jumon ihm eine Thermoskanne mit heißem Tee.
„Du hast Potential“, fing Jumon an, „aber du hast auch noch viel zu lernen. Die Gefahren, die dort draußen auf euch warten, sind viel zu schrecklich.“
Jumon setzte sich und sah in die dämmernde Ferne. Die Sonne war gerade am Untergehen. Es war kalt. Eimi nahm einen Schluck des heißen Tees. Er schmeckte nach Kräutern und hatte eine starke Süße. Bei dem, was Jumon sagte, hatte Eimi ein merkwürdiges Gefühl. Ihm war zwar schon klar gewesen, dass diese Reise besondere Gefahren mit sich bringen würde, aber das ganze Ausmaß der Gefahr war wie ein großer, unerforschter Fleck auf einer alten Landkarte. Man wusste, dass etwas kommen würde, konnte aber niemals erahnen, was das sein sollte.
„Wie hast du das damals geschafft? Einfach dein Zuhause zu verlassen, jemandem zu folgen, den du nicht kanntest und ein Abenteuer zu bestreiten, von dem du nicht wusstest, wie es endet?“, fragte Eimi. Er konnte sich diese Frage nur mit einem Bauchgefühl beantworten. Einem Bauchgefühl, das er hatte, wenn er Takeru und Alayna in die Augen sah. Vor allem Alayna. Wenn sie mit ihm sprach, fühlte er sich besonders.
„Weißt du Eimi, das ist nicht so leicht zu beantworten. Als ich Ginta damals das erste Mal traf, sah ich einen Jungen, der in meinem Alter war. Einen Jungen, der etwas Wichtiges verloren hatte. Ich sah ihn an und wusste, dass er eine Antwort hatte. Ich musste nur noch herausfinden, wie sie lautete. Außerdem trug er etwas in sich, das ich zuvor noch nie gesehen hatte, eine Leidenschaft, eine Seele, welche so stark war, dass ich einfach mit ihm mitgehen musste. Ich wusste, dass ich durch ihn eine Antwort finden würde.“
Als Eimi diesen Worten lauschte, richtete sich sein Blick in die Ferne. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont. Das goldene Strahlen wich auf einem Male einem grünen Blitz, der so schnell kam, wie er auch wieder verschwand. Als die Sonne verschwunden war, fuhr ein kalter Schauer durch seinen Rücken.
„Ich verstehe“, antwortete er, ohne es weiter zu kommentieren. Vielleicht würde er durch Alayna und Takeru auch eine Antwort finden.
„Lass uns reingehen, es wird spät. Außerdem muss ich noch mit Kioku sprechen“, schlug Jumon vor und stand auf. Eimi deutete ihm an, schon gehen zu können. Er wollte noch einen Moment sitzen bleiben, um den ersten Stern des Abends zu entdecken.

„Uh, ich habe sowas ja noch nie wirklich gemacht“, murmelte Kioku während sie wartete, bis man das Köpfchen des Babys sehen konnte.
„Was hast du gesagt?“, fragte Jumon panisch, dessen Aufgabe es war, Sabî zu beruhigen.
„Nichts!“, antwortete sie mit einem falschen Grinsen. „Ich glaube, es kommt gleich. Sabî, immer atmen und pressen, atmen und pressen.“
Sabî atmete und presste. Ein Schmerz fuhr ihr durch den Körper und ihr Gesicht zog dabei angestrengte Grimassen.
„Alayna, halte schon einmal das warme Wasser und die Tücher bereit“, forderte Kioku. Sie hatte tatsächlich noch nie bei einer Geburt mitgeholfen. Es war eher so, dass sie dabei wie einem Instinkt folgte. Langsam war das Köpfchen zu sehen.

Das Feuer knisterte leise. Als Kioku die Bibliothek betrat, standen zwei Sessel und ein kleiner Tisch vor dem Kamin. Auf dem Tisch, der aus dunklem Holz gebaut worden war und dessen Fuß aus geschwungenen, floralen Formen bestand, befanden sich zwei Tassen aus Porzellan und eine alte Teekanne. Kioku kam näher. Jumon legte das Buch beiseite und begrüßte sie mit einem Nicken. Er lud sie mit einer Handbewegung ein, sich in den schweren Ohrensessel zu setzen. Dann goss er etwas Tee in die Tassen und reichte ihr eine davon.
„Du hast den anderen heute viel beigebracht“, fing Kioku an. „Ich möchte dir dafür danken. Es beruhigt mich irgendwie, dass vor allem Alayna und Tak etwas darüber lernen, wie sie sich selbst verteidigen können.“
„Ihr habt schon einiges durchgemacht, richtig?“, hakte Jumon nach. Kioku nickte. Dabei hielt sie sich unsicher an ihren Oberarmen fest.
Jumon beugte sich nach vorne und nahm ihre Hand.
„Der Welt steht eine große Veränderung bevor. Wir sind mittendrin. Wir alle stecken in dieser Sache, Kioku“, erklärte Jumon. „Ich habe schon einiges in die Wege geleitet, damit ihr durch diese Sache nicht allein durchmüsst. Du bist also nicht alleine mit der Verantwortung.“
„Danke“, sagte Kioku leise.
„Ich möchte nun aber zu dem kommen, weshalb ich dich hierherbestellt habe: Dir.“ Jumon sah ihr dabei tief in die Augen. „Wer bist du?“
Eine so direkte Frage hatte Kioku nicht erwartet. Sie schluckte und begann etwas zu schwitzen. Das lag einerseits daran, dass das Feuer im Kamin ziemlich warm war, aber auch, dass sie keine Antwort auf diese Frage wusste. Diese verdammte Frage, die ihr immer den Hals zuschnürte. Die jedes Mal dafür sorgte, dass sie sich inmitten dieser großen Welt so unglaublich verloren fühlte. Kioku wollte irgendetwas sagen, schaffte es aber nicht. Jumon ließ ihre Hand nicht los.
„Ich zeige dir etwas“, kündigte Jumon an. Im nächsten Moment sah sie um sich herum nichts als Schwärze. Vor ihr befand sich ein flammendes Licht. Jumon erklärte ihr, dass dieses Licht er wäre.
„Das ist die Seele. Schau selbst einmal auf dich.“
Wie er es wollte, sah sich an sich hinunter. Sie sah ein viel kleineres Licht als das von Jumon.
„Versuche an diesem Licht vorbeizusehen. Siehst du es? Konzentriere dich darauf.“
Nun versuchte sie, an ihrer Seele vorbeizusehen. Vor ihr erschloss sich eine unendliche Schwärze. Das Licht blendete sie, es war schwierig, noch etwas anderes wahrzunehmen.
„Schau genau hin.“
Sie sah genau hin. Für einen Augenblick blitzte ein weiteres Licht in einer anderen Farbe. Was war das? Bevor sie sich diese Frage stellen konnte, befand sie sich plötzlich wieder in der Bibliothek. Das warme Feuer knisterte weiter im Kamin. Es roch nach Tee und alten Büchern. Sie blinzelte mehrmals, um sich richtig orientieren zu können.
„Das war dein richtiges Ich“, erklärte Jumon.
„Ich … Ich verstehe das nicht“, meinte Kioku und sah ihn verwundert dabei an. Was hatte das zu bedeuten?
„Als wir uns das erste Mal gesehen haben, hatte ich schon die Vermutung, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Du weißt nicht, wer du wirklich bist, richtig?“
Kioku nickte.
„Ich nehme an, es gab ein Ereignis in deinem Leben, weswegen du dein Gedächtnis verloren hast. Deine wahre Seele befindet sich in dir, das haben wir gesehen. Nachdem du ein neues Ich aufbauen musstest, hat sich etwas wie eine zweite Seele in dir gebildet. Du hast den Bezug zu deinem früheren Leben fast komplett verloren. Aber es gibt Brücken.“
„Brücken? Du meinst, ich kann damit herausfinden, wer ich bin? Kannst du mir dabei helfen?“ Sie lehnte sich nach vorne und stützte sich im Sessel ab. In Kiokus Stimme hörte am Euphorie. Vielleicht war es doch nicht so schwer herauszufinden, wer sie war.
„Ich kann diese Brücken leider nicht herstellen“, antwortete Jumon kühl und nippte an seinem heißen Tee.
Wie auf einen Schlag wich die anfängliche Euphorie wieder der Enttäuschung. „Aber…“, murmelte Kioku.
„Diese Brücken können tatsächlich nur von dir oder Etwas erzeugt werden.“
„Was meinst du mit ‚Etwas‘?“, hakte Kioku sofort nach. Irgendwie klang das ziemlich kompliziert.
„Das ist ziemlich kompliziert“, gestand Jumon. „Bei verlorenen Geistern, die nicht ins Jenseits übertreten können, ist es meistens ein Ereignis oder ein Gegenstand, welches die Brücke darstellt. Wie das bei lebenden Seelen ist, kann ich dir nicht sagen.“
Er nahm das Buch in die Hand, welches er vorher gelesen hatte. „Ich habe etwas Recherche betrieben. In diesem Buch steht, dass für eine Verbindung zu einer verlorenen aber lebendigen Seele meistens die Auseinandersetzung mit dem auslösenden Ereignis zu raten ist. Dies ist jedoch eine sehr umstrittene und radikale Methode. Es wurden hierbei schon Fälle beschrieben, bei denen die Beteiligten dadurch dann zu noch stärkeren seelischen und psychischen Verletzungen kamen. Ich bin mir deswegen nicht sicher, was ich darüber denken soll. Es gab ebenfalls einmal eine Theorie über ‚Schlüssel‘.“
„Was meinst du genau mit Schlüssel?“
„Das möchte ich mit einer Gegenfrage beantworten. Wann war das letzte Mal, dass du eine Verbindung zu diesem Ereignis gespürt hast, dass den Gedächtnisverlust in dir ausgelöst hat?“
Kioku schloss dafür die Augen und ging kurz in sich. „Was mich bewegt hat, war das Boot. Wir haben in Vernezye das Boot gesucht, das mir eine Antwort hätte geben müssen. Aber es hat mir keine Antwort gegeben. Dafür erinnerte ich mich, dass ich einmal in das Meer gestürzt bin, als wir auf dem Luftschiff auf diesen Kontinent flogen.“
„Siehst du, dies könnte ein Schlüssel sein. Die Erinnerung an den Sturz könnte tatsächlich etwas mit dem damaligen Ereignis zu tun haben. Ich schlage vor, dass du auf deiner Reise Ausschau hältst nach diesen Schlüsseln. Vielleicht ist der ein oder andere dabei, der dir dein früheres Ich zurückbringt.“
„Jumon“, meinte Kioku und blickte dabei traurig in die Flammen, „was passiert, wenn ich herausgefunden habe, wer ich bin? Vergesse ich dann mein jetziges Ich?“
„Was danach passiert, kann ich dir leider nicht prophezeien, Kioku. Es kann alles Mögliche passieren. Dein Körper kann sich dagegen wehren, sich zu erinnern. Das ist oft der Fall, wenn jemand ein Trauma erlebt hat. Es kann sein, dass deine jetzigen Erinnerungen bleiben. Oder auch nicht.“
Die Trauer, die sich nun in Kiokus Augen wiederspiegelte, war so überwältigend, dass sich Jumon verpflichtet fühlte, etwas zu sagen, um diese merkwürdige Stille zu durchbrechen.
„Ich höre nicht auf nachzuforschen, Kioku. Das ist das, was ich am besten kann. Erfahre ich irgendetwas Neues, lasse ich dir dies unverzüglich mitteilen.“
„Danke, Jumon“, bedankte sich Kioku und stand auf. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und sah Jumon danach wieder mit einem Blick der Stärke an. „Ich schaue einmal nach Sabî. Sie möchte sicherlich auch einen Tee trinken.“
„Danke“, bedankte sich auch Jumon. Er blieb noch für eine Weile sitzen, starrte in das Feuer und blätterte ab und an in einem Buch.

Ein lautes Rufen unterbrach die Stille des Abends. Es war ein Rufen, welches er noch nie zuvor gehört hatte. Es war so anders; als wenn jemand Aufmerksamkeit wollte oder nach Hilfe schrie. Es war so anders und fremd, dass er in der Sekunde, in der es passierte, wusste, was damit gemeint war. Ohne Zögern brach er auf, um dem Rufen zu folgen.

Kioku saß ausgelaugt auf einem Stuhl. Alayna wischte noch etwas Fruchtwasser vom Boden auf. Das Messer und einige verwendete Tücher lagen auf einem anderen Stuhl. Es war alles so schnell passiert. Nun hatte Jumon ein in ein Tuch eingewickeltes schreiendes Kind in den Armen. Er weinte vor Glück und präsentierte der sehr erschöpften Sabî voller Stolz ihren Sohn.
Es klopfte und Eimi lugte in das Schlafzimmer.
„Ist es passiert?“, fragte er vorsichtig. Kioku nickte, was für Eimi und Takeru das Zeichen war, hereinkommen zu dürfen.
„Das Wunder der Geburt“, grinste Takeru über beide Ohren.
„Ein Wunder? Ein Glück, dass du das nicht hast sehen müssen“, flüsterte Alayna noch etwas verwirrt vom Prozess der Geburt.
„Ist es ein Mädchen oder ein Junge?“, hakte Takeru nach und sah dem Neugeborenen in die Augen.
„Es ist ein Junge“, sagte Jumon stolz. Als er es neben Sabî in das Bett legte, beruhigte sich das Kind etwas.
„Glückwunsch!“, freute sich Eimi.
„Wie soll das Kind eigentlich heißen?“, fragte Alayna, die den Eimer und den Putzlappen vor die Tür stellte. Es fühlte sich für sie sehr merkwürdig an, die Geburt so miterlebt haben zu dürfen. Einerseits war es etwas sehr Ungewöhnliches, andererseits war es auch etwas sehr Schönes gewesen. Sie musste sich unweigerlich vorstellen, wie die Geburt ihres Bruders damals ausgesehen haben musste.
„Wir haben uns lange unterhalten darüber“, meinte Sabî und kuschelte sich an ihren Sohn.
„Vido soll sein Name sein“, erklärte Jumon und streichelte dabei Sabî durch das Haar.
„Das ist ein echt schöner Name“, meinte Kioku. Als sie Vido so ansah, wusste sie, dass diese Erinnerung für immer bleiben würde. Den Anfang eines neuen Lebens zu erleben, das wusste sie, würde man nicht so schnell wieder vergessen, egal ob es mit ihrem jetzigen, oder mit ihrem früheren Leben sein sollte. Dieses gute Gefühl versicherte ihr, dass sie eines Tages die Antworten finden sollte, die sie schon so lange suchte.


Kapitel 23 – Familien

Langsam fielen die Augen des Neugeborenen zu und es schlief ein. Dabei strahlte Vido Ruhe und Frieden aus, wie es nur ein Baby tun konnte. Takeru gähnte beim Anblick des Kleinen, dabei war er gerade erst aufgestanden. Es war Morgen und die Freunde wollten Sabî und Vido begrüßen. Jedoch waren beide so müde und erschöpft, dass sie sich wieder schlafen legten.
Nachdem sie noch eine Weile am Kinderbett gestanden und Vido beim Einschlafen betrachtet hatten, verließen sie zum Frühstück das Schlafzimmer. Leise schloss Jumon hinter sich die Tür, um seine Frau und sein Kind nicht noch einmal aufzuwecken.
„Ich mach uns mal Frühstück“, sprach er leise, wie man es oft nur konnte, wenn man gerade aufgestanden war. „Möchte einer von euch einen Kaffee?“
Jumon blickte in die Runde und Eimi meldete sich. Die anderen sahen ihn perplex an.
„Du trinkst schon Kaffee?“, wunderte sich Takeru erstaunt.
„Schmeckt dir das auch wirklich?“, fragte Alayna.
Kioku setzte erst zu einer Frage an, hielt sich dann jedoch zurück. Für einen Moment tippte sie nachdenklich ihren Finger an ihr Kinn. „Ich glaube, ich nehme auch einen. Tatsächlich habe ich noch nie einen getrunken.“
„Wenn man früher zu Arbeiten anfängt, als die Kids im Waisenhaus aufstehen, dann muss man morgens echt fit sein. Da hilft halt ab und zu ein Kaffee“, verteidigte sich Eimi. Er wirkte fast irgendwie verlegen.
Jumon kratzte sich unbeeindruckt am Hinterkopf. Er war zwar eigentlich ein Teetrinker, aber wie Eimi meinte, war manchmal ein Kaffee nötig. „Natürlich habe ich für die Teetrinker auch einen Tee.“
Während er Wasser für Tee kochte, füllte er den Trichtereinsatz der Kaffeekanne mit Kaffeepulver. Den unteren, metallenen Kessel füllte er mit Wasser, danach stellte er diesen auf den Ofen. Kurze Zeit später verteilte sich schon langsam der Kaffeegeruch in der Küche. Zu guter Letzt schäumte er mit einem Schneebesen noch etwas warme Milch in einem kleinen Topf auf. Dann gab er alles in verschiedene Tassen und brachte diese den Freunden. Danach holte er Geschirr und deckte zum Frühstück auf. Scheiben aus Brot konnten mit verschiedenem Belag bestrichen oder belegt werden. Dazu gab es noch etwas Obst.
„Faszinierend, dass jeder von uns auch mal so klein war“, meinte Takeru, der gerade von einem Apfel abgebissen hatte. „Verrückt auch, dass man in diesem Alter ohne Eltern total aufgeschmissen wäre.“
Er nahm wieder einen Bissen. Takeru bemerkte nicht, dass die Stille, die gerade einkehrte, nicht aufgrund von Müdigkeit entstand. Munter aß er weiter, während sich die anderen einen Moment Zeit nahmen, um über ihre Familien nachzudenken. Während Eimi beruhigt davon ausgehen konnte, dass es seinen Eltern gut ging, zweifelte Alayna stark über den Verbleib ihrer Eltern. Kioku kannte ihre Eltern gar nicht, es existierte nur ein beunruhigendes Gefühl in ihrer Bauchgegend.
Nach einer Weile, ohne dass jemand etwas sagte, stand Eimi auf. Er beendete sein Frühstück, brachte das Geschirr zum Spülbecken und verabschiedete sich mit den Worten, dass er noch etwas trainieren gehen wollte. Er warf sich seinen Poncho über, griff nach seinem Schwert und ging nach draußen.
„Ich schätze, dass Sabî und Vido noch etwas schlafen werden, ich werde noch etwas … erledigen …“, verabschiedete sich auch Jumon und machte dabei einen verwirrten Eindruck.
„Was habt ihr heute vor?“, fragte Kioku neugierig.
„Ich weiß noch nicht so genau“, meinte Takeru und schlürfte seinen Tee aus. „Alayna, wir könnten doch heute gemeinsam diese Meditationsübung machen?“
Normalerweise hätte Alayna nun aus Prinzip schon nein gesagt. Sie fand es seit einigen Jahren immer sehr anstrengend, wenn sie etwas mit ihrem Bruder machen musste. Aber angesichts des großen Unbekannten, das ihnen auf ihrer Reise noch bevorstand, willigte sie ein. Jumons Worte vom Vortag hatten auf jeden Fall einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen. ‚Das Gute zu schützen und zu kämpfen, können die gleichen Dinge sein, müssen es aber nicht‘, klangen die Worte in ihrem Kopf nach.
So gingen auch die Geschwister zum Trainieren.

So leise es ging, spülte Kioku das benutzte Geschirr und räumte den Frühstückstisch ab. Dabei sortierte sie den Kühlschrank wieder ordentlich, fegte die Küche noch sauber und brachte alles wieder in eine gewohnte Ordnung. Wenn sie schon so lange Gäste in diesem Haus waren, dann war es nur das Mindeste, etwas im Haushalt auszuhelfen. Von draußen brachte sie noch neue Holzscheite herein, sodass man den Ofen weiterhin anfeuern konnte. Sie kochte zwei Tassen Tee und setzte sich dann in das Schlafzimmer, in dem Sabî und Vido schliefen. Der angenehme, würzige Duft des Tees verbreitete sich schnell im Schlafzimmer. Sabî schlief in aller Ruhe. Vidos Augen jedoch bewegten sich schnell unter den Lidern. Träumte er etwa schon? Konnten Neugeborene schon träumen? Und wenn ja, von was?
Kioku betrachtete den kleinen Vido in seiner Liege. Er hatte noch keine Haare. Sein Kopf war im Gegensatz zum Körper sehr groß, so wie das bei Babys halt nun war. Seine kleinen Hände griffen unbeholfen und eher reflexartig nach der Decke. Seine Haut sah sehr weich aus.
„Wo ist Jumon?“, sprach Sabî ganz leise und richtete sich langsam auf. Sie war aufgewacht.
„Er meinte, er müsse noch etwas erledigen“, antwortete Kioku ebenso leise, um den kleinen Vido nicht aufzuwecken.
„Oh“, murmelte Sabî. Nach kurzem Innehalten sprach sie weiter: „Hat er erwähnt, was er tut?“
Kioku dachte nach. „Nicht wirklich“, sprach sie, „er wirkte dabei etwas zerstreut.“
Sabî kicherte. Dabei fuhr sie mit einer Hand durch ihr zerzaustes Haar. Dann kicherte sie wieder.
„Was, was ist daran so komisch?“, wunderte sich Kioku, die das Lachen nicht deuten konnte.
„Er hat wieder eine seiner Panikattacken. Aber psst …“, sagte sie und hielt sich grinsend den Zeigefinger vor die Lippen, „das darf keiner erfahren.“
„Das verstehe ich nicht“, antwortete Kioku und brachte Sabî eine der beiden Tassen. Im Gegenzug lud Sabî sie ein, sich mit auf das Bett zu setzen.
„Es ist so lange her, dass ich mich mit jemanden so unterhalten konnte“, grinste Sabî, „wenn ihn etwas überfordert, oder er Angst hat, dann bekommt er manchmal solche Panikattacken. Dann meint er aus heiterem Himmel plötzlich etwas erledigen zu müssen. Er sagt nur nie, was er tut. Weißt du, Jumon ist schon ein sehr konkreter und zielstrebiger Mensch. Wenn er an etwas arbeitet, kann er immer sagen, warum und wofür er das tut. Nur nicht, wenn ihn die Panik überfällt.“
Sabî nahm einen Schluck des Tees. Kioku dachte darüber nach. Jemanden besser zu kennen, als er selbst es tat, das gehörte zu einer guten Familie. Und in dieser Sekunde überfiel sie wieder ein unglaubliches Gefühl der Trauer.
„Was ist?“, unterbrach Sabî ihre Gedanken. „Ich sehe, du denkst über etwas nach. Du kannst es mir ruhig anvertrauen. Ich habe nicht so viele Menschen in meinem Leben, denen ich das weitererzählen könnte.“ Sabî lachte wieder und nahm einen weiteren Schluck Tee.
„Tak hat vorhin etwas erwähnt und meinte, dass der kleine Vido ohne euch total aufgeschmissen wäre“, erklärte sie und blickte rüber zum Kinderbett. „Und er hat Recht, ohne Familie ist man aufgeschmissen. Ich bin es schon ziemlich lange, weil ich nicht weiß, wer ich bin und wer meine Familie ist.“
Sie hielt für einen Moment inne, ihre Gedanken waren schwierig zu formulieren. „Ich habe nun Alayna und Tak und … Es ist nicht so, als würde es mir nicht reichen, aber …“ Sie fuhr sich seufzend durch die Haare. „… es reicht mir irgendwie doch nicht.“
„Es ist halt nicht deine Familie, richtig?“, antwortete Sabî. Kioku nickte nur zögernd.
„Familie ist immer relativ“, erklärte Sabî. „Sie kann sich verändern. Früher habe ich in einem Dorf gelebt, hatte Eltern – also ich habe immer noch Eltern – aber nun habe ich Jumon und Vido. Familie verändert sich mit der Zeit. Man kann auch von keiner Familie zu einer Familie gelangen. So ist es Jumon ergangen.“
Kioku hob fragend die Augenbrauen.
„Er wurde von seiner verstoßen, weil er nicht einer von ihnen war. Er war das Kind, das Geister beschwor. Das hat keiner verstanden. Darum hat er sich irgendwann allein hier eingenistet und angefangen, ein einsames Leben zu führen. Er hatte seine Geister um sich herum und sonst niemanden. Aber du kannst dir ja ausmalen, wie man wird, wenn man sich nur mit Toten unterhält.“ Sabî lachte nervös. „Was ich eigentlich damit sagen möchte, ist, dass du dir etwas Zeit lassen musst. Familie passiert nicht von heute auf morgen oder auf übermorgen. Sie baut sich auf und entwickelt sich. Vielleicht passiert das bei dir gerade auch, nur merkst du es noch nicht so stark. Du wirst schon finden, wonach du suchst.“
„Danke“, bedankte sich Kioku und grinste wieder. Genau in diesem Moment hörten die beiden ein leises Wimmern, was kurzerhand zu einem Schreien wurde. Vido war aufgewacht.

Alayna und Tak setzten sich auf der obersten Etage der Bibliothek gegenüber auf einen Teppich. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Das unregelmäßige Knistern wirkte beruhigend auf die Geschwister. Takeru lud seine Schwester ein, sich zu setzen.
„Jumon hat erklärt, dass wir in uns die Antwort finden werden. Also versuchen wir doch einmal, in uns zu gehen.“ Takeru schloss demonstrativ die Augen. Alayna wusste nicht recht, ob und wie das genau funktionieren sollte. Also vertraute sie einmal ihrem Bruder und schloss ebenfalls ihre Augen. Das Knistern des Feuers wurde lauter. Sie spürte den groben Stoff des Teppichs, auf dem sie saß. Sie spürte auch, wie sich ihr Brustkorb beim Atmen bewegte. Ihr linkes Handgelenk juckte und sie kratzte sich. Durch ihren Nacken zog ein merkwürdiger Schmerz, vielleicht hatte sie schlecht geschlafen. Ungeduldig rutschte sie auf ihrem Hintern hin und her.
„Und wie funktioniert das jetzt?“, fragte sie ungeduldig.
„Ich habe auch keine Ahnung“, gestand Takeru und lachte. „Ich dachte immer, dass Meditieren einfach so passiert, wenn man die Augen schließt. Tatsächlich habe ich es auch noch nie ausprobiert.“
„Das ist ja echt klasse. Du hast mal wieder keine Ahnung“, meinte Alayna und fuhr sich mit ihrer Hand durch ihre Haare. „Wie sollen wir das denn hinbekommen, Papa wieder zu finden, wenn wir nicht einmal das können? Du hattest recht, als du vorhin meintest, dass man ohne Eltern aufgeschmissen ist.“ Alayna seufzte und stützte ihren Kopf auf ihrer Hand ab. Dabei sah sie zweifelnd ins Feuer.
„Aber das habe ich doch so gar nicht gemeint!“, verteidigte Takeru. „Ich habe nur gesagt, dass, wenn man ein Baby ist, ohne Eltern einfach nicht klarkommt. Wer füttert und wickelt denn einen sonst?“
„Aber es stimmt, was du gesagt hast. Wir sind voll aufgeschmissen!“, entgegnete sie wieder, ohne ihrem Bruder dabei wirklich zugehört zu haben.
„Stimmt doch gar nicht!“, sagte Takeru lauter. Er stand dabei auf.
„Schau doch mal, was wir bisher geschafft haben! Nichts! Nicht einmal meditieren können wir!“ Alayna war so aufgebracht, dass sie aufstand und sich zum Feuer drehte. Was Takeru nicht mitbekam, war, dass sein Kompass unter seinem Shirt anfing leicht zu leuchten.
„Hör doch mal, wir machen das gerade beide zum ersten Mal, das ist doch klar, dass wir das nicht gleich hinbekommen! Das ist doch nicht schlimm. Das mit Papa, das kriegen wir schon hin. Schau doch mal, wie Jumon uns hilft. Eimi und Kioku sind doch auch an unserer Seite. Alles wird gut!“ Takeru versuchte sein Schluchzen zu verbergen und so motiviert wie möglich zu klingen. „Wir machen das gemeinsam. Außerdem sind wir unsere Familie. Du und ich, wir kriegen das schon hin. Komm setz dich wieder. Ich habe da eine Idee, wie das gut geht mit dem Meditieren.“
„Ich weiß nicht“, antwortete Alayna leise. „Ich bin so aufgebracht gerade. Ich hab so viele Stimmungsschwankungen in letzter Zeit, es ist so schwer sich da zu konzentrieren. Es ist alles so schwer, Tak. Warum muss es immer so schwer sein?“
Er legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter. Dann setzten sich die beiden wieder.
„Versuche einmal genau das zu machen, was ich sage“, erklärte Takeru. Alayna seufzte noch einmal und machte genau das, was ihr Bruder von ihr verlangte.
„Schließe die Augen und atme tief ein und aus.“
Das tat sie. Sie spürte wieder den Teppich, ihren Atem und die Wärme, die das Feuer ausstrahlte.
„Konzentriere dich auf das Knistern des Feuers. Hörst du, wie es zischt und knackt?“
Die Geräusche des Feuers waren sehr unregelmäßig. Es war nicht so wie bei Regen, dass man einen gewissen Rhythmus festlegen konnte. Auch nach längeren Anstrengungen erkannte Alayna darin kein Muster.
„Erinnerst du dich daran, als Mama einmal krank war?“, hörte sie die Stimme ihres Bruders leiser sprechen. „Papa, du und ich haben uns den ganzen Tag um sie gekümmert. Papa war ziemlich erledigt am Abend, als er sich um uns alle kümmern musste. Weißt du noch, als wir aus dem Garten einfach irgendwelche Blumen zu einem Tee zusammen geschüttet haben? Mama hat ihn tatsächlich probiert. Ihr Gesichtsausdruck war so schrecklich, aber sie hat die ganze Tasse ausgetrunken!“
Alayna hörte, wie Takeru leise kicherte.
„Mama war am nächsten Tag wieder gesund, weißt du noch? Und als …“ Takeru erzählte weiter. Jedoch wurde seine Stimme immer leiser für sie. Auch das unregelmäßige Knistern des Feuers drängte sich immer weiter in den Hintergrund ihres Bewusstseins. Es dauerte noch einen tiefen Atemzug, dann befand sie sich in einem großen schwarzen Raum. Sie sah sich um. Es war so dunkel, dass sie sich selbst nicht sehen konnte. Sie hörte und spürte nichts. Auf irgendeine angenehme Art und Weise fühlte sich diese Leere sehr frei und gut an. Es war kein Gefühl, verloren zu sein, sondern irgendwo sicher zu sein. Dieses irgendwo war sie selbst.
Sie sah sich um und ging ein paar Schritte. Im Dunkeln erkannte sie die Umrisse von Türen. Sie ging zu einer näher hin und hörte dumpf irgendwelche Worte, die ihr ziemlich bekannt vorkamen. An einer anderen Tür hörte sie auch andere bekannte Stimmen. Sie öffnete aber keine dieser Türen. Alayna lief weiter.
Während sie also noch etwas suchte, von dem sie noch nicht sicher wusste, was es sein sollte, erinnerte sie sich an Jumons Worte. Daran, dass man eine Aufgabe hatte. Sie dachte daran, wie Papa ohne zu zögern sein Zuhause verlassen haben musste und alles zurückgelassen hatte, um seine Aufgabe zu lösen. Ihr war nicht klar, warum er es hat sein müssen. Es hätte doch auch jeder andere Mensch auf diesem Planeten sein können. Aber es war er gewesen und sie war seine Tochter.
Auf einmal erkannte sie ein schwaches Flackern am Ende des Ganges. Sie lief diesem Flackern etwas entgegen.  Die Farbe des Lichts war undefinierbar. Als sie näher kam, erkannte sie eine Silhouette. Sie sah aus wie eine Person, die ihr nahe stand. Die Person saß auf dem Boden, die Hände im Schoß zusammengefaltet, den Kopf leicht gesenkt. So wie sie die Silhouette nur schwer erkennen konnte, schätzte sie, dass die Person kleiner sein müsste, als sie es war. Aber alu sie wieder versuchte näher zu kommen, wurde das Licht diesmal schwächer und die Person verschwand.
Sie drehte sich um. Dabei fand sie ihren alten Gedanken wieder: die Aufgabe. Was war ihre Aufgabe? Ihren Vater zu finden? Oder war es doch etwas anderes? Was steckte eigentlich hinter diesen ganzen Geschehnissen? Gerade, als sie sich setzen wollte, flog ein warmes, buntes Licht um sie herum. Es fühlte sich vertraut und richtig an, als hätte sie dieses Licht schon einmal irgendwo wahrgenommen. Zögernd streckte sie ihre Hand danach aus und …
… Alayna saß in der Bibliothek vor ihrem Bruder, der seine Hände in seinem Schoß gefaltet hatte. Sein Kopf war leicht gesenkt. Sie war wieder zurück. Was auch immer das gewesen war, das Meditieren hatte wohl funktioniert. War sie sich selbst nun näher gekommen? Sie konnte es noch nicht beurteilen. Sie entschloss sich, ganz leise und vorsichtig aufzustehen und zu gehen. Takeru brauchte wohl noch etwas Zeit und die wollte sie ihm geben. Unten angekommen schnappte sie sich eine Jacke und obwohl sie die Kälte verabscheute, entschloss sie sich, einen kleinen Spaziergang zu machen. Die Sonne schien und es fühlte sich richtig an. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Sie hörte entfernt einige Vögel zwitschern. Aus dem Gebüsch hüpfte für eine Sekunde ein weißer Hase und verschwand in der Luft. Einer der Geister, dachte sich Alayna. Sie entdeckte die Fußabdrücke, von denen sie vermutete, dass sie zu Eimi gehörten und folgte ihnen.
An einer kleinen Lichtung angekommen, bemerkte sie, wie er mit dem Schwert übte.

Etwas zuvor war Eimi an der Lichtung angekommen. Sein Schwert steckte er in den Boden in der Nähe einer alten Eiche und lief einige Runden im Kreis, um sich warm zu machen. Die Atemwolken zogen feine, langsam verschwindende Linien in die Luft. Als er spürte, wie seine Muskeln langsam wach wurden und bereit waren, mehr zu leisten, warf er sich in den Schnee und machte dabei einige Liegestütze. Er sah, wie die Schneekristalle beim Ausatmen etwas schmolzen. An seinen Händen bildeten sich dicke, glänzende Wassertropfen. Es war eisig kalt, aber Eimi versuchte sich einzureden, dass es ihn nicht störte. Was einen nicht umbrachte, machte einen härter, so hieß es doch.
Takeru hatte irgendwie recht gehabt, dachte er sich. Ohne Familie war man einfach aufgeschmissen. Er wusste das. Er sah es, täglich. Immer wiederholte sich das gleiche Schema, wenn ein neues Kind im Waisenhaus ankam. Es ignorierte alle um sich herum, verzog sich in eine Ecke und ernährte sich die ersten Tage von Luft und Hass. Diese Kinder waren wie paralysiert, unfähig sich zu öffnen, Emotionen zu zeigen, soziale Kontakte zu knüpfen. Sie sprachen nicht darüber, was passiert war, sie halfen sich nicht selbst.
Aber dann, nach einigen Tagen, wenn das Alleinsein langsam zum Alltag wurde, wenn es endlich mehr Kraft kostete, deprimiert zu sein, statt sich auf alles Neue einzulassen, dann passierte es endlich. Es konnte eine neue Familie aufgebaut werden. Klar, war es nicht „Familie“ im klassischen Sinne, aber die Kinder fingen dann allmählich an zu lernen, dass gewisse Rollen in einer Familie auch von anderen Menschen eingenommen werden konnten. Eimi empfand sich selbst immer als großer Bruder, zu dem man eine freundschaftliche Beziehung aufbauen konnte. Tatsächlich schaffte er das auch oft. Da er selbst keine Geschwister hatte, war dies dadurch eine ganz besondere Erfahrung für ihn. Aber ein Elternteil konnte er dadurch nicht ersetzen.
Wenn er darüber nachdachte, wie seine Eltern zu ihm waren, dann konnte er sich glücklich schätzen. Selbst wenn sein Vater es nicht zugeben konnte, weil er so oft und lange arbeiten war, weil er eigentlich jemand Strenges war, der auf das Einhalten von Regeln und das Ansehen in der Gesellschaft großen Wert legte, war er stolz auf Eimi. Es lag nicht nur daran, dass Eimi diesen Job im Waisenhaus angenommen hatte, sondern auch, dass er ein Ziel hatte und es verfolgte. Eimi schaffte es sogar neben der Arbeit im Waisenhaus, seine Zensuren in der Schule zu halten. Sein Vater war stolz, zumindest erzählte dies seine Mutter oft genug, wenn sein Vater nicht zu Hause war. Seine Mutter war eine sehr liebe Frau. Nachdem Eimi alt genug gewesen war, hatte sie einen Job in einem Altenheim angenommen. Vielleicht war sie von Eimis sozialer Stärke so beeindruckt, dass sie sich entschlossen hatte, ebenfalls etwas Gutes beitragen zu wollen. Er vermisste seine Familie, wusste aber, dass er sich keine Sorgen um das Wohlbefinden der beiden machen musste.
Das Waisenhaus – seine zweite Familie – vermisste er ebenso. Die Kinder, die Betreuer, alle, die darin lebten und arbeiteten, gehörten ebenso zu seiner Familie. Er kannte alle beim Namen, wusste was ihr Lieblingsgerichte waren und was sie am liebsten spielten. Eimi kannte alle Eigenheiten und Träume der Kinder.
Während er so über die Bedeutung von Familie nachdachte, hatte er sich schon längst sein Schwert geschnappt und machte einige grundlegende Übungen im Schnee. Dabei ging er Bewegungsabfolgen ab, die ihm Jumon am Vortag gezeigt hatte. Er achtete dabei auf die akkurate Ausführung der Bewegung und auf ein steigerndes Tempo. Dies war gar nicht so leicht, denn je länger er das schwere Schwert um sich herum schwang, desto schwieriger wurde es, Kraft für die Bewegungen aufzubringen. Aber vielleicht war das der Trick des Trainings, sich darauf zu konzentrieren, konstante Leistung zu bringen, aber gleichzeitig auch zu versuchen, die Intensität zu steigern. Das Blut pumpte durch seinen ganzen aufgewärmten Körper. Die Kälte, das erschwerte Bewegen durch den Schnee und das Gewicht des Schwertes brachte ihn zum Schnaufen.
Plötzlich vernahm er ein Knirschen im Schnee. Bereit zum Kampf streckte er das Schwert in Richtung des Geräusches. Jedoch ließ er ganz erleichtert das Schwert sinken, als er erkannte, wer dort stand: Alayna.
„Du trainierst hier ganz alleine?“, fragte Alayna neugierig, dabei schlang sie ihre Arme noch fester um ihren Körper. Ihr war sehr kalt.
„Ich denke, Jumon hat etwas Besseres zu tun, als mir heute zu helfen“, grinste Eimi und stützte sich dabei auf sein Schwert. „Wie geht es dir?“
Eimi bemerkte, dass Alayna bei dieser Frage kurz innehielt, bevor sie antwortete. Vielleicht lag es daran, dass ihr diese Frage sonst niemand stellte.
„Ich weiß, dass es alles ein wenig viel ist“, erklärte Eimi, bevor sie antworten konnte. „Ich möchte stärker werden, damit ich euch beschützen kann, damit Situationen, wie sie dir passiert sind, nicht mehr vorkommen.“
„Es war ein schreckliches Gefühl“, antwortete sie ruhig. „Ich habe mich so machtlos gefühlt und ich glaube, ich fühle mich immer noch so. Alle anderen können so viel mehr beitragen, als ich. Sieh dir einmal Jumon an, was er alles tut. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das schaffe. Ich bin nicht wie mein Vater.“
Eimi wusste, dass die Geschichte über die Vergangenheit von Ginta, die Jumon erzählt hatte, sie sehr beschäftigte. Aber es klang auch alles wie ein Märchen. Warum war darüber nie berichtet worden? Warum erzählten seine Eltern nichts von den Geschehnissen? Warum lernten sie in der Schule nichts darüber?
„Du musst auch gar nicht wie dein Vater sein“, entgegnete Eimi und ging zu Alayna. „Niemand muss so sein, wie irgendwer anders. Jeder muss so sein, wie er selbst ist. Ich glaube ja, dass das eigentlich das ist, was Jumon uns sagen wollte. Warum er will, dass wir trainieren und meditieren. Wir müssen herausfinden, wer wir sind und was wir mit uns machen.“
„Wenn das so leicht wäre“, seufzte Alayna. „Ich wäre gerade gern ein sechzehnjähriges Mädchen, welches z Hause auf dem Bett liegt und ein Buch liest, oder irgendwas anderes tut. Etwas anderes als DAS hier.“
Er bemerkte, wie unsicher sie sich fühlte. Aber was war in so einer Situation das Richtige zu sagen?
„Damit wir diesen Zustand wieder erreichen, müssen wir leider vorerst DAS hier erledigen. Wir erledigen es zusammen, ja? Wir erledigen es für uns, für unsere Familien und Freunde und für all die, die noch kommen werden, so wie Vido.“ Als Eimi diese Worte sagte, musste er unweigerlich grinsen. Alayna grinste auch. Sie biss sich dabei auf die Unterlippe und fuhr sich einmal durchs Haar.
„Ja“, sagte sie nur.
Er war sich unsicher, wie er den Tonfall deuten sollte. Es klang weder entschlossen noch wirklich unsicher. Sie brauchte einfach noch etwas Zeit, dachte er sich.
„Wollen wir zusammen etwas trainieren? Ich würde mich freuen, wenn ich einen Partner hätte“, schlug er vor. Alaynas Blick war erst unentschlossen, jedoch zog sie sich dann ihre Handschuhe über und kam Eimi entgegen. Der Schnee knirschte laut unter ihren Füßen. Eimi zeigte ihr einige Grundtechniken der Selbstverteidigung, dann trainierten sie zusammen für eine Weile.

Eine Weile zuvor …
„Konzentriere dich auf das Knistern des Feuers. Hörst du, wie es zischt und knackt?“ Takeru machte eine kurze Pause. „Erinnerst du dich daran, als Mama einmal krank war? Papa, du und ich haben uns den ganzen Tag um sie gekümmert. Papa war ziemlich erledigt am Abend, als er sich um uns alle kümmern musste. Weißt du noch, als wir aus dem Garten einfach irgendwelche Blumen zu einem Tee zusammen geschüttet haben? Mama hat ihn tatsächlich probiert. Ihr Gesichtsausdruck war so schrecklich, aber sie hat die ganze Tasse ausgetrunken!“
Takeru kicherte leise.
„Mama war am nächsten Tag wieder gesund, weißt du noch? Und als Mama uns erzählte, dass es ganz sicher an unserem tollen Tee gelegen haben muss, waren wir ganz stolz. Sie meinte dann aber, dass wir das nicht mehr machen sollten, denn so ein Zaubertee wirke nur einmal, dann nicht mehr. Wir haben ihr es sehr lange geglaubt.“
Er sah auf und sah, dass Alayna ihre Augen geschlossen hatte und einen unglaublich entspannten Ausdruck hatte. Sie war jetzt sicherlich schon am Meditieren. Also wenn es bei ihr funktionierte, sollte es doch auch bei ihm klappen, dachte sich Takeru. Dann schloss er ebenfalls seine Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Die Geräusche des Feuers lenkten ihn erst ein wenig ab, dann konnte er aber wieder klare Gedanken fassen. Er dachte darüber nach, was Jumon ihm über seinen Vater erzählt hatte, dass er die Welt rettete und all dies. Er dachte über die Reise nach, das Fliegen mit dem Luftschiff, den Job, die brennende Stadt und … das Knistern des Feuers wurde wieder stärker. Da, er sah vor seinem inneren Auge plötzlich einen Funken Feuer. Er war klein und hell und tänzelte ungeduldig vor ihm herum. Als er sich stärker auf den Funken konzentrierte, wurde dieser stärker und stärker. Er nahm eine rechteckige Form an und plötzlich sah er sein Zuhause in Flammen aufgehen. Eine Hitzewelle kam ihm entgegen und peitschte über seine Haut. Er verspürte auf einmal ein Gefühl, das einem die Kehle zuschnürte. So etwas spürte man immer nur, kurz bevor man in Tränen ausbrechen würde. Aber es geschah nicht; das einengende Gefühl blieb. Das Haus brannte. Er konnte nichts machen, außer zuzusehen. So sehr er es auch versuchte, sich ein anderes Bild herbeizuwünschen, es ging einfach nicht. Könnte er es doch nur auspusten, dieses Feuer. Könnte er doch nur seine Familie dadurch retten, dieses Feuer einfach auszublasen.
Da entdeckte er etwas Grünes über dem Haus. Oder war es doch eher Blau? Eher Türkis? Er konnte es nicht genau erkennen. Es war wie ein samtenes Tuch, das sich formlos über den schwarzen Himmel schlängelte und dabei leicht leuchtete. Seine Aufmerksamkeit wurde kurz darauf gezogen, bis das Feuer wieder sein ganzes Bewusstsein einnahm. Es war verschwunden.
Was Takeru dabei nicht bemerkte, war, dass sein Kompass, den er immer unter seinen Klamotten trug, leicht anfing zu leuchten.
Takeru strengte sich an und schaffte es, in seiner Vorstellung in das Haus zu gelangen. Die Hitze der Flammen nahm er dabei gar nicht mehr war. Es knackste und knisterte und grelle Funken blitzten und tanzten überall hin und her. Das Haus sah aber von innen gar nicht aus, wie sein Zuhause, es waren nur leere, brennende Räume darin, die ihn kaum bekannt vorkamen. Er machte einen Schritt nach dem anderen und versuchte, sich dabei zu orientieren. Je tiefer er in das Haus stieg, desto kälter wurde es mit der Zeit. Kalte, leere Räume reihten sich nacheinander wie Steine in einem Flussbett. Viel Zeit verging, aber Takeru fand nichts. Er wurde immer mehr enttäuscht. Bis er aus seiner Meditation aufwachte.
Vor ihm brannte nur noch eine kleine Flamme im Kamin. Alayna war verschwunden. Wie, als müsste er diese Erfahrung erst noch verarbeiten, blieb er noch eine Weile sitzen und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Nachdem er sich dann bereit fühlte, stand er auf und sah sich in der Bibliothek um.
„Fühlt sich so meditieren an? Ich hoffe, das ist nicht immer so“, murmelte er leise vor sich hin, noch etwas zerstreut von der Erfahrung.
Takeru ging hinunter in das zweite Stockwerk; bisher hatte er sich die Bücher aus diesem Bereich noch nicht genauer angeschaut. Er schlenderte durch die Regale, konnte sich aber auf die Buchtitel nicht konzentrieren. An einem Tisch an der anderen Seite der ringförmigen Ebene entdeckte er Jumon, der über einige Büchern gebeugt war und las. Takeru kam näher und sprach ihn mehrere Male an, Jumon reagierte jedoch nicht.
Erst, als Takeru ganz nah bei ihm stand, seine Hand auf Jumons Schulter legte und dabei seinen Namen sagte, schreckte Jumon erschrocken auf. Jumon schnaufte.
„Tak, was, was machst du denn hier?“, sprach Jumon verwirrt.
Geschockt stand Takeru da und betrachtete Jumon mit weit geöffneten Augen. „Ich wollte nur hallo sagen“, rechtfertigte er sich.
„Ich habe dich gar nicht wahrgenommen“, erklärte Jumon. „Ich war wohl etwas vertieft in dieses Buch.“
Takeru merkte, wie Jumon sich an seine Brust griff, als würde sein Herz rasen. Der Ausdruck in seinen Augen wirkte panisch, fast orientierungslos.
„Was liest du da?“, fragte Takeru und deutete auf das geöffnete Buch.
„In diesem Buch wird erklärt, aus welchen Pfeilern die Welt besteht“, erzählte Jumon, atmete danach zweimal tief ein und aus. „Materie, Zeit und Raum sind Grundpfeiler unseres Universums.“
„Das klingt ziemlich wissenschaftlich“, beobachtete Takeru. „Was genau ist damit gemeint?“
„Materie ist all das, aus was wir bestehen. Deine Haare, deine Haut, unser Essen, die Erde, die Luft, unser Planet. All das hat Materie. Diese Materie befindet sich in einem Raum; du kannst dich durch ihn bewegen und unser Planet dreht sich um die Sonne.“
„Soweit verstehe ich das“, grinste Takeru.
„Und als letztes bleibt die Zeit. Zeit vergeht wie ein Fluss, wie eine Welle, die über uns hereinbricht. Jede Sekunde kommt und vergeht und wird so nie wieder passieren. So ist zumindest die Annahme dieses Wissenschaftlers. Es gibt Leute, die andere Theorien haben.“
Takeru schaute aus einem der Fenster der Bibliothek. „Apropos Zeit, es ist sicherlich schon mittag.“
Panisch schaute Jumon auf. „Es ist schon Mittag? Oh nein, ich habe ganz vergessen, Sabî und euch etwas zu Essen zuzubereiten!“ Er sprang auf und hetzte hinunter in die Bibliothek. Takeru blieb alleine an dem Arbeitstisch stehen und betrachtete die Bücher und Jumons Notizen.
Auf einem Papier sah er die drei erklärten Begriffe in einem Dreieck aufgezeichnet. Dabei standen einige unleserliche Notizen. Eine Sache war jedoch farblich besonders hervorgehoben. Es war ein Name: Shiana. Irgendwie klang er sehr vertraut, Takeru konnte aber ihn gerade nicht zuordnen. Sein Kopf brummte.

Kurzerhand darauf entschied er sich, ebenfalls zurückzugehen. Als er durch die Tür der Bibliothek zurück in die Küche gelangte, sah er, wie sich Eimi und Alayna an einem Tee wärmten. Sabî saß auf der Eckbank und wiegte Vido in ihren Armen, damit er einschlief. Dabei schmiegte sich Jumon ganz eng an seine Frau und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Er wirkte sehr erschöpft. Kioku stand am Herd und bereitete etwas zueEssen für die Leute zu. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßten ihn die anderen. Als er sich an den Tisch dazusetzte, schoss ihn ein Gedanke durch den Kopf: ‚Jeder hat auf irgendeine Art und Weise eine Familie.‘
In diesem Moment erkannte er, dass er neue Familienmitglieder gewonnen hatte.

 


Kapitel 24 – Fahrt ins Tal

 Es war einer dieser kühlen, ruhigen Morgen, an denen man aufstand und das Erste, was man tat, darin bestand, einfach nur aus dem Fenster zu starren. Das war zumindest das, was Alayna tat, als sie aufwachte. Die aufgehende Sonne strahlte in grellem Orange und Gelb und brachte den Schnee zum Glitzern. Die Schneedecke war unberührt und sah aus wie ein samtenes Kissen, das einfach auf dem Boden lag. Alayna gähnte herzhaft und entdeckte danach ein weißes Reh, das zwischen den Bäumen hervortrat und keine Fußspuren im Schnee hinterließ. Ihr nächster Gedanke galt dem gestrigen Tag, als sie mit Eimi zusammen trainiert hatte. Er hatte ihr verschiedene Möglichkeiten gezeigt, Angreifer abzuwehren. Dabei war er sehr behutsam mit ihr umgegangen und hatte sie das ein oder andere Mal zum Lachen gebracht. Seitdem sie Eimi kennengelernt hatte, hatte es keinen Moment gegeben, in dem sie es nicht gemocht hatte, was er gesagt oder getan hatte. Normalerweise passierte es ziemlich schnell, dass sie irgendeine Kleinigkeit an Menschen fand, die sie nervte. Selbst bei ihrer besten Freundin Kaly war es so gewesen, dass sie nach kurzer Zeit genervt gewesen war. Das passierte immer, wenn sie anfing, über irgendwelche Jungs zu reden, die Alayna gar nicht kannte und dabei so tat, als müsste man sie unbedingt kennen müssen. Es passierte so oft, dass Alayna in diesen Situationen schon gar nicht mehr zuhörte. Sie schaltete dann ab und dachte an etwas anderes. Das war zwar nicht nett, aber so konnte sie zumindest ihre Freundschaft mit Kaly lange am Leben halten, ohne dass es eskalierte.
Tatsächlich war das bei Eimi ganz anders. Da war nichts, was nervte. Alayna genoss es, dass er so ruhig war und immer so wirkte, als wüsste er ganz genau, was er sagen sollte. Er verstand sich gut mit ihr und brachte sie zum Lachen und auch zum Schmunzeln. Diese ganz besondere Ausstrahlung wiegte sie in Sicherheit. Sie drehte sich herum und sah, wie Eimi neben Tak auf dem Boden lag, die Decke hatte er in der Nacht von sich weggestrampelt. Seine Haare waren zerzaust, ein Stückchen seines Shirts stecke in seinen Boxershorts und warf knittrige Falten. Sein Gesichtsausdruck war friedlich.

Der Morgen verging irgendwie sehr schnell. Sie sah zu, wie ihr Bruder panisch all sein Zeug in seine Tasche stopfte und dabei keine Ordnung beachtete. Er aß sein Frühstück sehr flott, ging rasch ins Badezimmer und stolperte beim Zurückkommen. Alles was er tat, war sehr hektisch, als würde er es gar nicht erwarten können, bald loszugehen. Aber das war der Eindruck, den sie von ihrem kleinen Bruder schon immer gehabt hatte. Egal bei welchen Aktionen, Ausflügen, dem Urlaub, dem ersten Schultag oder sonst auch immer war Tak dabei einfach nur sehr aufgeregt gewesen und hatte gewollt, dass es so schnell wie möglich passierte. Das führte das ein oder andere Mal auch dazu, dass die Familie echt Probleme bekam.
Den einen Herbst hatten sie einen Ausflug in eine Stadt im Süden machen wollen. Die kleine Reise sollte den ganzen Tag dauern. Also packten sie genug zu trinken ein, Regenjacken, falls das Wetter doch schlechter werden sollte, kleine Snacks und etwas Unterhaltung für die Zugfahrt. Alayna schaffte es, dies alles ordentlich einzupacken. Takeru war dabei so nervös, dass er das Packen fast vollständig vergessen hätte. Als ihre Eltern das bemerkten, waren sie schon auf halbem Weg zum Bahnhof. Also packte ihr Vater Takeru Huckepack, rannte zurück zum Haus und stopfte seinem Sohn noch schnell etwas wärmere Klamotten und etwas zu trinken in seinen Rucksack. Alayna wartete derweil mit ihrer Mutter am Bahnhof und als ihr Vater und Takeru zurückkamen, schafften sie es gerade noch rechtzeitig in den Zug. Früher hatte Alayna so etwas unglaublich geärgert. Aber gerade sah sie gleichgültig zu, wie ihr Bruder von der einen in die andere Ecke flitzte, weil er noch etwas vergessen hatte, oder weil er sich an etwas erinnerte, was er noch erledigen musste. Was auch immer er da erledigen musste.
Kioku lächelte. Alayna sah Kioku dabei zu, wie sie von Sabî, die den kleinen Vido im Arm hielt, einige Nahrungsmittel bekam und dabei ehrlich lächelte. Sie hatte das Gefühl, dass Kioku und Sabî sich sehr gut verstanden. Die Art und Weise, wie sie sich gegenseitig ansahen, wie sie immer mal wieder kicherten, weil die eine der anderen sagte, wie nett und toll sie die andere fand, zeigte Alayna, dass sich eine neue Freundschaft entwickelte. Auch der kleine Vido hatte wohl seinen Gefallen an Kioku gefunden, denn er war immer ganz ruhig und fasziniert von der Frau mit der Narbe und beobachtete sie mit seinen großen Augen ganz genau. Manchmal meinte Alayna etwas wie ein Lachen in seinem Gesicht zu sehen. Aber vielleicht war es auch nur ein Schmunzeln.
Jumon und Eimi saßen noch beim Frühstück. Während Jumon einige Bücher wälzte und dabei einen Tee trank, saß Eimi ruhig neben ihm und aß genüsslich sein Brot. Diese Ruhe, die er ausstrahlte, hüllte Alayna auch nun ein. Es war wie eine Decke aus leichtem Stoff, die sanft um ihre Schultern gelegt wurde. Ihre Atmung wurde ruhiger und sie fühlte sich sicher. Kurz darauf stand Jumon auf und ging in die Bibliothek. Kurzerhand kam er wieder und deutete, dass sich alle an den Küchentisch setzen sollten.

„Ich habe in der letzten Nacht noch einige Vorbereitungen getroffen“, fing Jumon an zu erklären. „Zunächst habe ich euch eine kleine Karte vorbereitet, damit ihr den Weg zur Gondelstation etwas weiter oben auf dem Berg findet.“ Er übergab Eimi ein zweimal gefaltetes Papier, der dieses daraufhin öffnete. Er entdeckte eine kleine Karte, auf dem Jumons Haus abgebildet war. Von dort aus führte ein Pfad in Richtung Nordwesten zur Gondelstation. Es waren auch die Abzweigungen eingezeichnet, damit die Freunde wussten, wo sie in welche Richtung abbiegen sollten.
„Außerdem solltet ihr mit dem Inhalt dieses Umschlages die Fahrscheine für die Gondel und für den Zug bezahlen können. Ich habe noch etwas zusätzlich dazugetan, für Notfälle“, meinte Jumon und überreichte Kioku den Umschlag. Diese öffnete ihn und zählte das Geld darin. Als sie damit fertig war, weiteten sich ihre Augen.
„Danke, Jumon, das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, bedankte sie sich, obwohl sie genau wusste, dass das Geld nötig war.
„Jumon und ich kaufen ja nur Nahrungsmittel im Dorf, ganz selten kauft er sich dann irgendwo Bücher. Wir haben genug davon und es macht uns eine Freude, wenn wir helfen können“, erläuterte Sabî und fasste Kioku dabei mit einem herzlichen Lächeln an der Schulter an. Dankbar griff Kioku nach Sabîs Hand.
„Das war noch nicht alles“, erklärte Jumon weiter und griff nach einem weiteren Briefumschlag. „Ich weiß, dass Sayoko eine mächtige Politikerin ist. Ich kann mir vorstellen, dass ihr am Anfang Schwierigkeiten habt, zu ihr durchzukommen, obwohl ich ihr schon einen Brief geschrieben habe. Deswegen habe ich hier einen weiteren Brief vorbereitet, der euch vor … sagen wir einmal Problemen schützt. Die Schutzmaßnahmen in Prûo sind hoch und in diesem Land passieren schlimme Dinge. Wenn ihr diesen Brief vorzeigt, werden die Leute wissen, was ihr für Freunde habt. Das sollte euch in der ein oder anderen Situation vielleicht helfen.“ Er überreichte Alayna diesen Umschlag. Sie stecke ihn sogleich in ihre Tasche, ohne wirklich zu überprüfen, was darinstand. Sie vertraute Jumon, obwohl sie irgendwie das Gefühl beschlich, dass er etwas verheimlichte.
„Eine letzte Sache habe ich noch“, sagte Jumon und drehte sich zu Takeru. „Hier ist ein Notizbuch für dich. Damit kannst du notieren, was mit deinem Buch passiert. Vielleicht, wenn du etwas Besonderes herausgefunden hast, kannst du mir einen Brief schreiben?“ Jumon schob Takeru Stifte, ein Notizbuch und ein Briefset zu seinem Platz. Takerus Augen wurden groß und er bedankte sich. „So kann ich dir auf jeden Fall helfen, deinen Vater schneller zu finden.“
„Danke, Jumon“, sagte Takeru und blätterte durch das Notizbuch. Die Seiten waren aus festem Papier und es war in etwa genauso dick wie das blaue Buch, das er tief in seine Tasche gesteckt hatte.
Es war wirklich großartig, wie Jumon der Gruppe half. So, wie er sich gegenüber ihnen verhielt, musste er früher ein richtig guter Freund ihres Vaters gewesen sein. Unweigerlich musste Alayna an die Situation denken, als sie Jumon vor einigen Tagen das erste Mal draußen im Schnee begegnet waren. Sie konnte es kaum fassen, dass jemand behauptete, ihren Vater so gut zu kennen. Aber mittlerweile hat sich wirklich herausgestellt, dass er die ganze Zeit die Wahrheit sprach. Ist Freundschaft doch etwas anderes, wenn man erwachsen war? Bis jetzt dachte sie immer, dass Freundschaft bedeutete, sich zumindest jeden zweiten Tag zu sehen, sich alle Geheimnisse zu erzählen und immer zusammenzuhalten. Sich nicht zu melden, galt für sie als höchster Vertrauensbruch. Ob Kaly das verstand? Alayna hatte sich jetzt eine sehr lange Zeit nicht bei ihr gemeldet, was ihren besonderen Umständen zu verdanken war. Ob sie sich Sorgen machte? Alayna gestand sich gerade selbst ehrlich ein, dass ihre Gedanken in letzter Zeit wenig mit ihrer besten Freundin zu tun gehabt hatten. Aber sie war sich sicher, wenn ihre Freundschaft das hier überlebte, dann hatte sie wirklich eine Freundin fürs Leben gefunden. Trotzdem blieb ein merkwürdiges Bauchgefühl, eine Art Vorahnung, dass Freundschaft vielleicht doch etwas anderes bedeuten sollte.

Ausgestattet mit einem vollen Bauch, ihren warmen Winterklamotten und den Sachen, die Jumon ihnen geschenkt hatte, waren die Freunde nun bereit weiterzuziehen.
„Wenn ihr etwas Neues über den Verbleib eures Vaters herausfinden solltet, schreibt mir doch bitte. Andersrum versuche ich euch zu kontaktieren, wenn ich etwas über diese ganze Situation erfahren sollte und weiß, wo ihr seid. Denkt an das Training, das ich euch gezeigt habe. Es ist wichtig, dass ihr euch gegenseitig beschützen könnt“, verabschiedete sich Jumon von den Freunden. „Erschreckt euch nicht, wenn ich ein paar Geister damit beauftrage, euch noch eine Weile zu folgen. Nur, damit ich weiß, ob ihr den Weg zur Gondelstation findet.“
„Ich hoffe, ihr habt eine sichere Reise“, verabschiedete sich Sabî und umarmte jeden der Freunde noch einmal fest. „Das Essen, welches ich euch eingepackt habe, macht sehr satt. Hier oben auf den Bergen verbrauchen die Leute immer viel Energie. Wir haben schon früh gelernt energiereiches Essen zuzubereiten.“
Vido brachte zum Abschied etwas heraus, dass sich entfernt wie ein Lachen anhörte.
„Danke für alles“, bedankte sich Kioku und umarmte Sabî ein zweites Mal.
„Wir sind euch wirklich dankbar. Ihr seid eine enorme Hilfe für uns“, sagte Eimi und lächelte.
„Wir werden Papa sicher schnell finden!“, kündigte Takeru an und klopfte dabei auf seine Tasche, um auf die Geschenke zu deuten.
„Danke, Sabî, danke, Jumon. Wenn wir Papa finden, erzähle ich ihm, was für tolle Freunde er hat“, sagte auch Alayna.
Nun konnten die Freunde losziehen, zu ihrem nächsten großen Ziel: Prûo.

Eimi, der die Karte von Jumon erhalten hatte, führte die Gruppe einen Pfad entlang, der nur durch die Hilfe der Karte wirklich gut zu finden war. Der unberührte Schnee machte es schwer, den richtigen Weg zur Gondelstation zu finden. Dadurch, dass Jumon aber besondere Wegweiser eingezeichnet hatte, wie besonders große Steine mit einer besonderen Form, eine Gruppe von Bäumen oder Weggabelungen, konnte Eimi die Gruppe sicher einen Weg entlangführen.
Alayna fand es sehr anstrengend, den Berg hoch zu laufen. Das Wetter war zwar schön, die Sonne schien, aber das helle Licht und die Reflektion des Schnees blendeten sie häufig. Die klare Luft hatte eins mit dem pulvrigen Schnee gemeinsam: sie waren beide besonders kalt. Immer wieder, als sie so durch den Schnee stapfte, gelangte etwas davon in ihren Schuh. Jedes Mal lief ihr dabei ein kalter Schauer über den Rücken. Die anderen hatten kein Problem durch den Schnee zu laufen. Ihr kleiner Bruder war damit beschäftigt, die Geistertiere zu entdecken, die das ein oder andere Mal hinter einem Busch oder zwischen den Bäumen eines kleinen Waldes herauslugten und überprüften, ob die Freunde noch auf dem richtigen Pfad waren. Kioku war fasziniert von den Gipfeln des Gebirges, welche man in der Ferne sehen konnte. In diesem Gebirge konnte man einige schöne Gipfel betrachten, die sich alle durch ihre unterschiedlichen Formen voneinander unterschieden.
Während der Wanderung sprach keiner. Die Eindrücke, die die Freunde in den letzten Tagen gesammelt hatten, brauchten etwas Zeit, bis sie sich setzen konnten.
Alayna musste sich vorstellen, wie ihr Vater sein Zuhause verlassen hatte, allen den Rücken gekehrt hatte, ohne über die Menschen nachzudenken, die er zurückgelassen hatte. Sie musste sich unweigerlich den Gesichtsausdruck vorstellen, den ihr Vater hatte, wenn er konzentriert an etwas arbeitete. Vielleicht hatte er damals, als er ungefähr so alt war, wie sie jetzt, den gleichen Gesichtsausdruck gehabt. Sie fragte sich auch, ob er Angst gehabt hatte. War es Angst vor dem Unbekannten gewesen, in das er sich gestürzt hatte? Sie hatte schon die ganze Zeit über Angst. Da war einerseits die Sorge, dass ihrer Familie etwas zustoßen würde und andererseits ein beunruhigendes, tiefes und dumpfes Gefühl in ihrem Bauch, eine Vorahnung, dass am Ende nichts mehr so sein würde wie früher. Sie würde sich ändern, genauso wie es damals mit ihrem Vater passiert sein musste. Sie wusste, dass er sich der Angst und den Sorgen, die er gehabt hatte, gestellt hatte, um etwas zu verändern. Sicherlich waren die Freunde, die er auf seiner Reise kennengelernt hatte, eine große Hilfe für ihn gewesen. So wie Jumon auch für sie jetzt eine große Hilfe gewesen war. Zum ersten Mal auf dieser Reise fühlte sie sich plötzlich beruhigt. Es war anders als damals, als Ryoma aufgetaucht war und den Freunden die Richtung gezeigt hatte oder als sie auf Kioku getroffen waren und sogar anders, als Eimi entschlossen hatte, mit ihnen zu reisen. Es war allein die Vorahnung, dass dort draußen jemand da war, der mit ihrem Vater befreundet war und auch helfen wollte.

Während die Sonne gegen Mittag ihren höchsten Stand erreichte, entdeckte Eimi in der Ferne ein Gebäude, welches die Gondelstation sein musste. Er winkte seinen Freunden und ging etwas schneller, Takeru folgte ihm direkt. Kioku und Alayna ließen sich etwas Zeit.
„Das waren viele Eindrücke, die zu verarbeiten sind. Ich finde es unglaublich, dass euer Vater solche Freunde hat“, sagte Kioku, die kurz auf Alayna wartete, um mit ihr zusammen zu laufen. Kioku klang dabei etwas traurig, fand Alayna. Ihr war bewusst, dass Kioku sich nicht an ihr früheres Leben erinnerte und auch nicht daran, ob sie Freunde hatte. Aber wie genau sich das anfühlen musste, konnte sie nicht wirklich verstehen.
„Ich möchte Papa fragen, warum er uns das niemals erzählt hat“, antwortete Alayna darauf. „Es muss ja einen Grund gegeben haben, dass er so ein wichtiges Kapitel in seinem Leben verschwiegen hat.“
„Er wollte euch sicherlich nur schützen“, antwortete Kioku, ohne zu wissen, vor was er sie schützen wollte.
„Vielleicht“, meinte Alayna und machte eine kurze Pause. „Jumon muss früher ein guter Freund von Papa gewesen sein.“
„Das ist er immer noch“, war Kioku überzeugt.
„Richtig“, murmelte Alayna und lächelte.
Mittlerweile waren Eimi und Takeru an der Gondelstation angekommen. Sie winkten wie die Irren und freuten sich, als Erste angekommen zu sein. Die Station war ein großes Gebäude aus Holz. Es gab eine Eingangshalle, in der Schalter für Tickets und ein kleiner Souvenirladen auf der linken Seite waren. Mithilfe eines Zaunes wurde das Gebäude in zwei Hälften geteilt. Die eine war für Passagiere, die ins Tal wollten und die andere Seite war für Leute, die gerade ankamen. Aus einer Gondel, die gerade oben ankam, stiegen eine kleine Familie und andere Leute aus, die so wirkten, als würden sie hier oben leben. An den Schaltern für die Talfahrt standen ein paar Leute an.
„Kioku, jetzt bist du dran“, meinte Eimi und grinste dabei.
„Natürlich, das Geld“, fiel ihr ein und kramte aus der Tasche den Umschlag. Sie nahm nur so viel heraus, wie sie für die Fahrt brauchten und steckte den Umschlag dann sofort wieder so tief es ging in ihre Tasche. Am Schalter kaufte sie dann vier Fahrkarten. Die Gondel stand schon bereit und die Freunde konnten einsteigen. Die Gondel war aus Metall gebaut und es war Platz für sicherlich fünfzehn bis zwanzig Personen. Die Gondel hing mit einem Stahlarm an einem sehr dicken Drahtseil. Ein weiteres Seil sicherte die Gondel. Mit den Freunden stiegen noch sieben weitere Personen ein. Die Tür wurde von der Person geschlossen, die auch die Fahrkarten am Schalter verkaufte. Dann ging die Fahrt los.
Das Seil bewegte sich und langsam fuhr die Gondel aus der Halle hinaus und schwebte draußen angekommen, schon etwas über den Schnee. Die Bahn führte relativ steil den Berg hinab und schon bald waren die Freunde einige Meter über dem Boden. Durch die großen Fenster hatten die Freunde einen fantastischen Ausblick.
„Schaut mal, wie weit man in die Ferne schauen kann!“, jubelte Takeru und wollte in jede Himmelsrichtung einen Blick erhaschen. Man konnte in der Ferne verschiedene Dörfer und Städte erkennen; hinter einem Hügel schlängelte sich ein Fluss ins Tal. Einige grüne Flecken erkannte man nur auf dem zweiten Blick als Wald. In der Ferne verschwammen die Konturen der Landschaft und man konnte den Horizont nicht mehr als klare Linie erkennen. Die Aussicht war phänomenal.
„Das ist genauso schön wie auf dem Luftschiff, finde ich“, meinte Eimi und lehnte sich entspannt auf seinem Sitz zurück. Er schien die Fahrt richtig zu genießen.
„Nur etwas sicherer“, erklärte Kioku und fuhr sich dabei einmal durch die Haare. Sie wollte nicht noch einmal so etwas durchmachen, wie auf dem Luftschiff.
„Ja, es ist schön“, murmelte Alayna und blickte gedankenversunken in die Ferne.

Die Fahrt dauerte ungefähr zwanzig Minuten. Unten am Fuß des Berges ankommen, befand sich eine weitere Gondelstation, die genauso aussah und aufgebaut war, wie die oben. Ein Mitarbeiter der Station öffnete die Tür der Gondel und die Gäste konnten aussteigen. Danach informierten sie sich am Schalter, wo denn der nächste Bahnhof wäre und die nette Mitarbeiterin erklärte ihnen den Weg. Von der Station aus war es keine halbe Stunde zu laufen. Der Weg führte durch eine kleine Stadt, die aussah wie jede andere normale Stadt. Es gab eine große Hauptstraße, an der sich die Läden aneinanderreihten. Menschen spazierten oder eilten an ihnen vorbei. Es gab Vorgärten zu kleinen Häusern und die Welt schien hier in Ordnung. Obwohl so viel passierte, wirkte diese Stadt sehr friedlich. Männer in komischen blauen Uniformen liefen an den Freunden vorbei, welche nicht erahnen konnten, welchen Beruf sie verübten.
Am Bahnhof angekommen, kaufte Kioku wieder Tickets im kleinen Bahnhofsgebäude und die Freunde gingen aufs Gleis. Der Zug nach Prûo war lang. Die vielen Wagen waren oben cremefarben und unten in einem dunklen rot gestrichen. Auf dem Gleis befanden sich viele Leute, die wahrscheinlich auf diesen oder den nächsten Zug warteten. Es war sehr eng und die Freunde mussten aufpassen, sich in dem Gedränge nicht zu verlieren. Große Reisekoffer standen im Weg, Kinder spielten, obwohl besorgte Mütter sie immer dazu aufforderten, dies sein zu lassen. Es war schwer, an einer großen Gruppe von Menschen vorbeizukommen, die so wirkten, als würden sie gemeinsam einen Ausflug machen. Ziel war, flott einzusteigen, damit sie noch Sitzplätze ergattern konnten. Als Alayna den anderen so hinterherstapfte, blieb sie aus Versehen an einer Person hängen und rempelte sie an. Sie wollte sich umdrehen, um sich zu entschuldigen, aber die Silhouette mit pinken Haaren verschwand schnell in der Menge. Ein komisches Gefühl überkam sie, als hätte sie die Person schon einmal gesehen. Bevor sie sich aber mehr Gedanken darüber machen konnte, zerrte Takeru, der schon halb eingestiegen war, an ihr.
„Komm, Eimi und Kioku sind schon drin“, meinte er und Alayna stieg auch ein. Das komische Gefühl verschwand aber nicht. Sie wollte sich erinnern, woher ihr diese Person so bekannt vorkam.


Kapitel 25 – Ärger im Zug

 Das Erste, was den Freunden im Zug auffiel, war, dass dieser sehr voll war. Es war sehr schwer, einen Sitzplatz zu finden. Erst, nachdem sie durch ein paar Abteile gegangen waren, konnten sie endlich einen finden, der noch frei war. In einem Abteil befand sich der Gang in der Mitte. Auf der linken und rechten Seite befanden sich abwechselnd Gruppen aus jeweils vier oder zwei Sitzen. Bei den Sitzplätzen der Vierergruppe befand sich zwischen den Sitzen ein kleiner Tisch. Die Sitzpolster waren mit einem cremefarbenen Stoff überzogen. Bei den Sitzen der ersten Klassen waren diese sicherlich aus Leder. Die Innenwände des Abteils waren wie außen am Zug in einem dunklen Rot gestrichen. Kleine Lampen befanden sich seitlich an den Fenstern und obwohl es Tag war, brannten die Lichter trotzdem. Über den Fenstern befanden sich Ablagen, auf die man sein Gepäck stellen konnte. Während Kioku, Eimi und Alayna ihre Taschen nach oben verfrachteten, packte Takeru seine Tasche lieber unter den Sitz. Ein Bauchgefühl sagte ihm, dass sie dort sicherer aufgehoben wäre.
Takeru setzte sich ans Fenster. Er betrachtete, noch bevor der Zug losfuhr, das rege Treiben auf dem Bahnsteig. Es war immer noch sehr viel los, obwohl sicherlich die Hälfte der Leute in den Zug gestiegen war. Männer standen mit Aktenkoffern da und aßen etwas, Mütter zerrten an den Mützen und Schals ihrer Kinder, als wären sie nicht gut genug für den Winter eingepackt, Leute unterhielten sich angeregt, ein Bahnhofsangestellter spazierte über den Bahnsteig um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war. Takeru hörte, wie die Türen geschlossen wurden. Er öffnete das Fenster und obwohl es sehr kalt war, steckte er seinen Kopf hinaus. Der Schaffner winkte in Richtung der großen, dunkelroten Dampflok am Anfang des Zuges. Die Freunde befanden sich nun relativ weit hinten, aber Takeru konnte trotzdem die Rauchwolken der Dampflok sehen. Der Schaffner pfiff laut, stieg ein und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Einige Leute auf dem Bahnsteig fingen an zu winken. Langsam verließ der Zug den Bahnhof. Takeru schloss das Fenster und setzte sich wieder auf seinen Platz.

Irgendwie musste er plötzlich an einen Ausflug denken, den er vor ein oder zwei Jahren mit seiner Klasse unternommen hatte. Die Klasse war für drei Tage in die westlichen Wälder gefahren, um in einer Hütte gemeinsam zu übernachten und etwas über die Natur zu lernen. Das war der erste Ausflug gewesen, den Takeru ohne seine Eltern unternommen hatte und er war ziemlich nervös gewesen. Schon Tage zuvor hatte er vor Aufregung kaum schlafen können. Die Klassenlehrerin hatte sich zusammen mit einem anderen Lehrer aus der Schule und den Kindern entschieden, dort drei Tage zu verbringen. Die Zugfahrt hatte zwar nicht lang gedauert, aber für Takeru, der so begeistert von der Dampflok und den Abläufen an einem Bahnhof war, war es wie eine kleine Ewigkeit gewesen. Es war Sommer gewesen und die vorbeiziehenden Schatten der Bäume um die Bahnstrecke hatten auf den Sitzen und dem Boden im Abteil geflackert. Der frische Fahrtwind war dröhnend in das Abteil gedrungen, als Takeru damals das Fenster während der Fahrt geöffnet hatte. Es war zwar ein lautes, aber auch ein gleichmäßiges und beruhigendes Dröhnen gewesen. Takeru war von allem so fasziniert gewesen, dass er es kaum geschafft hatte, auf seinem Platz sitzen zu bleiben. Am Zielbahnhof angekommen, hatten die Schüler noch eine kleine Wanderung zur Hütte unternehmen müssen, die sich mitten in einem riesigen Wald befand. Auf dem Weg dorthin hatten sie schon einiges über die heimischen Bäume und Vögel kennengelernt, die sie auf dem Weg zur Hütte gesehen hatten. Er konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie das helle Sonnenlicht durch die Kronen der Bäume kleine Inseln aus Licht auf den mit Moos und Gräsern bedeckten Waldboden geworfen hatte. Obwohl es Sommer gewesen war, hatte Takeru es im Wald als kalt empfunden. Der süßlich-erdige Geruch war markant und unvergesslich gewesen. Die Hütte war klein gewesen, ausreichend dafür, dass eine Klasse aus ungefähr zwanzig Schülern darin hatte übernachten können. Es hatte drei große Schlafräume gegeben, in denen die Kinder mit Schlafsäcken auf dem Boden hatten übernachten können. Natürlich waren die Schlafräume für Jungen und Mädchen getrennt gewesen. Es hatte jeweils eine Kochgruppe für das Frühstück, das Mittag- und das Abendessen gegeben. Takeru hatte zu den Leuten gehört, die das Frühstück vorbereitet hatten. Die drei Tage in der Hütte waren rasend schnell vergangen. Sie hatten mehr über den Wald erfahren, die darin beheimateten Pflanzen und Tiere zu unterscheiden gelernt, darauf geachtet, wie der Wald wuchs und auch Spuren hinterlassen. Einmal hatten sie aus gefundenen Hölzern Figuren basteln dürfen, die sie wie kleine Wanderleute an den Pfaden entlang des Waldes aufgestellt hatten. Am letzten Tag hatte es einen Wettbewerb gegeben, bei dem zwei Gruppen gegeneinander angetreten waren. Die Aufgabe war gewesen, ein Floß zu bauen, das auf einem kleinen Bach schwimmen sollte, der durch den Wald führte. Dieses sollte nur aus Materialien gebaut sein, welche man im Wald finden konnte. Er hatte zwar gute Ideen eingebracht, jedoch hatte am Ende trotzdem die andere Gruppe gewonnen, deren Floß sich einfach länger über Wasser hatte halten können.

Der Zug rollte endlich aus dem Bahnhof und nahm etwas an Fahrt auf. Eine kurze Weile konnte man noch die Häuser der Stadt sehen, dann wich das Bild schnell schneebedeckten Feldern und Hügeln. Wenn man auf der anderen Seite hinausblickte, entdeckte man die riesigen weißen Flächen der Gebirge, von denen sie sich nun fortbewegten. Der Zug wurde nun schneller. Takeru nahm alle möglichen Geräusche wahr. Der Wind, der von außen gegen die Wände des Waggons drückte, das Rattern über die Gleise und Weichen und das Gerede der Menschen, die sich auch mit im Abteil befanden, mischten sich zu einem merkwürdigen, gleichmäßigen Lied zusammen. Es befanden sich unterschiedliche Leute im Abteil; es waren sicherlich genauso viele alte wie junge Menschen, Frauen und Männer und Kinder darin. Bestimmt hatten sie alle ein anderes Reiseziel. Ob sie sich bewusst waren, unter was für einer Bedrohung das Land stand, in dem sie lebten? Diese Frage kam in Takeru genauso schnell auf, wie sie wieder verschwand.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Alayna plötzlich aufstand.
„Entschuldigt, ich muss da mal kurz wohin, ich habe das Gefühl, dass da jemand ist, den ich schon einmal gesehen habe“, erklärte sie und sah sich dabei um.
„Pass auf dich auf“, meinte Kioku und drückte ihr das Zugticket in die Hand. „Nimm das mit, falls der Schaffner dich kontrolliert.“
Sie bedankte sich und ging los. Der Gang im Zug war gerade breit genug, dass man ohne Probleme hindurch laufen konnte. Der Waggon wankte leicht hin und her, jedoch war das nicht stark genug, um jemanden aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ganz langsam spazierte Alayna, ohne dabei aus dem Fenster zu schauen und die vorbeiziehenden weißen Landschaften zu bewundern, durch den Zug und beobachtete dabei so unauffällig wie es nur ging die Menschen in ihren Sitzen.
Die Silhouette, welche sie vor dem Einstieg erblickt hatte, erinnerte sie so sehr an jemanden, dass sie nun die Antwort brauchte. Als sie vor einer Weile in Funtraprolis hatten übernachten wollen, hatte ihr ein junger Mann mit pinken Haaren die Schlüssel für sein Zimmer gegeben, sodass Kioku, Takeru und sie dort hatten übernachten können. Ein schmerzvolles Zucken fuhr ihr durch den Körper. Die Ereignisse, die danach passiert waren, bereiteten ihr Bauchschmerzen. Nur ungern erinnerte sie sich daran, wie sie gefesselt und gefangen gehalten worden war. Dieses dunkle Gefühl in ihr, welches Jumon auch erkannt hatte, verunsicherte sie. Das Bauchgefühl änderte die Position und ein eiskalter Schauer fuhr ihr über den Rücken, als würde sie jemand beobachten. Vorsichtig drehte sie sich um, aber dort war niemand, der sie beobachtete. Sie ging weiter.
Ob sich dieser junge Mann an sie erinnern würde? Ob es ihm gut ging? Die Ereignisse in Funtraprolis waren erschütternd gewesen, die Stadt war in Chaos versunken. Hatte er vorher schon die Stadt verlassen oder hatte er sich mit anschauen müssen, was dort geschah? Alayna merkte gerade, dass sie sich zum ersten Mal Gedanken darüber machte, was dort passiert war. Sie waren danach so schnell aus der Stadt verschwunden, dass sie kaum mehr darüber hatten nachdenken können, was eigentlich aus den Bewohnern der Stadt wurde. Sie fühlte sich schlecht dafür, bisher kein Mitleid für das Schicksal der anderen empfunden zu haben. Für einen weiteren Moment blieb sie stehen und hielt inne. Wie hatte ihr Vater all das ertragen können, als er auf seiner Reise gewesen war? Wie hatte er sich das alles anschauen und trotzdem mutig und entschlossen bleiben können?
Genau deswegen musste sie diesen jungen Mann suchen, sie musste sich vergewissern, dass er es war und dass es ihm gut ging. Sie überlegte sich auch kurz, ob eine Entschuldigung angebracht wäre. Obwohl ihr auffiel, dass nichts davon ihre Schuld gewesen war. Wieso sollte sie sich entschuldigen? Ein Dankeschön für die Zimmerschlüssel würde genügen. Damit würde ihr schweres Bauchgefühl sicherlich verschwinden. Sie verließ den Waggon und ging in den nächsten.

Eimi beobachtete, wie Kioku aus dem Fenster starrte und die vorbeiziehenden Landschaften betrachtete. Als Alayna die Gruppe verließ, hatte Eimi ein merkwürdiges Gefühl dabei, er entschied sich jedoch, ihr nicht hinterher zu laufen. Es würde schon nichts passieren, sagte ihm sein Verstand.
„Die Zugfahrt dauert noch eine Weile“, fing Eimi an zu reden und wandte sich zu Takeru. „Vielleicht zeigst du mir derweil, wie du das mit der Meditation machst? Ich möchte die Zeit nicht ungenutzt lassen.“
„Das ist eine klasse Idee, Eimi“, antwortete Takeru, schmunzelte aber dabei. Er blickte sich um und deutete auf die ganzen Leute. „Ist es dir nicht zu laut dafür?“
„Ach was“, verneinte Eimi und schüttelte den Kopf. „Aus dem Waisenhaus bin ich solche Lautstärkepegel gewohnt. Ich kann mich da schon konzentrieren. Also, wie stellst du das an?“
„Willst du gleich mitmachen, Kioku?“, fragte Takeru nach. „Dann kann ich das euch beiden gleich erklären.“
„Lass gut sein“, antwortete sie lächelnd. „Ich glaube nicht, dass ich mich hier konzentrieren kann.“
„Also“, erklärte Takeru, „dann machen wir das ohne dich. Schließe deine Augen, Eimi.“
Eimi schloss seine Augen. Er folgte Takerus Anweisungen sofort.
„Du kannst dich ruhig etwas gemütlicher hinsetzen, so wie du dich wohlfühlst. Wenn du gut sitzt, konzentriere dich für eine Weile auf deine Atmung, sodass du gleichmäßig ein- und ausatmest. Nimm tiefe Züge und spüre, wie die Luft deine Lunge füllt. Deine Konzentration verändert sich, blicke auf dein Inneres. Versuche, dich in der Dunkelheit zu finden …“

Takeru sprach mit einer ruhigen Stimme. Das gleichmäßige Rattern des Zuges und die Gespräche im Hintergrund wurden mit jedem Atemzug dumpfer. Takeru, der seine Anweisungen immer wieder wiederholte, wurde irgendwann leiser, bis Eimi ihn nicht mehr hören konnte. In Wirklichkeit war einige Zeit verstrichen, aber für Eimis Empfinden verging die Zeit rasend. Er befand sich nun in einem Zustand, der sich so gut wie Schlaf anfühlte, aber keiner war. Er befand sich ganz bewusst … irgendwo. Wo war er denn genau? Beim Versuch, sich irgendwie zu orientieren, entdeckte er weder irgendeinen Anhaltspunkt, noch irgendein Licht, das ihm vielleicht die richtige Richtung zeigte. Ganz allein war er in einer merkwürdigen Dunkelheit, die sich aber vertraut anfühlte. Er entschloss sich, diesen merkwürdigen Ort trotzdem zu erkunden.

Alayna hatte mittlerweile mehrere Wagen durchquert und den jungen Mann mit den pinken Haaren nicht entdeckt. Sie zweifelte daran, ob er überhaupt eingestiegen war. Nachdenkend stand sie im Gang eines Waggons und hielt sich an beiden Seiten an Griffen fest, die an den Sitzen befestigt worden waren, damit man sich üblicherweise während der Fahrt festhalten konnte.
„Suchen Sie etwas?“, sprach sie plötzlich eine Frau an. „Sie sehen so verloren aus, Schätzchen.“
Alayna drehte sich um. In der Ecke neben der Tür, an der es kein Fenster gab, saß eine Frau in einem schwarzen, schlichten Kleid. Ein ebenfalls schwarzes Stirnband hielt ihre pinken, langen und teils gestuften Haare aus der Stirn. Ihre gelbgoldenen Augen starrten sie direkt an. Ein merkwürdiges Gefühl überkam Alayna, als sie von dieser Frau so angestarrt wurde. Die Falten im Gesicht ließen sie alt erscheinen, sie war sicherlich schon in ihren Vierzigern. Das Merkwürdige an der Frau war nicht, dass sie kein Gepäck, geschweige denn eine Handtasche mit sich trug, noch, dass sie so alleine in einer dunklen Ecke saß, sondern ihre Augen. Diese Augen wirkten so vertraut, aber gleichzeitig auch abschreckend. Bei genauem Betrachten entdeckte Alayna, dass sich in ihrer Iris dunkelgelbe Ringe befanden.
„Suchen Sie etwas?“, wiederholte die Frau ihre Frage, als hätte Alayna sie beim ersten Mal nicht wirklich verstanden.
„Tatsächlich“, murmelte Alayna und sah sich noch einmal unsicher um, als ob sie erwarten würde, dass die anderen Menschen dieses Gespräch mitbekamen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, sprach die Frau wieder und stand auf. „Also bei der Suche, versteht sich.“
Als sie aufstand, glänzte ihr Haar besonders. Die sehr schlanke Frau wirkte sehr edel auf Alayna. Diese spontane Hilfsbereitschaft verunsicherte sie jedoch. Irgendetwas an dieser Situation kam ihr so merkwürdig bekannt vor. Während die Augen der Frau, ohne dabei zu blinzeln, keine Sekunde lang den Blickkontakt unterbrachen, sah Alayna vor sich genau die Situation mit dem jungen Mann im Hotel, den sie eigentlich suchte.
„Ich suche einen jungen Mann, der ungefähr ihre Haarfarbe hat“, erklärte Alayna.
„So ist das also“, murmelte die Frau und streckte ganz langsam ihre dürre Hand nach Alayna aus. Gerade als Alayna zu realisieren versuchte, was geschah, wie merkwürdig und bedrohlich diese Situation war und wie paralysiert ihr Körper durch den starren Blick der Frau war, kam der Zug mit lautem Krachen schnell zu stehen, als hätte jemand die Notbremse gezogen. Alayna konnte sich nicht rechtzeitig festhalten und wurde durch den plötzlichen Ruck zu Boden geworfen. Sie sah, wie einige Koffer und Taschen von den Regalen flogen, wie Menschen sich gegenseitig festhielten und wie ein Vater seine Kinder vor dem Aufprall beschützen wollte. Ganz langsam sah sie die Sachen passieren, bis der harte, schmerzvolle Aufprall sie in die Realität zurückholte. Ihr erster Gedanke galt der Frau. Jedoch dachte sie nicht daran, wie unheimlich sie ihre Hand nach ihr ausgestreckt hatte, sondern wie ihr Gesicht für einen winzigen Augenblick so ausgesehen hatte, wie das des jungen Mannes, den sie eigentlich suchte.
Alayna stand auf, rieb sich den linken Ellbogen, den sie sich schmerzhaft gestoßen hatte und erkannte, dass die Frau verschwunden war. Schnell drängte sie sich an den Menschen vorbei, die ihr Hab und Gut wieder aufräumten, um zu ihren Freunden zu gelangen.

Etwas zuvor war Eimi aus seiner Meditation erwacht, als eine größere Menschenmenge bestürzt von dem vorherigen Abteil in ihres flüchteten. Sie waren dabei so laut und panisch gewesen, dass Eimi sich nicht mehr auf die Meditation hatte konzentrieren können. Er war enttäuscht, weil er außer einer dunklen Leere noch nichts entdeckt hatte.
„Und, wie war‘s?“, fragte Takeru, der ebenfalls aus seiner Meditation erwachte. „Hat es was gebracht?“
Eimi schüttelte den Kopf.
„Es ist nicht so wild“, erklärte Takeru. „Jumon meinte, dass der Prozess etwas dauern kann. Beim nächsten Mal klappt es vielleicht.“
„Danke für den Trost“, meinte Eimi. Es kamen nun wieder mehrere Menschen aus dem vorderen Abteil in ihres. Die Menschen wirkten sehr aufgebracht, einige redeten wild durcheinander, ein dicker Mann wollte sich an mehreren Menschen vorbeidrängen, um als Erster einen der seltenen neuen Sitzplätze zu ergattern.
„Was ist da los?“, hakte Eimi nach, aber weder Kioku noch Takeru wussten darauf eine Antwort. „Wir sollten lieber nachschauen, nicht, dass etwas mit Alayna passiert ist.“
„Gute Idee“, meinte Kioku. Eimi schnappte sich seinen Poncho und sein Schwert und gemeinsam drängten sie entgegen dem Strom zur Ursache des Geschehens. Zwei Abteile weiter war es plötzlich menschenleer, nur fünf Gestalten bedrängten eine junge Frau. Ein großer, muskelbepackter Mann mit kurzgeschorenen, schwarzen Haaren hielt mit seiner riesigen Hand die Frau am Arm, sodass sie nicht fliehen konnte. Der Versuch, sich gegen diesen Mann zu wehren, scheiterte vergeblich. Man konnte sehen, dass die Frau bald keine Kraft mehr haben würde. Ein weiterer großer und stark wirkender Mann stand etwas weiter hinten und wirkte so, als würde er den Durchgang zum nächsten Abteil blockieren. Er trug eine Wollmütze. Dann war da noch eine Frau mit violetten, glatten Haaren, die in der einen Hand ein Klemmbrett mit Papieren trug und mit der anderen Hand dort etwas notierte. Sie trug einen weißen Kittel und trug knallroten Lippenstift. Ein kleiner Mann mit einer großen, auffälligen Brille kramte aus einer zusammenrollbaren Ledertasche eine kleine Phiole und eine Spritze heraus. Es schien, als wollte er der Frau eine Dosis irgendeines Mittels verabreichen. Er trug einen knielangen dunkelgrauen Mantel aus Gummi, dessen Knöpfe auf dem Rücken waren. Dann war da noch ein Mann, der ebenfalls einen weißen Kittel trug und der festgehaltenen Frau mit seiner Hand gerade zärtlich die Haare aus dem Gesicht streichen wollte, wobei die Frau sich jedoch schreiend wehrte.
„Was machen Sie mit der Frau?“, fragte Eimi laut, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine Hand hielt er unter seinem Poncho bereits am Griff seines Schwertes. Einerseits war er beruhigt, dass die Frau nicht Alayna war, andererseits spürte er die Bedrohung, die von diesen fünf Personen ausging.
Jedoch ließen sich der Mann mit der Spritze, die Frau mit dem Klemmbrett und der Muskelprotz nicht beirren und fuhren mit ihrem Vorhaben fort. Einzig der blonde Mann im Arztkittel drehte sich zu Eimi um und setzte dabei plötzlich einen merkwürdig netten Gesichtsausdruck auf.
„Oh, machen Sie sich keine Sorgen“, antwortete er höflich. „Wir kümmern uns um diese arme, kranke Frau.“
„Einen Scheißdreck tut ihr!“, schrie die Frau hysterisch und versuchte sich loszureißen. „Lasst mich in Frieden!“
„Ihr müsst verzeihen, die Frau leidet unter dem Ganser-Syndrom. Wir helfen ihr nur, indem wir sie mit ausreichend Medizin behandeln. Sie müssen sich keine Sorgen machen, die Spritze, die wir der Frau verabreichen, macht sie gleich nur etwas müde. Racun, fahre fort“, erklärte er und bat den Mann mit der Brille, der Frau die Spritze zu verabreichen.
„Das stimmt gar nicht! Lassen Sie mich los! Ich kenne diese Leute gar nicht!“, schrie die Frau wieder.
„Aber, aber, Frau Murcha, Sie wissen doch genau, dass sich Ihre Krankheit auch amnestisch auswirkt und sie ganz oft vergessen, was um Sie herum passiert“, erläuterte der blonde Mann weiter. „Bitte machen Sie sich keine Gedanken, Sie können sich wieder in ihr Abteil begeben.“
„Irgendetwas ist komisch“, flüsterte Takeru Kioku zu, die bestätigend nickte.
„Über was auch immer Sie da reden“, sprach Kioku selbstbewusst, „wir glauben Ihnen nicht. Bitte lassen Sie die Frau gehen.“
„Lasst mich verdammt nochmal gehen!“, schrie die Frau nun viel lauter und versuchte, den Muskelprotz zu beißen, der aber mit Leichtigkeit ihren Kopf festhielt und sich so schützen konnte.
Die violetthaarige Frau notierte sich wieder etwas auf ihrem Klemmbrett und der Mann mit der Spritze fuhr fort.
„Tz, tz, tz“, schüttelte der Blonde den Kopf und kam den Freunden einen Schritt näher. „Ich fürchte einfach, dass das nicht geht. Unsere liebe Frau Murcha ist etwas ganz Besonderes und wir behandeln diese Frau.“ Der Ausdruck auf seinem Gesicht hatte sich schlagartig geändert. Nun blickte der Mann finster und bedrohlich.
„Racun, fahre fort“, sprach er und der Mann mit der Brille tat dies. Er entnahm mit der Spritze etwas Flüssigkeit aus der Phiole und hielt die Spritze bedrohlich nach oben. Der Muskelprotz nahm die Arme der Frau und hielt sie auf ihrem Rücken fest. Die Schmerzen, die sie dabei hatte, konnte man aus ihrem Gesicht herauslesen.
Es reichte Eimi zuzuschauen, dass diese offensichtlich unschuldige Frau so von diesen Typen bedroht wurde. Er ging auf die Gruppe zu, doch der blonde Mann stellte sich ihm in den Weg. In diesem Moment wollte er gerne sein Schwert ziehen, doch er merkte, dass in dem engen Gang zwischen den Sitzplätzen kaum Platz dafür war, sein Schwert zu ziehen.
Die Spritze kam der Frau bedrohlich nahe und auf einmal schien alles wie in Zeitlupe vor Eimis Augen abzulaufen. Er sah aus dem Augenwinkel, dass Takeru über die Sitze kletterte und an der Notbremse zog, die sich über den Fenstern befand. Mit einem unglaublich lauten Quietschen kam der Zug ruckartig zum Halten, während er noch etwas über die Gleise glitt. Auf einen Schlag warf es alle Personen im Abteil nach vorne. Eimi sah, wie der Muskelprotz nicht aufhörte, die Frau festzuhalten und sich gegen die Sitze presste, um nicht umzufallen. Der andere Typ mit der Mütze stemmte sich mit aller Kraft an eine Wand und so konnte er stehen bleiben. Takeru schleuderte es mit einem mächtigen ‚Wumms‘ mit dem Kopf voran über die Sitze. Er stieß sich dabei schmerzvoll seinen Rücken. Kioku fiel auf die Knie und schaffte es noch, sich an den Sitzflächen festzuhalten, ohne ganz auf den Boden zu fallen. Danach ging alles schnell. Im Liegen drückte der Mann mit der Brille die Spritze in die Wade der Frau, die wenige Sekunden danach in sich zusammensackte. Der Mützenmann riss die Tür des Waggons nach draußen auf und half dem Blonden und der Frau mit Klemmbrett hinauszusteigen. Kurz darauf flohen auch die anderen zwei Männer; der große trug dabei die ohnmächtige Frau nach draußen. Von draußen hörte er die Worte des blonden Mannes: „Scheint so, als müssten wir unseren Plan etwas früher umsetzen, wir müssen hier auf Team B warten!“
Mit aller Kraft stemmte sich Eimi auf und stürmte nach draußen, ohne Kioku und Takeru dabei zu beachten. Mit einem großen Sprung kam er auf dem dreckigen Boden neben dem Zug auf. Er erkannte, dass nicht weit entfernt eine kleine Stadt war, die vielleicht in einer halben Stunde zu Fuß erreichbar war. Die fünf Personen gingen auf das Feld hinaus.
„Halt!“, schrie Eimi, so laut er konnte und zog dabei endlich sein Schwert. „Lasst die Frau gehen!“ Er rannte los und bemerkte dabei, dass sein linkes Knie vom Aufprall auf den Boden schmerzte. Er ignorierte dies jedoch so gut es ging. Mit vollem Selbstbewusstsein und einem lauten Kampfschrei rannte er auf den großen Mann zu, der die entführte Frau trug. Jetzt war die Möglichkeit gekommen, die ersten Dinge, die er im Training gelernt hatte, auch anzuwenden. Adrenalin schoss durch seinen Körper, der sich dadurch viel leichter bewegen ließ. Er bildete sich ein, dass er nun schärfer sah. Mit voller Wucht wollte er dem Mann einen Seitenhieb verpassen. Jedoch hielt dieser das Schwert mit einer Hand fest.
„Racun und Andme, kümmert euch nicht weiter darum“, befahl der blonde Mann und sprach mit dem kleinen Mann und der violetthaarigen Frau. „Palar und Vodvar erledigen das.“ Er schnippte und der eine Mann ließ die Frau sanft auf den Boden nieder. Dann gingen beide Muskelprotze auf Eimi los.
Palar, der Mann mit der Mütze, rannte auf Eimi los und wollte ihn mit seiner Seite rammen. Kurz bevor er zu Eimi kam, warf sich Kioku plötzlich dazwischen, die ebenfalls aus dem Zug gekommen war. Mit voller Wucht bekam sie die ganze Kraft dieses riesigen Kerls mit und wurde zu Boden gestoßen. Bevor Eimi sich aber zu ihr umdrehen konnte, um ihr zu helfen, riss Vodvar sein Schwert zur Seite und er wurde mitgezogen. Er schlitterte über den steinigen Boden. Kioku und Eimi standen wieder auf und versuchten erneut gegen die zwei Typen anzutreten. Eimi schwang sein Schwert und versuchte durch die Deckung Vodvars zu gelangen. Kioku strengte sich an, ihr Band, welches sie um ihr Handgelenk trug, zu kontrollieren. Jedoch klappte es nicht. Eine riesige Faust kam auf sie zugeschossen und sie wich im letzten Moment noch aus. Sie duckte sich unter den Arm des Angreifers und rammte ihre Fingerknöchel direkt in eine empfindliche Stelle am Oberarm, nahe der Achsel. Der Arm Palars zuckte und er ging einige Schritte zurück. Vodvar ließ sich von Eimis Angriff treffen; Eimi kassierte dafür aber einen mächtigen Tritt in seine Magengegend. Er taumelte röchelnd zurück und ließ sich auf seine Knie fallen. Wie konnte es sein, dass selbst mit dem Training, das er gemacht hatte, einfach keine Chance gegen diese Leute hatte? Er hatte keinerlei Kampferfahrung und das Training war erst einige Tage her. Er war zu schwach. Eimi blickte zu Kioku, die schon wieder schreiend auf Palar zurannte, aber dafür auch einige Tritte und Hiebe erleiden musste. Es war auswegslos und es dauerte nicht lange, da lag sie auch auf dem Boden. Nun kam Takeru aus dem Zug angerannt und überprüfte, ob es Kioku gut ging. Wut stieg in ihm hoch.
„Tak, lass es bleiben! Sie sind zu stark!“, rief Eimi ihm zu, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Bauch hielt.
„Aber sie haben diese Frau!“, brüllte Takeru und stand auf. „Wir können diese Leute nicht einfach davonkommen lassen!“
„Lass es!“, rief auch Kioku, die versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
Takeru ignorierte den Rat seiner Freunde und ging auf diese Truppe zu. Während Vodvar die bewusstlose Frau wieder über seine Schulter warf, stand allein Palar vor ihm und lachte, während er sich kurz unter seiner Wollmütze kratzte.
Als er diesem Riesen gegenüberstand, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. War dies das Gefühl, dass sein Vater gehabt haben musste, als er auf Reisen gegangen war? Dieses ungute Gefühl, das Angst, aber auch Wut war, das Verzweiflung aber auch Hoffnung war, sprudelte in ihm hinauf. Er schloss kurz seine Augen und dachte an Jumons Worte, dass, wenn er den Schlüssel zu sich selbst fand, er seine Kräfte entdecken würde. Takeru ballte seine Fäuste und zwang sich, einen Schlüssel zu finden. So wie sein Vater es getan hatte. Er wollte auch mutig, stark und selbstbewusst sein. Er wollte Menschen retten.
Ein Zucken fuhr durch seinen Arm und mit einem lauten Brüllen rannte er auf Palar zu und versuchte ihn zu schlagen. Für einen sehr kurzen Moment sahen Eimi und Kioku aus der Entfernung einen transparenten dunklen Nebel, der sich um Takerus Faust bildete, als er Palar schlagen wollte. Sie wurden jedoch abgelenkt, weil ein lautes Getrappel zu hören war. Was sie bisher nicht gemerkt hatten, war, dass eine Kutsche mit vier Pferden direkt zum Geschehen fuhr. Die Kutsche wurde langsamer und öffnete zwei Flügeltüren. Der blonde Mann, Andme, Racun und Vodvar sprangen hinein. Palar wich der Attacke Takerus aus, statt sie zu blocken. Takeru kam dabei ins Wanken und fiel zu Boden.
„Palar, beweg dich!“, schrie der Blonde und winkte seinen Kollegen zur Kutsche. Schnell rannte er zur Kutsche und die Türen wurden geschlossen. Mit einem lauten Peitschenhieb trieb der Fahrer die Pferde dazu an, sich schnellstmöglich wieder in Bewegung zu setzen. Sie flohen.

Als etwas zuvor Alayna auf die Beine kam, sah sie die pinkhaarige Frau gerade durch die Abteiltür stürmen. Sie versuchte der Frau hinterherzulaufen. Sie hatte das Gefühl, dass die Frau etwas mit dem jungen Mann zu tun hatte, den sie eigentlich suchte.
Im nächsten Abteil angekommen, kam sie nur schwer voran. Viele der Menschen versuchten nach dieser Notbremsung wieder auf die Beine zu kommen, sie halfen sich gegenseitig hoch, stellten ihre Koffer wieder auf die dafür abgesehen Ablagen und überprüften, dass niemand verletzt war. Es war jetzt noch enger und voller geworden, es schien, als wären einige mehr Menschen nun in dem Abteil. Vorsichtig und sich ständig entschuldigend quetschte sich Alayna an den Menschen vorbei. Sie sah die pinkhaarige Frau nicht mehr. Es dauerte eine Weile, bis sie zu einem leeren Abteil kam, dessen Tür weit offen stand. Sie blickte nach draußen und sah Eimi, Kioku und Takeru auf dem Boden liegen, während eine schwarze, große Kutsche sich von ihren Freunden wegbewegte. Auf dem Dach der Kutsche lag die pinkhaarige Frau und fuhr als unbemerkter Gast mit.
Als ihr Bruder laut schreiend auf den Boden trommelte, sprang sie auch aus dem Zug und rannte zu ihren Freunden. Während sie ihnen aufhalf, erzählte Eimi ihr, was passiert war. Die Kutsche verschwand in der Ferne. Dieses Mal hatten sie verloren.


Kapitel 26 – Wir sind die Schutztruppe

 Ein eiskalter Wind peitschte an die Fenster des roten Waggons. Eines der Lichter im Abteil flackerte leicht. Ta-keru fand es auf einmal sehr still. Eine merkwürdige Stille war eingekehrt, als die Freunde der dahinrasenden Kutsche hinterhergeblickt hatten und wussten, dass diese fremde Frau gerade entführt worden war. Ihm war es bewusst, dass so etwas auf der Welt passierte, aber dass dies wirklich vor seinen Augen geschehen war, scho-ckierte ihn. Alayna, der das ganze Geschehen erzählt worden war, saß da und wusste nicht, was sie sagen sollte. Kioku sah mit einem enttäuschten und auch wütenden Blick aus dem Fenster und wirkte auf einmal sehr unnah-bar. Eimi machte aber einen noch wütenderen Eindruck auf Takeru. Er versteckte sein Gesicht hinter zusam-mengefalteten Händen und blickte nur auf den Boden.
Der Schaffner und der Lokführer waren, gleich nachdem der Zug angehalten worden war, aus dem Zug gestie-gen und hatten überprüft, was passiert war. Sie hatten die Freunde darum gebeten, wieder einzusteigen, sodass sie die Weiterfahrt vorbereiten konnten. Über Funk hatte der Lokführer die zuständigen Behörden im End-bahnhof in Prûo informiert, welche sich um den Fall kümmern sollten. Außerdem hatte er die Freunde gebeten, in Prûo noch zu warten, bevor sie den Bahnhof verließen. Die Freunde sprachen die ganze restliche Fahrt über nicht miteinander.

So rollte der Zug nach einer Weile endlich in der Metropole ein. Der Bahnhof war von einer riesigen gläsernen Kuppel überdacht, deren Segmente von feinen, aus schwarzem Stahl in Blumenform gestalteten Elementen zu-sammengehalten wurden. Die breiten Bahnsteige besaßen in regelmäßigen Abständen voneinander Bänke, die von großen, ebenfalls blumenförmigen Laternen beleuchtet wurden. Als der Zug so langsam zu stehen kam, die Leute hastig ausstiegen und davoneilten, als wäre nichts passiert, blieben die Freunde noch einen kurzen Mo-ment sitzen. Der Schaffner kam in das sonst leere Abteil und nickte den Freunden zu, dass sie ihm folgen sollten.
„Sie werden erwartet“, sprach er und begleitete sie nach draußen. Auf dem Bahnsteig wartete eine kleine Gruppe von blaugrau uniformierten Männern. Der Anführer, der sich dadurch von den anderen unterschied, dass er einen Hut mit einer großen Krempe trug und statt der Uniform einfach nur ein blaukariertes Hemd und eine hellbraune Lederweste trug, kam auf die Freunde zu. Ein glänzender Stern in einem Wappen war auf Höhe der Brust an der Weste befestigt. Takerus erster Gedanke war, ob dieser Mann denn nicht fror, es war ja im-merhin noch Winter. Sein zweiter Gedanke galt dem Ausdruck in seinem Gesicht, das einen so netten und hilfs-bereiten Eindruck machte, dass er sich gleich wohl fühlte.
„Mein Name ist Pecos“, stellte sich der Anführer vor. „Wo sind denn eure Erziehungsberechtigten?“
Tak warf einen Blick zu seinen Freunden und antwortete dann: „Wir sind eben gerade auf der Suche nach unse-rem Vater.“
„Das macht die Sache etwas komplizierter“, meinte Pecos und kratzte sich einmal unter seinem Hut.
„Jedoch bin ich alt genug, die Verantwortung zu übernehmen“, sprach Kioku.
„Dann folgt uns bitte, auf dem Revier könnt ihr einen Tee oder Kaffee haben und wir besprechen dann, was passiert ist und wie es weitergeht.“
So liefen die Freunde den fünf Männern hinterher. Takeru bemerkte, dass die Menschen auf dem Gleis sie merkwürdig anstarrten. Er deutete die Blicke der Personen und verstand diese als verachtend, wie als hätten sie etwas verbrochen. Seine Hand zuckte nervös; seit dem Vorfall kribbelte sie leicht und dieses merkwürdige Ge-fühl hörte nicht auf.

Kurz darauf verließen sie das Bahnhofsgebäude, das aus riesigen weißen Steinen erbaut worden war. Etliche unzählige Menschen wanderten mit strengen Blicken an ihnen vorbei. Hier und da bellte ein Hund, anderswo zerrte eine Mutter ihr Kind in ein Geschäft. Takeru entdeckte auf einer Wiese eine Blume, die sich als Vorbote des Frühlings durch die dünne schneeweiße Decke drückte.
Sie erreichten ein weiteres weißes Steingebäude, dessen Eingang über eine überdachte Treppe erreichbar war. Das kleine Dach wurde von weißen Säulen gehalten. Das Gebäude sah auf den ersten Blick recht schmal aus, jedoch erkannte man von der Seite, dass es sich lang nach hinten zog.
Pecos führte die Freunde durch den Eingang in eine große Halle, in der viele Schreibtische standen, an denen uniformierte Mitarbeiter arbeiteten. Sie schrieben Briefe, unterzeichneten Unterlagen und sortierten diese in verschiedene Ordner ein. An einem Tisch machten zwei Frauen gerade Pause und tranken einen Kaffee. An einem anderen Schreibtisch saß gerade eine sehr bedrückt wirkende Frau; ihr Gesicht grub sich verzweifelt in ihre Hände, die Haare fielen strähnig und leblos an ihr herab. Die Person am Schreibtisch versuchte sie irgend-wie zu beruhigen, aber es hatte keinen Zweck, denn die Frau brach in Tränen aus.
Pecos führte die Freunde in sein Büro und verabschiedete sich von den Kollegen, die gerade noch bei der Gruppe waren. Sein Büro bestand aus einem Schreibtisch und mehreren Schränken mit Büchern und Ordnern. Auf der linken Seite befand sich eine weitere Tür. Die weißen Wände waren leer, es gab keine Pflanzen in dem Raum, weswegen dieser kalt wirkte. Er lud die Freunde an, an einem kleinen Tisch Platz zu nehmen. Kurz darauf kam seine Sekretärin rein, grüßte sie und stellte vier Gläser mit Wasser auf den Tisch.
„Willkommen im Präsidium Abteilung 1 der Schutztruppe Ruterions. Ich bin Hauptkommissar Pecos und unter-suche seit längerer Zeit einen Fall, der mit eurem Geschehnis in Verbindung stehen könnte. Warum seid ihr ohne Eltern unterwegs?“
„Wir suchen sie gerade“, antwortete Takeru knapp. Er sah seine Freunde an, die immer noch einen merkwürdig bedrückten Eindruck auf ihn machten. Dann betrachtete er Pecos, der sich etwas auf einem Stück Papier notier-te.
„Was genau ist während der Zugfahrt vorgefallen?“, fragte Pecos, ohne von seinem Papier aufzublicken.
„Es hat jemand Hilfe gebraucht“, gab Eimi zur Antwort, „und wir konnten der Frau nicht helfen.“
„Kannst du bitte genauer beschreiben, was passiert ist?“
Eimi erzählte Pecos den Vorfall. Er beschrieb Pecos so detailliert, wie er nur konnte, die fünf Personen, wie sie aussahen und was sie genau getan hatten. Dabei versuchte er, so genau wie nur möglich jedes Detail einzubrin-gen. Wenn er etwas nicht so genau wusste, sprang Kioku ein und erzählte unter anderem, dass die entführte Frau braune Haare hatte.
Takeru beobachtete Pecos, wie er sich die Sachen aufschrieb und bemerkte, dass er dabei weder große Freude noch Enttäuschung zeigte, wenn etwas nicht beschrieben werden konnte, wie zum Beispiel in welche Himmels-richtung die Entführer geflohen waren. Eimi hingegen wirkte sehr emotional auf ihn. Takeru bemerkte, wie sehr Eimi es ärgerte, dass sie nichts gegen diese Entführung hatten unternehmen können. Auch er selbst ärgerte sich, aber Eimi nahm das wohl ganz anders mit.
Pecos stand auf und blickte aus dem Fenster, nachdem Eimi alles fertig beschrieben hatte. Für einen kurzen Moment sagte er nichts. Dann drehte er sich zu den Freunden um. Takeru konnte nicht ganz festmachen, was Pecos Gesichtsausdruck bedeuten sollte.
„Einerseits möchte ich euch sagen, dass es unverantwortlich ist, diese Form von Selbstjustiz durchzuführen. Es ist ungemein gefährlich, sich in solche Angelegenheiten mit einzumischen.“ Er blickte sehr wütend drein, als wäre er ein Vater, der seine Kinder gerade bestrafen wollte. „Doch andererseits ist es großartig, dass ihr der Frau zur Hilfe eilen wolltet. Jedoch solltet ihr zuerst immer jemanden der Schutztruppe aufsuchen; es gibt mitt-lerweile in jeder Stadt und jedem Dorf ein Präsidium. Es ist unser Job, die Bürger zu schützen, deswegen nutzt diese großartige Möglichkeit. Wenn ihr niemanden von uns findet, dann sprecht doch wenigstens noch ein paar Erwachsene an.“
Takeru fand das es sehr merkwürdig, wie er mit ihnen sprach, als wären sie alle Kinder. Kioku war immerhin schon erwachsen und Eimi und Alayna würden es bald sein. Aber vielleicht musste Pecos das sagen, weil es zu seinem Job gehörte.
„Wie wird es jetzt weitergehen? Wie wird der Frau geholfen?“, fragte Eimi forsch.
„Wir kümmern uns darum“, sagte Pecos knapp. Doch bevor Eimi fragen konnte, was dies bedeute, öffnete sich die Tür und die Sekretärin lugte herein.
„Pecos, dein Termin ist hier“, sprach sie und winkte ihn heraus.
„Bitte wartet hier“, meinte Pecos und ging seiner Sekretärin hinterher. Er schloss die Tür nicht ganz und Tak konnte sehen, dass er jemandem in dunklen Klamotten die Hand schüttelte. Nebenan öffnete sich eine Tür und ging wieder zu.
„Das war es jetzt? Wir sitzen hier rum und warten, bis diese Leute die Frau retten?“, fragte Eimi entsetzt. Takeru sah ihm an, wie schuldig er sich fühlte.
„Was bleibt uns übrig?“, entgegnete Kioku und stand auf. „Wir haben keinerlei Anhaltspunkte, wo sie sie hinge-bracht haben konnten. Wenn Pecos sagt, dass sich die Schutztruppe darum kümmert, dann wird das wohl so sein. Sie sehen hier sehr organisiert aus.“
Eimi stand ebenfalls auf und sah sie entsetzt an. „Du willst sie einfach aufgeben?“
„Das habe ich nicht gesagt.“ Kiokus Blick wurde langsam ernster. „Uns wird doch geholfen, Eimi. Schau dich um, die haben in diesem Land eine riesige Organisation, die für den Schutz der Bürger zuständig ist.“
Alayna saß zwischen den beiden und wirkte plötzlich, als wäre ihr die Situation sehr unangenehm.
„Eimi, du hast dein Bestes gegeben, das haben wir alle. Es ist einfach in die Hose gegangen, aber das ist nicht schlimm! Wir können froh sein, dass wir uns auf diese Leute hier verlassen können.“
„Aber wenn ich nicht einmal so etwas schaffe, wie kann ich dann euch beschützen!?“ Er sackte auf einem Stuhl zusammen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Seine Stimme klang auf einmal weinerlich. Jetzt hatte er es ausgesprochen, dachte sich Takeru. Er stand auf und legte seine Hand auf seine Schulter. Seine Schwester tat das gleiche.
„Wir sind alle füreinander da“, brachte sich Takeru auch ein und lud mit einem Nicken Kioku ein, sich wieder zu versöhnen.
„Ja, wir passen alle auf uns gemeinsam auf“, sagte Alayna.
„Wir danken dir, dass du dein Bestes gibst“, bedankte sich Kioku. Für einen kurzen Moment, als sie in diesem Raum waren und es um sie herum plötzlich ganz still wurde, spürten sie, dass diese negativen Gefühle, die gera-de noch da gewesen waren, auf einmal durch etwas Großartiges ersetzt wurden. Sie sagten für eine Weile nichts. Erst, als Takeru im Raum nebenan Stimmen wahrnahm, die Pecos und eine andere sein mussten, wurde er neugierig. Er schlich zu der anderen Tür und drückte sein Ohr auf das dunkle Holz.
„Er redet gerade über die Entführung“, flüsterte er laut und winkte seine Freunde an die Tür. Kurz darauf press-ten alle ihre Ohren an die Tür. Pecos sprach mit jemanden, der Kioku von der Stimme her irgendwie bekannt vorkam. Die Freunde hörten durch die dicke Holztür leider nur Brocken wie „Labor“, „Experimente“, „es ver-schwinden viele Personen“ und „noch keine Zusammenhänge feststellbar“. Es machte noch keinen wirklichen Sinn, was in diesem Gespräch erklärt wurde. Jedoch deuteten die Wortfetzen stark in eine Richtung.

„Pecos!“, hörten die Freunde eine Stimme von draußen und beim Versuch schnell von der Tür wegzukommen, stolperten die Freunde übereinander. Als sich Takeru aufrichtete, stand eine große schlanke Frau vor ihm, de-ren lange, rosafarbenen Haare glatt herunterfielen. Sie hatte einen dunklen magentafarbenen Hosenanzug an. Verurteilend schob sie ihre Brille auf der Nase hoch und verzog eine Augenbraue. Kurz darauf kam die Sekretä-rin hineingestürmt und sprach zu der Frau. „Senatorin Fusai, Pecos ist gerade noch in einer Einsatzbesprechung, die könnte noch eine Weile dauern. Einen Kaffee?“
Dann erkannte die Sekretärin, dass die Freunde gerade dabei waren, aufzustehen und schmunzelte dabei. Die Senatorin nickte ihr zu und saß sich dann auf einen der Stühle, die vor dem Schreibtisch standen.
„Ihr seid also hier“, sprach sie locker, als würde sie die Freunde kennen. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig zu einem netten, freundlichen Lächeln. „Ich hätte niemals gedacht, dass Ginta so schöne Kinder hat. Ihr seht genauso aus wie eure Eltern.“
Sie schob sich noch einmal die Brille nach oben und lehnte sich dann vor. „Dann bist du also Eimi und du Kioku, richtig? Jumon hatte euch im Brief extra beschrieben, damit ich euch nicht verwechsle. Ich mein, war das unbe-dingt nötig? Denkt er, ich bin eine alte Schreckschraube und erkenne Gintas Kinder nicht, wenn sie vor mir ste-hen? Jumon hat euch bis aufs kleinste Detail genaustens beschrieben. Finde ich etwas übertrieben.“
Sie lachte einmal verzweifelt. Dann kam die Sekretärin erneut herein und brachte der Frau einen Kaffee.
Die Freunde wussten erst gar nicht so richtig, wie sie reagieren sollten. Die Frau nippte an ihrem heißen Kaffee und stellte die Tasse wieder auf den Schreibtisch.
„Es ist sehr unhöflich von mir, mich so vorzustellen. Ich bin Sayoko, eine alte Freundin eures Vaters. Ohne ihn wäre ich heute nicht hier, schätze ich“, stellte sie sich lächelnd vor.
„Dann kannst du uns helfen, wie es Jumon uns gesagt hat“, freute sich Takeru.
Sie trank wieder etwas von ihrem Kaffee, pustete aber vorher, um ihn etwas abzukühlen. „Richtig. Deswegen bin ich auch gleich hierher gekommen, um mit Pecos an einem Einsatzplan zu arbeiten. Ich glaube, dass hinter dem Verschwinden eures Vaters etwas Größeres steckt. Ich möchte verhindern, dass sich so etwas wie vor neunzehn Jahren wiederholt.“
Takeru sah seine Schwester an. Dank Jumon wussten sie endlich, was vor so vielen Jahren passiert war und was ihr Vater hatte verhindern können. Was meinte Sayoko damit, dass es sich wiederholen könnte? War ihr Vater verschwunden, damit sich diese Dinge wiederholen konnten? Plötzlich, als er sich darüber Gedanken machte, erkannte Takeru etwas Neues an seiner Schwester. Ihre türkisenen Augen leuchteten auf einmal. Die Angst und die Sorgen, die er vorher in ihren Augen gesehen hatte, wichen langsam einem merkwürdigen Leuchten. Gera-de, als Takeru fragen wollte, was Sayokos Plan war, sprach Alayna.
„Wie genau stellst du dir das vor, Papa zu finden?“, fragte sie. „Was ist dein Plan? Was kann diese Schutztruppe überhaupt machen? Was ist diese Schutztruppe überhaupt genau?“
„Ich finde das hier alles auch ziemlich verwirrend“, meldete sich Eimi zu Wort. „Bei uns zu Hause gibt es so etwas wie eine Schutztruppe gar nicht.“
„Ich weiß, dass auf eurem Kontinent die Systeme einfach noch etwas veraltet sind. Ihr habt kleine Gruppen von Bürgerwehren in euren Städten und Dörfern, richtig? Aber eure juristischen Systeme sind sehr schwach. Nach-dem ich Senatorin geworden bin und die Stadtstaaten Ruterions sich zu einem ruterischen Bund zusammen-schlossen haben, erarbeiteten wir ein Sicherheitskonzept, was die gesamte Sicherheit Ruterions gewährleistet. Wir haben also diese staatlich überwachte Organisation der Schutztruppe entwickelt, die unser Inneres schützt. Außerdem führen wir immer noch neue Präsidien in verschiedenen Landkreisen ein, um den Schutz zu verbes-sern. Die Schutztruppe kümmert sich quasi um Verbrechen aller Art. Dabei sorgen wir auch für einen großen Informationsfluss. Kurzum bedeutet das, dass wir durch die Überwachung der verschiedenen Landkreise her-ausfinden können, wo sich euer Vater befinden könnte.“
„Also sitzen überall im Land Leute der Schutztruppe, die nach unserem Vater suchen werden?“, hakte Takeru nach. Er fand diese ganze Sache äußerst interessant. Diese Chance, die er plötzlich darin sah, seinen Vater viel schneller zu finden, machte ihn irgendwie glücklich.
„Richtig. Wir haben spezielle Investigationsabteilungen, die ich darauf ansetzen möchte, speziell nach Hinweisen zu eurem Vater zu suchen. Wir werden ihn finden.“
Als Sayoko das sagte, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Takeru hatte das Gefühl, dass vor ihm eine fürsorgliche Frau saß, die alles Erdenkliche dafür tun würde, ihren Vater zu finden. Dies hatte er auch bei Jumon gespürt. Sein Vater musste wirklich großartige Freunde gewonnen haben.
„Ich schlage vor, ihr kommt mit zu mir und wir sehen dann, wie es weitergeht. Ich kann die Einsatzbesprechung mit Pecos auch bei mir abhalten“, schlug sie vor und trank dabei ihren Kaffee aus. Sie stellte die Tasse auf den Tisch und ging nach draußen, um der Sekretärin mitzuteilen, dass Pecos sie doch in ihrem Anwesen treffen soll-te. Sie winkte die Freunde heraus und zusammen verließen sie das Präsidium.

Nach einem Spaziergang durch Prûo kamen sie am Rand der Stadt zu einem großen Anwesen. Das Grundstück war mit feinen Mustern verzierten, hohen Stahlzäunen umrandet. Der Garten war parkähnlich angelegt. Mehre-re Pfade führten einen an Gruppen von wunderschönen Bäumen vorbei zu einem großen Teich. Ein schmaler, gepflasterter Pfad führte die Freunde direkt zu dem großen Haus. Das Haus war strahlend weiß und hatte meh-rere Stockwerke. Auf der einen Seite verbanden große Fenster die Etagen miteinander. Zwei große, schwere Flügeltüren öffneten sich, als die Freunde dem Eingang näher kamen. In der Tür stand eine Frau mit langen grü-nen Haaren, die sie locker zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Ihr Pony fiel ihr ins Gesicht. Trotzdem konnte man ihre wunderschönen dunkelroten Augen erkennen. Unter ihrem rechten Auge hatte sie ein dun-kelblaues Tattoo, das ein schmaler Balken war, der waagrecht bis zum Ohrläppchen führte. Sie war ungefähr so groß wie Eimi und wirkte sehr ruhig. Sie trug ein schwarzes Hemd und eine Hose aus Stoff.
„Sayoko“, sprach sie ruhig, „während du fort warst, wurden uns die Unterlagen für die Konferenz in Langoria Ite zugeschickt. Außerdem konnte ich die Dokumente für den Familienminister wegschicken. Es gab auch einen kleinen Zwischenfall im Labor, Tsuru …“
Die Frau konnte gar nicht fertig erzählen, da brach Sayoko aus wie ein Vulkan und schrie den Namen Tsuru durch die Eingangshalle, der durch ein Echo noch einen kurzen Moment durch die Räumlichkeiten hallte. Dann stürmte sie davon.
„Ich nehme an, die Herrschaften sind heute Gäste?“, begrüßte die Frau die Freunde, die für einen Moment lang perplex in der Eingangshalle stehen blieben. „Mein Name ist Aisah und ich bin die persönliche Assistentin von Senatorin Fusai.“
Sie reichte jedem die Hand und lud die Freunde ein, näher einzutreten. Die Eingangshalle hatte auf der Höhe des Erdgeschosses mehrere Türen, die in alle Richtungen abgingen. Eine große Treppe mit einem goldenen Ge-länder verzweigte sich und führte auf zwei Seiten in den ersten Stock. In der Mitte der Halle hing ein großer Kronleuchter und erhellte den Raum.
„Normalerweise ist bald das Abendessen geplant. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, führe ich Sie schon einmal in das Speisezimmer?“, sprach Aisah sehr höflich und hielt den Freunden eine Tür auf. Sie traten herein und staun-ten. Alayna war so schockiert, dass sie laut schreien musste. Es war nicht der große Esstisch mit den teuer wir-kenden Stühlen, die wie zu einem Festessen einluden, sondern es war etwas, das am Ende des Tisches bereits auf einem Stuhl saß. Es war sicherlich drei Meter hoch und sah aus wie eine merkwürdige rosafarbene Mi-schung aus einem Bären und einem Hasen, das mit einem breiten Lächeln die Freunde angrinste.
„Ein Monster!“, schrie Alayna und wollte auf der Stelle kehrt machen. Doch Aisah hatte bereits die Tür geschlos-sen und verbeugte sich mehrmals entschuldigend.
„Kûosa bevorzugt es, nicht Monster genannt zu werden“, erklärte sie knapp. Kûosa stand auf und ging langsam den Freunden entgegen.
„Ist das Sayokos Haustier?“, wunderte sich Eimi. So etwas hatte er noch nie vorher in seinem Leben gesehen.
„Es ist weder ein Bär, noch ein Hase. Es ist irgendwie beides?“, wunderte sich Kioku, die nicht genau wusste, ob sie nun Angst haben oder einfach nur staunen sollte.
Takeru schluckte und steckte einmal die Hand nach Kûosa aus. „Erst Geister und jetzt das hier“, sprach er und Kûosa streckte ebenfalls seine große Tatze aus. Sie berührten sich und Takeru stellte fest, dass sein Fell sehr weich und warm war.
Alayna versteckte sich hinter Eimi und wusste nicht so recht, wie sie reagieren sollte. „Also bist du ein, ein … Kûosa“, vermutete sie, als wäre dies eine Bezeichnung und kein Name.
„Er heißt Kûosa“, sprach plötzlich eine neue Stimme, die durch die sich öffnende Tür hereinkam. Neben Sayoko, die wütend dreinblickte, befand sich eine junge Frau, deren ebenfalls grüne Haare sie zu zwei Dutts zusammen-gebunden hatte. Sie trug eine kurze Latzhose und ein einfarbiges Shirt mit Kragen. Die langen gelben Strümpfe endeten in knöchelhohen Stiefeln. Sie schob sich ihre Brille mit runden Gläsern etwas auf der Nase hoch und kratzte sich an der Stirn. „Ihr müsst keine Angst vor ihm haben, er ist wirklich lieb und hat keine bösen Absich-ten.“
„Verzeiht, dass ich euch darauf nicht vorbereitet hatte. Scheint wohl so, als hätte euch Jumon verschwiegen, was euch bei mir erwarten wird“, seufzte Sayoko und blickte dann auf die grünhaarige junge Frau. „Mit dir rupf ich später noch ein Hühnchen, Tsuru. Du weißt genau, wie ich zu deinen explosiven Experimenten im Labor stehe. Sei wenigstens so gut und hole unseren Gästen etwas zu trinken.“
„Klar“, sagte Tsuru knapp und ging wieder aus dem Raum. Aisah bat die Freunde mit einer Geste, sich an den Tisch zu setzen.
Beim Hinsetzen versuchte Alayna die möglichst größte Distanz zu Kûosa einzunehmen, der nicht aufhören konn-te, sie mit einem breiten Grinsen anzulächeln. Tak setzte sich neben den Bären und Eimi neben Alayna und Ki-oku. Sayoko und Aisah nahmen nebeneinander Platz. Kurz darauf kam Tsuru wieder herein und stellte sich je-dem persönlich noch einmal vor, als sie den Freunden jeweils eine Glasflasche mit Wasser brachte. Dann nahm auch sie Platz an dem Tisch.
„Jumon hat mir alles in seinem Brief erklärt“, fing Sayoko an zu erzählen. „Ihr habt ja einiges durchgemacht bis-her. Das erinnert mich daran, was Tsuru und ich alles mit eurem Vater durchgemacht haben.“
„Du warst damals auch dabei?“, wunderte sich Takeru und sah Tsuru erwartungsvoll an.
„Ja“, gab sie zur Antwort und erklärte: „In meiner Kindheit wurde ich von der Organisation verfolgt, gegen die wir später auch ankämpften. Bei einem Fluchtversuch fiel ich eurem Vater und seinen Freunden in die Arme, die mich seither beschützten. Auch wenn es mir manchmal etwas zu viel Überwachung ist.“ Sie faltete ihre Hän-de und verneigte sich mit einer dankbaren Geste gegenüber Sayoko, streckte ihr am Ende jedoch die Zunge heraus.
„Du musst sehr jung gewesen sein“, stellte Alayna neugierig fest.
„Ja, jedoch musste man mich nicht wegen meines jungen Alters beschützen.“ Tsuru stand auf und schnappte sich einen Kerzenleuchter und eine Blume aus einer Vase.
„Halt!“, wollte Sayoko sie laut unterbrechen und stand ebenfalls auf. „Wir haben darüber gesprochen, Tsuru. Auch wenn sie Gintas Kinder sind.“ Sie machte eine Geste, als solle Tsuru die Gegenstände wieder zurücklegen. Die Freunde verstanden nicht, was das sollte.
„Erst recht, weil sie Gintas Kinder sind!“ Tsuru verteidigte sich ebenso laut. Takeru hatte das Gefühl, dass in den Stimmen der beiden gerade eine gewisse Traurigkeit herauszuhören war, die er noch nicht verstand. Bevor er dies jedoch hinterfragen konnte, blitzte ein grelles Licht auf, was die Freunde blendete. Als sie wieder klar se-hen konnten, hielt Tsuru etwas in der Hand, was aussah wie eine Mischung aus Kerzenleuchter und Blume. Die vorherigen Gegenstände waren verschwunden. Ein erneutes Staunen fuhr durch die Freunde.
„Das ist also deine Fähigkeit“, murmelte Eimi. Takeru sprang begeistert auf.
„So cool! Wie hast du das gemacht!?“, wunderte er sich und nahm ihr den Kerzenleuchter aus der Hand. „Du hast diese zwei Gegenstände miteinander fusioniert!“
„Diese Kraft ist der Grund, wieso ich jahrelang verfolgt wurde“, erklärte Tsuru und setzte sich wieder hin.
„Wie gehst du jetzt damit um?“, fragte Kioku, die plötzlich eine Verbindung zu Tsuru spürte, da sie auch eine lange Zeit verfolgt worden war.
„Sehr gut“, strahlte Tsuru. „Dank Sayoko, die mich Tag und Nacht beschützt, kann ich jetzt meine Kreativität in meiner kleinen Spielzeug-Manufaktur ausleben. Ich designe und stelle Spielzeuge für Kinder und vor allem Wai-senkinder her.“
„Für Waisenkinder?“, hakte Eimi nach, der plötzlich ganz hellhörig wurde.
„Sayoko leitet eine Stiftung, die Waisenkindern im ganzen Land hilft“, erklärte Tsuru. „Diese Stiftung sammelt Spenden von Gesellschaften, Firmen und der reichen Oberschicht und finanziert damit den Bau von Waisen-häusern, die Ausbildung von Erziehern und verstärkt Förderprogramme, sodass den Waisenkindern ein Schul-abschluss und auch ein anschließender Einstieg ins Berufsleben ermöglicht wird. Unter anderem zahlt die Stif-tung auch die Produktion von Spielzeug, welches ich herstelle und dann verschenken kann.“
Eimis Augen weiteten sich, er war begeistert. „Aber ich dachte, du wärst Senatorin in diesem Lande?“, wandte er sich an Sayoko.
„Neben der Arbeit als Politikerin setzt sie sich noch für Dinge wie diese Stiftung und auch andere kleine Projek-te ein“, sagte Aisah ganz ruhig, als wäre sie stolz auf Sayoko.
„Das wäre ohne dich gar nicht möglich“, bedankte sich Sayoko und legte ihre Hand auf Aisahs. Dabei drehte Aisah schüchtern ihren Kopf beiseite. Alayna konnte erkennen, dass sie dabei errötete. Alaynas Blick zielte dann wieder auf Kûosa, der seinen breiten Körper in diesen verhältnismäßig winzigen Stuhl presste und sie immer noch angrinste. Nun hob er eine Tatze und winkte ihr vorsichtig zu.
„Was hat es denn jetzt mit diesem Kûosa auf sich?“, wunderte sich Alayna, die ihre Augen zusammenkniff und dabei den Kopf schräg hielt, als würde sie ihn dadurch besser verstehen können.
„Kûosa ist mein bester Freund und meine erste Fusion“, erklärte Tsuru knapp.
„Ich möchte mehr darüber erfahren!“, grinste Takeru.
„Ich möchte noch mehr über die Stiftung für die Waisenkinder wissen. Ich persönlich arbeite zu Hause in einem Waisenhaus“, wandte sich Eimi an Sayoko.
Während sich die Gespräche um die Stiftung, Tsurus und Sayokos Vergangenheit und die aktuelle Arbeit der beiden drehte, wurde eine kurze Weile darauf das Essen von einem Koch serviert, der in der Küche arbeitete. Sayoko beschrieb nicht nur, wie die Arbeitsgruppen der Stiftung funktionierten, sie erklärte den Freunden auch, wie wichtig es wäre, ein stabiles politisches System in einem Land aufzubauen, um die Stabilität einer Ge-sellschaft aufrecht zu erhalten. Tsuru erzählte von den Abenteuern, die sie mit Ginta, Sayoko und den anderen erlebten hatten und erklärte, wie ihre Arbeit so ablief.  So verging einige Zeit, bis das Abendessen abgeschlos-sen wurde.

 


Kapitel 27 – Der Einsatz

Das Essen war köstlich. Als Vorspeise wurde ein bunter Salat gereicht, der mit einem Dressing so abgestimmt war, dass die Bestandteile perfekt zusammenpassten. Als Hauptspeise gab es gebratenes Gemüse mit Tofu und Bratlingen. Als dann die Nachspeise serviert wurde, konnte Alayna schon nicht mehr und schob ihren Pudding Takeru zu, der über beide Ohren grinsend die Extraportion innerhalb weniger Sekunden verschlang.
Bei der teuer wirkenden Einrichtung des Speiseraumes musste Eimi unweigerlich an zu Hause denken. Seine Mutter hatte auch immer sehr gern das Geld ihres Vaters ausgegeben, um besondere Möbelstücke zu kaufen, die sie manchmal aber gar nicht brauchten. Eimis Vater, der ebenfalls politisch aktiv war, zählte zu den wohlhabenderen Männern in Hakata. Aber wo setzte sich seine Familie für etwas Gutes ein? Sein Blick schweifte zu Sayoko, von der er gerade erfahren hatte, dass sie nicht nur das komplette politische System auf Ruterion umgekrempelt hatte, sondern auch nebenher eine Stiftung führte, die sich für Waisenkinder einsetzte. Sie strich sich gerade eine Haarsträhne hinter ihr Ohr, da entdeckte er ein paar graue Haare.
Obwohl sein erster Eindruck von Sayoko war, dass sie eine alte, griesgrämige Frau war, merkte er doch, wie herzlich sie eigentlich war. Das lag nicht daran, dass sie besonders lieb mit ihm sprach, sondern eher einerseits daran, was sie alles für andere Menschen tat und andererseits sah er es in ihren Augen. Er erkannte es in Momenten, als sie mit Aisah und mit Tsuru sprach und merkte, dass sie Liebe für diese Menschen empfand.
Man könnte so viel mehr tun, dachte sich Eimi und betrachtete weiterhin diese starke Frau. Er sah ein, dass er einen wichtigen Job im Waisenhaus machte, aber er wünschte sich, dass er noch so viel mehr machen könnte. Wenn Alaynas und Takerus Vater gefunden war und sie wieder zu ihren normalen Leben zurückkehrten, wollte Eimi genau das tun, was Sayoko tat. Sich für Menschen einsetzen.
Während des Essens sprach er nicht viel. Seine Gedanken drehten sich um die Arbeit Sayokos. Ab und an schossen ihm dann Bilder der Entführung ins Gedächtnis. Der leidende, schreiende Blick der Frau, das überhebliche Lachen dieses Typen und vor allem die Enttäuschung, als die Kutsche in der Ferne verschwand, brachten ihn durcheinander. Er hatte wirklich das Gefühl gehabt, etwas tun und helfen zu müssen. Das Einzige, was noch schlimmer war, war der Anblick, als Kioku und Tak am Boden lagen, besiegt, aber zum Glück kaum verletzt. Kaum verletzt? Es glich einem Wunder, dass nach so einer Auseinandersetzung nichts passiert war. Eimi war sich sicher, würden sie das nächste Mal auf diese Organisation treffen, würde jemandem sehr wehgetan werden. Für einen kurzen Moment ballte er unbemerkt seine Faust, ignorierte dabei, dass er eine Serviette in der Hand hielt und stieß dabei fast sein Besteck vom Tisch. Dann konzentrierte er sich wieder. Das nächste Mal würde er seine Freunde beschützen können, das schwor er sich.

Eine Weile später – das Essen war schon abgeräumt und Sayoko hatte die Freunde noch etwas herumgeführt – brachte Tsuru die Freunde zu ihrem Gästezimmer, das mehrere Schlafzimmer beinhaltete. Die Freunde traten herein und standen in einem großen Wohnzimmer. In der Mitte des Raumes befand sich eine Gruppe von Sofas, die um einen kleinen Glastisch standen. Ein kleiner Kronleuchter beleuchtete das Zimmer, das sonst mit Regalen voller Bücher dekoriert war. Hier und da standen merkwürdige Kunstfiguren, die halb aus Metall und halb aus anderem Material wie Papier, Stoff oder Holz bestanden.
„Das ist unser Gästebereich“, sprach Tsuru und zeigte mit ihrem Finger auf die drei Türen, die der Raum hatte. „Es gibt zwei verschiedene Schlafzimmer und ein großes Badezimmer.“ Bevor sie weiter erklären konnte, wurde sie durch Kûosa unterbrochen, der sie von hinten anstupste. Der Hasenbär war in der Tür steckengeblieben. Da er zu groß war, um auf zwei Beinen hindurchzulaufen, ging er auf allen Vieren. Jedoch war sein Hintern so breit, dass er kaum durchkam.
„Ach, Kûosa!“, ärgerte sich Tsuru vorwurfsvoll. „Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass du einfach Diät machen sollst!“ Sie zerrte an einem seiner Arme und stützte ihren Fuß dabei am Türrahmen ab.
„Sollte er nicht lieber draußen bleiben, wenn er schon nicht hineinkommt?“, schlug Alayna vor, die beim Gedanken, dass Kûosa neben ihrem Bett stehen könnte, einen eiskalten Schauer bekam.
„Ja, stimmt“, bemerkte Tsuru und kratzte sich am Kopf. Dann presste sie sich mit voller Kraft gegen den Bären, doch er bewegte sich kaum einen Zentimeter. „Könnt ihr mal helfen?“
Tak und Eimi pressten sich auch gegen den Bären und bemerkten, dass sein Fell extrem weich war, wie das eines Kuscheltieres. Dann schafften sie es, Kûosa aus dem Türrahmen zu befreien.
„Es tut mir leid“, sprach sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Du bist zu fett, du musst draußen warten.“
Kûosas Grinsen verschwand augenblicklich und seine Augen füllten sich mit Tränen; ein sehr leises Wimmern war zu hören.
„Ich weiß, dass du nichts verpassen willst!“, fluchte Tsuru. „Die Tür bleibt doch offen, also beschwer dich jetzt nicht!“
Kûosa nickte, wischte sich eine Träne vom Gesicht und winkte Alayna wie zum Abschied zu.
Die Freunde setzten sich auf die Sofas.
„Pecos wird später kommen und mit Sayoko einen Einsatzplan erarbeiten, wie sie euren Vater finden“, erklärte Tsuru und goss sich aus einer Flasche Wasser in ein Glas.
„Sollten wir da nicht dabei sein?“, fragte Takeru in der Hoffnung, an der Besprechung teilnehmen zu können.
Tsuru schüttelte den Kopf. „Da muss ich euch enttäuschen. Pecos und Sayoko wissen schon alles über die Situation, hat sie mir erklärt. Außerdem mag Pecos es gar nicht, wenn man sich in seine Arbeit einmischt. Nur Sayoko lässt er gerne mitreden.“
„Was ist das eigentlich für ein Kerl?“, wunderte sich Kioku. „Ich kann noch nicht sagen, ob er einen vertrauenswürdigen Eindruck bei mir hinterlassen hat.“
„Bei mir ebenfalls“, brachte sich Eimi ein. „Hilft er uns wirklich? Vorhin hat er uns behandelt, als wären wir Kinder.“
„Ihr seid ja auch Kinder. Halt außer du, Kioku, du bist schon älter, richtig?“, hakte Tsuru nach, um keinen Fehler zu begehen.
„Ich weiß leider nicht genau, wie alt ich bin. Eigentlich weiß ich gar nicht wirklich, wer ich bin“, erklärte sie. Dann blickte sie traurig zu Boden.
„Wie meinst du das, dass du das nicht weißt?“, hakte Tsuru neugierig nach.
„Ich bin eines Morgens aufgewacht und wusste nicht mehr, wer ich war. Ich habe alles vergessen. Seitdem bin ich auf der Suche nach Antworten auf diese Frage“, erzählte Kioku ruhig.
„Das tut mir schrecklich leid. Vielleicht kann Pecos auch da helfen? So, wie er mir einmal geholfen hat“, meinte Tsuru und blickte einmal raus zu Kûosa, der sich vor die Tür gelegt hatte und mit dem Kopf hereinlugte. „Als ich acht Jahre alt war, bin ich von zu Hause weggelaufen, nachdem ich erfahren hatte, dass meine Eltern mich weggeben wollten. Es dauerte nicht lange, da wurde ich von den Shal verfolgt; das war die Organisation, die die Welt vor neunzehn Jahren zerstören wollte. Sie hatten es auf meine Fusionsfähigkeiten abgesehen.“
Tsuru machte eine kurze Pause. Die Freunde betrachteten sie gespannt.
„Ich konnte beschützt werden, dank eurem Vater, Sayoko und den anderen. Ich war viel zu jung damals, um zu verstehen, was wirklich passierte. Rückblickend kann ich euch auch nicht erklären, was für ein Gedanke, was für eine Kraft mich dazu brachte, eurem Vater zu folgen. Es war eine aufregende und gefährliche Zeit und wir konnten die Zerstörung der Welt verhindern. Nachdem das Weltgeschehen sich wieder normalisiert hatte, fragte Sayoko, ob ich nicht bei ihr leben wollte. Sie ist wie eine Mutter für mich.“
Alayna und Takeru mussten unweigerlich an ihre Mutter denken. Ob es ihr gerade gut ging? Sie hatten jetzt schon länger nichts mehr von ihr gehört. Sie konnten gerade nur darauf vertrauen, dass Ryoma sie beschützte.
„So verging einige Zeit und wie das so ist, wenn man heranwächst, hinterfragt man Dinge. Sayoko hatte es mir ziemlich lange verwehrt, aber als ich dann volljährig wurde, brachte ich sie dazu, mir zu helfen. Ich wollte wissen, was aus meinen richtigen Eltern geworden war. Hier kam Pecos ins Spiel. Er hatte schon sehr früh eine hohe Position bei der Schutztruppe eingenommen und war damals für Investigation zuständig. Wir haben ihn gebeten, mehr über meine Eltern herauszufinden.“
„Was war passiert?“, fragte Takeru neugierig. „Haben deine Eltern nie versucht, dich ausfindig zu machen?“
Tsuru schüttelte den Kopf. Für einen Moment merkte man, wie traurig sie über diese Sache war.
„Sie haben mich komplett aus ihrem Leben ausradiert. Alles entfernt und entsorgt, was mit mir zu tun hatte, als hätte es mich nie gegeben. Pecos sah in ihren Augen, dass sie wussten, wer ich war, so beschrieb er es mir. Aber sie bestritten immer und immer wieder, meine Eltern zu sein.“
„Und weiter?“, hakte Alayna nach. Sie war richtig gespannt, wie diese Geschichte weiterging.
„Er forschte weiter. Irgendetwas an dieser Geschichte kam ihm merkwürdig vor. Es dauerte etwas, dann fand er etwas heraus. Meine Herkunft hat irgendetwas mit diesem Labor zu tun, zu dem die Frau, die entführt wurde, wahrscheinlich hingebracht wurde.“
„Mit diesem Labor?“, wunderte sich Eimi. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Tsurus Herkunft etwas damit zu tun haben sollte.
„Seitdem er weiß, dass ich Bezüge dazu hab, arbeitet er Tag und Nacht, um Hinweise zu sammeln und um dahinter zu kommen, wo dieses Labor ist. Um eure Frage zu beantworten,“ sie hielt kurz inne, „ihr könnt Pecos wirklich vertrauen. Er ist ein ausdauernder, fleißiger und hilfsbereiter Kerl.“
So wie Tsuru über ihn sprach, hatte Kioku das Gefühl, dass nicht nur Dankbarkeit aus ihr sprach.
„Vertraut ihm, er wird helfen“, bat Tsuru und stand auf. „Es ist spät und ihr seid sicherlich erschöpft nach so einem langen Tag. Ich wünsch euch eine gute Nacht.“
„Gute Nacht“, sagten Alayna und Takeru fast gleichzeitig. Tsuru verließ den Raum, streichelte Kûosas Kopf, der ihr dann langsam hinterher trottete. Auch er machte plötzlich einen traurigen Eindruck. Die Freunde saßen noch eine Weile an dem Tisch und ließen die Geschichte etwas auf sich wirken.

Später, als sich alle zu Bett gelegt hatten, konnte Eimi nicht wirklich schlafen. Die Ereignisse und Geschichten des Tages verfolgten ihn in seinen Gedanken. Er stand auf und suchte die Küche für einen mitternächtlichen Snack. Wie konnte es sein, dass die Schutztruppe über das Labor schon so viele Informationen hatte, aber noch nicht hatte herausfinden können, wo es war? Wenn er so darüber nachdachte, hatte Eimi ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Etwas kam ihm dabei nicht richtig vor. Nur konnte er noch nicht ganz einschätzen, was das genau war.
Leise ging er durch die hohen Gänge des Hauses. Es brannte kein Licht; nur das Mondlicht fiel durch die Fenster in die Räume. Der Teppich, auf dem Eimi barfüßig ging, war samtig weich. Sein Bauch grummelte und er lief einen Schritt schneller. Im Erdgeschoss angekommen, sah er im westlichen Gang jemanden neben einem belichteten Raum sitzen. Bei näherem Betrachten erkannte er Tsuru, die an der Wand neben der angelehnten Küchentür saß. Als sie Eimi entdeckte, warnte sie Eimi, leise zu sein, in dem sie ihren Zeigefinger an ihren Mund hielt.
„Sie besprechen gerade den Einsatz“, flüsterte Tsuru, als sich Eimi an die andere Seite des Eingangs setzte. Nachdem sie das gesagt hatte, erkannte Eimi die Personen, die in der Küche waren und diskutierten. Er machte auf jeden Fall Sayoko und Pecos aus. Außerdem waren da drei Stimmen, die er vorher noch nie gehört hatte. Eimi saß genau so, dass er perfekt durch den Spalt der Tür hindurchblicken konnte. Er entdeckte neben Pecos einen Mann mit Kinnbart, dessen kinnlange Haare strubbelig in sein Gesicht fielen. Er trug ein Hemd und Hosenträger und drückte gerade eine Zigarette in einem Aschenbecher aus. Neben diesem Mann saß ein anderer Mann, der lange und glatte Haare hatte, die er sich ab und an hinter sein Ohr strich. Er war sehr schlank und trug einen Mantel aus einem dunkelgrünen Stoff. Ein weiterer Mann saß neben Sayoko, mit dem Rücken zur Tür. Von ihm konnte Eimi nur erkennen, dass er eine dunkle Hautfarbe hatte und lange Rastalocken, die an seinem Rücken hinabfielen.
„Danke, dass ihr uns bei dieser Angelegenheit helft“, sprach Sayoko. Eimi musste genau hinhören, um das Gespräch gut zu verstehen. „Du möchtest die Kinder nicht sehen?“
„Sie werden wieder Fragen zu ihrer Mutter stellen“, sprach der Mann mit den Rastalocken. „Ich habe keine Zeit für diese Unterhaltungen.“
„Sie haben ein Recht darauf, mehr zu erfahren, Ryoma“, forderte Sayoko.
„Natürlich haben sie das. Aber was meinst du, wird passieren, wenn sie erfahren, was wirklich mit ihrer Mutter los ist? Sie werden mit noch mehr Gefahren in Berührung kommen. Uns ist es recht, wenn sie nach Ginta suchen. Sie sind da nämlich genauso weit wie wir und irgendjemand muss ihn finden. Bald. Es ist in Ordnung, wenn sie es sind.“
Sayoko sagte daraufhin nichts mehr.
„Zurück zum Einsatz“, warf Pecos ein, um das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu bringen. „Danke auch von meiner Seite, dass ihr uns helft. Ich habe Gründe zur Annahme, dass Schichten in der Schutztruppe korrupt sind und schon seit einiger Zeit unsere Investigation verzögern. Ich habe meine zwei besten Männer losgeschickt und konnte endlich mehr über den Ort des Labors herausfinden.“
„Du kannst das ruhig uns überlassen“, sprach der Mann mit dem Mantel.
„Wie sieht der Einsatz aus?“, fragte der Mann im Hemd nach, als er sich eine weitere Zigarette anzündete.
„Vor der Tür sind fünf Männer mit Spezialausrüstung. Diese Männer wurden persönlich von mir ausgewählt, um bei dem Einsatz dabei zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Labor dort befindet, wo wir es vermuten, ist sehr hoch. Deswegen wird unbemerkt eingebrochen. Wir schalten Wachposten lahm, finden die Zentrale und sobald das Labor unter unserer Kontrolle ist, werden dann erst die Gefangenen befreit.“
„Die Daten und Untersuchungsberichte werden anschließend gesammelt und geteilt, oder?“
„Richtig, Niku“, antwortete Pecos Niku, der eine große Rauchwolke aus seinem Mund blies. „Die Daten werden natürlich mit euch geteilt.“
„Priorität sind die Gefangenen. Sobald sie mitbekommen, dass sie befreit werden, werden sich die Labormitarbeiter sicherlich nicht zurückhalten. Es darf keiner sterben.“
„Dann geht es los, oder?“, lachte der Mann mit dem Mantel.
„Du bist heute gut gelaunt, Yuu“, sprach Ryoma.
„Klar, wenn es darum geht, Menschen zu befreien, bin ich immer gut gelaunt.“
Die Männer standen auf. Sayoko sagte noch etwas, aber da konnte sich Eimi gar nicht mehr konzentrieren.
„Ich geh mit“, flüsterte Tsuru und stand auf. Sie ging in die Richtung, aus der Eimi gekommen war.
„Halt!“, wollte Eimi sie aufhalten. Er stand auf und lief ihr hinterher. Sie lief schnurstracks in Richtung ihres Zimmers. „Was heißt, du gehst mit?“
„Ich will es wissen, Eimi, ich will, wissen woher ich komme. Ich folge ihnen unauffällig und schleiche in das Labor“, erklärte sie in ihrem Zimmer, während sie sich Schuhe anzog.
„Spinnst du!? Das ist viel zu gefährlich! Du hast keine Ahnung, was dort passieren wird!“, versuchte Eimi sie zu überzeugen.
„Ja. Ich weiß das alles. Ich bin bereit. Pecos hat so lange für mich nach Antworten gesucht. Ich will sie endlich haben.“
„Ich habe versucht, mich gegen diese Leute zu wehren! Du wirst keine Chance haben!“, warf Eimi ihr vor. Da hielt sie plötzlich inne und kam auf ihn zu getrampelt. Sie stach ihn mit ihrem Zeigefinger immer wieder in die Brust, sodass er langsam zur Wand gedrängt wurde.
„Ich lasse mir diese Chance nicht entgehen! Du wirst mich daran nicht hindern können!“, erklärte sich Tsuru laut. Sie war so in Rage, dass sie ihre Lautstärke nicht mehr kontrollieren konnte. Aus dem Nebenzimmer kam Kûosa, der sich müde die Augen rieb.
„Ich kann das nicht zulassen, dass ich noch eine Person in Gefahr bringe“, versuchte sich Eimi zu verteidigen. Er wusste nicht mehr genau, was er tun sollte. Einerseits konnte er es nicht zulassen, jemanden in Gefahr zu bringen, wenn es doch schon Hilfe von der Schutztruppe gab, das sah er jetzt ein. Aber er konnte auf der anderen Seite auch Tsuru verstehen, die nach so langem Warten endlich eine Antwort auf ihre Fragen haben wollte. Sie wollte nur wissen, wer sie war. Hatte er nicht auch Kioku versprochen, ihr bei dieser Frage zu helfen?
„Dann bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als dass du mitkommst“, seufzte Tsuru, „und du auch.“
Kûosa schien noch gar nicht wirklich zu verstehen, was passierte, aber er nickte. Die zwei mussten ein sehr inniges Verhältnis zueinander haben.
„Hol deine Sachen, wir treffen uns in fünf Minuten vor dem Hintereingang“, forderte Tsuru und schickte Eimi nach draußen.

Leise, ohne ein Geräusch zu machen, öffnete Eimi die Tür zum Zimmer. Tsurus Worte und ihre Entschlossenheit hatten sich in seine Gedanken eingebrannt. Er sah endlich ein, dass man manchmal darauf angewiesen war, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es schien, als hätte Tsuru jahrelang Hilfe von anderen erhalten und da wunderte es ihn nicht, dass sie sich einmal selbst helfen wollte. Die Stimme in ihm, die ihn die letzten Stunden vorgeworfen hatte, dass er die Frau nicht hatte retten können, meldete sich nun wieder und freute sich, dass er seine Schuld an dieser Frau endlich begleichen konnte. Dank Tsuru konnte er endlich das tun, was er die ganze Zeit schon hatte tun wollen. Aber was, wenn er verletzt werden würde und er dadurch Alayna und Takeru nicht mehr beschützen konnte? Nein, das würde nicht passieren. Pecos und die Männer würden im Labor sein und dann müsste er sich keine Sorgen mehr machen, richtig?
So leise, wie es nur ging, zog er sich eine Hose und Schuhe an, schnappte sich seinen Poncho und das Schwert und schlich aus dem Zimmer. Er musste darauf achten, dass seine Schritte nicht so laut auf dem Holzboden knarzten. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich und ging hinunter ins Erdgeschoss und auf direktem Wege zum Hintereingang.
Gerade, als er die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, berührte ihn jemand an der Schulter. Eimi versuchte, sich nicht zu erschrecken, zuckte jedoch hoch.
„Du willst doch nicht ohne uns gehen?“, warf Takeru ihm vor, wissend, was Eimi vorhatte. Takeru stand in T‑Shirt und Unterhose hinter ihm und trug seine restlichen Sachen im Arm. Hinter ihm stand Kioku und Eimi konnte erkennen, dass Alayna verschlafen den Gang entlang schlenderte.
„Wir gehören zusammen“, sprach Kioku. „Du kannst dich auf uns verlassen.“
Im ersten Augenblick war Eimi richtig sauer auf sich selbst, weil er nicht leise genug gewesen war. Dann war er sauer, dass er Tsuru hatte aufhalten wollen und mit in diese Sache hineingezogen worden war. Dann war da jedoch noch dieser eine Funken von einem wohligen, warmen Gefühl, der ihn wissen ließ, dass er auf seine Freunde immer zählen konnte. Es erforderte Mut, seine Freunde zu beschützen, aber noch mehr Mut, sie in diese ganze Sache mit hineinzuziehen. Wenn sie so vor ihm standen, selbstbewusst mit dem Gedanken, was auf sie zukommen würde, war auch Eimi etwas mutiger.
„Es ist viel zu gefährlich“, sprach Eimi und versuchte sie aufzuhalten, obwohl er wusste, dass er an der Situation nichts ändern konnte. „Sie haben uns nicht einmal versucht zu verletzen, weil wir so schwach sind. Das wird bei der nächsten Begegnung anders sein.“
„Wenn wir zusammenhalten, kann nichts passieren“, grinste Takeru und schlüpfte in seine Klamotten.
„Es wird wehtun“, meinte Eimi und sah besorgt zu Alayna.
„Es tut mehr weh, nicht zu wissen, wo du bist“, antwortete sie und für einen Moment hatte auch er richtige Angst davor, nicht zu wissen, wo sich Alayna befand.
„Die Schutztruppe hat einen Einsatz. Wir werden ihnen hinterherschleichen und …“, bevor er zu Ende gesprochen hatte, öffnete sich die Tür und Tsuru lugte hinein.
„Wo bleibst du?“, warf sie Eimi vor und riss die Augen auf, als alle vier vor ihr standen. „Na so was.“
„Entschuldige“, meinte Eimi und kratzte sich am Kopf. „Sie ließen sich nicht aufhalten.“
„Das macht die ganze Sache schwieriger, aber nicht unmöglich. So oder so, wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren, sie sind gerade losgegangen, wir müssen schnell hinterher, um nicht den Anschluss zu verlieren!“, forderte Tsuru und ging mit Kûosa los.
Takeru zuckte mit den Schultern und lief ihr gleich hinterher. Alayna folgte ihrem Bruder.
Kioku hielt noch einen Moment inne und flüsterte Eimi etwas ins Ohr: „Mach dir keine Sorgen, Eimi. Diesmal wissen wir, was auf uns zukommt. Wir sind gewappnet.“
„Wir sind gewappnet“, wiederholte er leise für sich und folgte Kioku nach draußen. So schlichen sie möglichst lautlos Pecos Gruppe durch die Dunkelheit der Nacht hinterher. Was die Freunde nicht bemerkten war, dass auch sie leise und unbemerkt von jemandem verfolgt wurden.


Kapitel 28 – Das Labor

 Ein lautes Knarzen signalisierte, dass die Kutsche über eine Wurzel oder Ähnliches gefahren sein musste. Diese kleine Ablenkung und die Erschütterung reichten aus, dass die Person, die sich auf dem Dach dieser Kutsche festklammerte, abrutschte und abstürzte. Bevor die Person richtig reagieren konnte, wurde ihr Körper gegen einen Baum geschleudert und stieß sich dabei mit einem lauten Geräusch den Kopf und den Rücken. Der bewusstlose Körper rutschte daraufhin in Richtung Boden und landete anschließend in einem Busch.

Ein lautes Geräusch weckte die Person auf. Große Luftblasen schwebten vor ihren Augen nach oben. Ihr Sichtfeld war sehr unscharf und orangenes Licht blendete sie. Direkt vor ihren Augen befand sich ein merkwürdiger Schlauch, der, wie sie nach vorsichtigem Ertasten erspürte, in ihren Mund überging. Es musste sich um etwas handeln, das beim Atmen half. Bei dem Versuch sich zu bewegen, bemerkte die Person, dass sie in einer merkwürdigen Flüssigkeit gefangen war. Panisch riss sie ihre Arme nach vorn und stieß dabei auf Glas. Völlig desorientiert versuchte sie, sich umzublicken und irgendetwas zu entdecken, was ihr helfen könnte, sich zu befreien. Jedoch war dieser Versuch sinnlos. Panik überkam die Person und der Körper verkrampfte bei weiteren Versuchen, sich mit Kraft zu befreien.
Eine Silhouette tauchte vor dem Glas auf. Es war nicht zu erkennen, um welche Person es sich handelte. Die im Glas eingesperrte Person erkannte nur, dass die Silhouette etwas Rechteckiges, wie ein Klemmbrett, in der Hand hielt. Vielleicht konnte dieser Mensch helfen freizukommen, also klopfte die gefangene Person an die Glasscheibe. Die Bewegungen waren langsam und das Geräusch, das sich gut durch die Flüssigkeit transportieren ließ, klang träge und unbedeutend. Der Mensch vor dem Glas reagierte jedoch nicht auf diesen Hilferuf.
Auf einmal hörte die Person ein mechanisches Klacken und Schalten. Bevor sie aber herausfinden konnte, woher dieses Geräusch stammte, fühlte sie einen stechenden Schmerz im Rücken. Ihre Bewegungsmöglichkeiten waren so eingeschränkt, dass sie auch nicht überprüfen konnte, was diesen Schmerz verursachte. Mit aller Kraft hielt sich die Person bei Bewusstsein. Dies dauerte jedoch nur wenige Augenblicke und bevor sie in einen bewusstlosen Zustand glitt, nahm sie noch Worte wahr, die von der Silhouette stammen mussten: „Bald kann sie geboren werden.“

Als Ea wieder aufwachte, erkannte er, dass er nicht nur wieder in seinem Männerkörper steckte, sondern auch noch quer in einem Busch lag. Sein Kopf brummte und als er sich an die Stirn fasste, ertastete er getrocknetes Blut. Die Worte der Person im Traum hallten dumpf in seinem Kopf wieder: „Bald kann sie geboren werden.
„Schon wieder dieser Traum“, sprach Ea mit sich selbst, als er sich aus dem Busch befreite. „Tja, das war es dann wohl, wieder ins Labor zu kommen. Diesen Arschlöchern hätte ich gern die ganze Arbeit vermasselt.“
Er rappelte sich auf und klopfte sich den Dreck von den Klamotten. Dabei entfernte er noch einige Zweige und Blätter aus seinen Ärmeln und seinem zerzausten Haar. Dann schlenderte er mit einem Brummschädel durch den Wald. Die Dämmerung war schon fast vorüber und die Kälte des Abends schob kleine Nebelschwaden über den Boden des Waldes.
„Jetzt habe ich endlich einmal jemanden gefunden, der im Labor arbeitet und hab dann wieder so ein Pech. Aber vielleicht finde ich das Labor auch einfach so. Ach, wäre Laan doch nur hier, er wüsste, wohin es geht.“
Als er sich auf dem Waldpfad befand, entdeckte Ea kurze Zeit darauf leichte Hufabdrücke und Kutschenspuren und folgte diesen für einige Zeit. Leider dauerte es nicht lange, da verloren sich die Spuren wieder und Ea kam an eine Gabelung des Weges. Wie sehr er auch versuchte, die Spuren zu lesen, gelang ihm es leider nicht herauszufinden, wohin die Kutsche gefahren war.
„So ein Mist“, murmelte er vor sich hin und drehte ein paar Kreise auf der Stelle. Direkt vor ihm befand sich ein relativ großer Baum mit buckeliger Rinde. „Dann bleibt mir wohl nichts anders übrig.“
Er streckte seine Hände aus, sein Gesichtsausdruck wirkte dabei sehr konzentriert. Auf einmal fuhr ein merkwürdiges Zucken durch seine Finger und seine Haut veränderte sich. Sie verwandelte sich langsam und es wirkte so als trüge Ea Handschuhe aus massiven Stein. Er rammte die spitzen, steinigen Finger in den Stamm des Baumes und zog sich mit Muskelkraft nach oben. So kletterte er fast bist auf die Spitze des Baumes, um einen Überblick über den Wald zu erhaschen. Dabei entdeckte er ein Haus, das er erreichen könnte, falls er dem rechten Pfad folgen würde. Er konnte sich nicht mehr ganz daran erinnern, ob dieses Gebäude das Labor sein konnte, aber es würde nicht schaden, einmal nachzusehen. Vor allem, weil sich sein Magen gerade lautstark bemerkbar machte, wollte er noch viel flotter zu diesem Haus gelangen. Hungrig suchte es sich nicht leicht nach einem Labor.
So sprang er von Baum zu Baum, hangelte sich dabei an Ästen entlang, um sich etwas schneller fortzubewegen. 
Es dauerte nicht lange, da kam er an der Rückseite des Hauses an. Ea hielt kurz inne, als er dort einige Menschen stehen sah.
„Entschuldige“, sprach ein Junge mit blonden Haaren. „Sie ließen sich nicht aufhalten.“
„Diese Kinder schon wieder“, dachte sich Ea und betrachtete neugierig das Geschehen.
„Das macht die ganze Sache schwieriger, aber nicht unmöglich. So oder so, wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren, sie sind gerade losgegangen, wir müssen schnell hinterher, um nicht den Anschluss zu verlieren!“, forderte eine junge Frau mit Brille. Anscheinend war der riesige Bär, der komischerweise Hasenohren trug, ihr Freund, denn in ihrer Nähe wirkte dieses Monster ziemlich zahm. So etwas hatte Ea noch nie gesehen. Die Neugier an der Sache ließ ihn seinen Hunger vergessen. Das konnte ja noch richtig aufregend werden, dachte er sich. Der kleine Knirps mit den schwarzen Haaren und das Mädchen mit den weißen Haaren folgten der Frau mit der Brille. Nur eine andere Frau mit schwarzen Haaren flüsterte dem blonden Jungen noch etwas ins Ohr, dann folgten sie der Gruppe. Auch Ea nahm leise die Verfolgung auf.

Als die Freunde unbemerkt durch den Wald gingen, um Pecos Gruppe zu verfolgen, führte Tsuru die Gruppe an. Erst mit etwas Abstand – Tsuru wollte um keinen Preis bemerkt werden – folgten dann die anderen. Kûosa bildete das Schlusslicht und bemerkte dabei nicht, wie er verfolgt wurde.
Es war sehr finster im Wald und das Schweigen der Gruppe machte diese Finsternis noch viel unheimlicher. Während Tak immer darauf achten musste, nicht über irgendwelche Wurzeln zu stolpern, lief Alayna nah neben Eimi und Kioku, um sich etwas sicherer zu fühlen. Der Weg führte sie über viele Abzweigungen, Hügel und ausgetrocknete Flussbetten tief in den Wald. Alayna konnte nicht mehr sagen, wo sie genau waren oder wie viel Zeit vergangen war. Die tiefe Finsternis der Nacht sog alle Wahrnehmungen und Gefühle einfach aus ihr heraus. Sie wünschte, dass sie bald ankommen würden.
Sie sah immer wieder zu Eimi und bemerkte, wie angespannt er war. Die ganze Sache mit der Entführung hatte ihn ziemlich beschäftigt und das verstand sie sehr gut. Je länger sie nun unterwegs waren, desto bewusster wurde Alayna, dass die Welt nicht nur aus ihrer Familie, ihrer Heimatstadt und ihren Freundinnen bestand, sondern dass so viel mehr auf diesem Planeten passierte. Es faszinierte sie, wie entschlossen Eimi dieser ganzen Sache entgegentrat. Ob es nicht aber zu gefährlich war, in ein Labor einzubrechen und ihre Leben aufs Spiel zu setzen, für eine Frau, die sie nicht einmal kannten? Sie war auf jeden Fall beruhigt, dass Tsuru und Kûosa bei ihnen waren. Sie drehte sich einmal um und sah sich Kûosa noch einmal an, der ihr daraufhin grinsend zuwinkte. Ein merkwürdiger Schauer fuhr ihr durch den Rücken und sie lief einen Schritt schneller.
Es dauerte eine Weile, da blieb Tsuru plötzlich stehen. Sie winkte und signalisierte dadurch, dass die Freunde stehen bleiben sollten. Nach einem kurzen Moment der Stille winkte sie noch einmal und flitzte los. Die Freunde liefen ihr hinterher und bemerkten eine Lichtung, auf der ein kleines Gebäude stand. Es sah aus wie eine kleine Lagerhalle, die man vor langer Zeit schon vergessen hatte.
Tsuru lief schnurstracks auf die Tür zu und stampfte einmal wütend auf den Boden.
„Verdammt, sie ist wieder zu!“, fluchte sie.
„Was soll das heißen?“, hakte Kioku nach.
„Pecos‘ Gruppe hat die Tür gerade aufgebrochen und jetzt ist sie wieder zu! Vielleicht sollten wir sie aufbrechen! Kûosa, komm doch mal her.“ Sie winkte Kûosa zu sich und wirkte dabei sehr hektisch.
„Halt, halt, halt! Das wäre doch viel zu auffällig, wenn wir die Tür jetzt aufbrechen!“, wandte Alayna ein und stellte sich demonstrativ vor die Tür. „Wir sollten da doch nichts überstürzen.“
„Alayna hat Recht“, bestätigte Kioku. „Das wäre eine ziemlich dumme Idee, die ganze Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.“
„Findet ihr nicht merkwürdig, dass das Gebäude so klein ist?“, warf plötzlich Takeru ein und lief dabei um das Gebäude auf und ab. „Für ein Labor ist das ein ziemlich kleines Gebäude.“
„Das stimmt. Kann das überhaupt das Labor sein?“, wunderte sich Eimi, der versuchte, leicht an der Tür zu rütteln, um zu überprüfen, ob sie wirklich verschlossen war, leider ohne Erfolg.
„Wartet!“, meinte Tsuru und lief eine Runde um das Haus. Als sie zurückkam, bat sie die Freunde, ihr zu folgen. Auf der Rückseite des Gebäudes befanden sich einige rechteckige, vergitterte Löcher an der Wand, nur knapp über dem Boden.
„Das sind Lüftungsschächte“, erklärte sie. „Wieso hat eine Lagerhalle Lüftungsschächte am Boden des Gebäudes?“
„Vielleicht ist das ganze Labor ja unterirdisch“, vermutete Takeru. „Es könnte doch sein, dass dieses Gebäude nur eine Tarnung ist.“
„Was für eine schlechte Tarnung, dieses Gebäude steht doch total auffällig im Wald herum“, wunderte sich Alayna.
„Aber ein Förster könnte so etwas als Lager für seine Geräte und Utensilien verwenden?“, versuchte Kioku die Situation zu erklären. „Das würde zumindest nicht auffallen.“
„Was ist dann der Plan?“, fragte Eimi, der genauso ungeduldig wie Tsuru wirkte.
„Ich würde vorschlagen, wir klettern hinein“, erklärte sie und blickte dann zu Kûosa. „Aber so wie die Schächte aussehen, musst du leider draußen bleiben, Großer.“
Kûosa machte auf einmal einen sehr unglücklichen Eindruck und rüttelte an Tsurus Schultern. Er sah aus, als würde er schluchzen.
„Kûosa kann doch Alarm schlagen, falls hier draußen etwas passiert, richtig?“, schlug Alayna vor, die ganz glücklich bei der Vorstellung war, dass Kûosa einmal nicht in ihrer unmittelbaren Nähe war.
„Wir klettern hinein, und dann?“, wollte Tak genauer wissen.
„Finden wir Informationen über mich und befreien die Frau, wo auch immer sie stecken mag. So spät nachts wird wahrscheinlich nicht viel los sein, richtig?“, schlug Tsuru vor.
„Und wenn es trotzdem zu einem Kampf kommen sollte, dann schnappen Tak und Alayna die Frau und versuchen zu fliehen. Währenddessen versuche ich, die Leute aufzuhalten“, erklärte Eimi.
„Sicher, dass das klappt?“, fragte Kioku besorgt. „Beim letzten Mal haben wir ziemlich eingesteckt.“
Eimi grinste unsicher. „Ich glaube, dass ich es diesmal besser einschätzen kann. Ich werde einfach einen Weg finden, ihre Bewegung aufzuhalten. Das wird schon, macht euch keine Sorgen.“
„Ich und Pecos sind ja auch noch im Gebäude“, versuchte Tsuru die anderen zu beruhigen. „Ich werde ihm das schon irgendwie erklären können, dass wir ihnen gefolgt sind. Das wird alles!“
Für einen kurzen Moment ließ das jeder auf sich wirken und konzentrierte sich auf das, was ihnen nun bevorstand. Mit einem Fingerschnippen von Tsuru begann Kûosa damit, das Gitter des Luftschachtes aus der Wand zu reißen. Dann kletterten Tsuru, Eimi, Alayna, Takeru und zum Schluss Kioku in den Schacht hinein. Er war gerade so groß, dass ein erwachsener Mensch hindurch kam. Es war sehr dunkel und die Freunde konnten gerade so die Silhouette ihres Vordermannes ausmachen.
Außerdem war es sehr still. Außer dem metallischem Echo der Bewegungen der Freunde war nichts zu hören. Eine merkwürdige Anspannung verbreitete sich. Plötzlich gab Tsuru einen Laut von sich, als sie im Luftschacht nach unten rutschte. Der Schacht machte plötzlich einen Knick und ging schräg nach unten. Beim Versuch, sie festzuhalten, wurde Eimi auf der rutschigen Fläche einfach mitgezogen. Kurz darauf gab es einen metallischen Knall. Nur Alayna, Takeru und Kioku hielten wie erstarrt inne.
„Was ist passiert?“, wollte Takeru wissen.
„Eimi ist verschwunden“, flüsterte Alayna ängstlich.
„Wie, verschwunden?“, fragte Kioku, die sich nicht an Takeru vorbei drängeln konnte, um die Situation einzuschätzen.
„Ich glaube, er ist runtergerutscht! Eimi? Eimi? Tsuru? Wo seid ihr?“, fragte sie hinunter in die stille Leere. Aber sie bekam keine Antwort. „Was sollen wir jetzt machen?“
„Hinterher“, antwortete Takeru knapp.
„Tak hat Recht, wir haben keine Wahl“, erklärte Kioku.
„Aber …“ Alayna hatte Angst. Das sah so gefährlich aus. „Ich trau mich nicht.“
„Du musst keine Angst haben“, versuchte Kioku sie zu beruhigen.
„Los jetzt, Schwesterherz, sonst schiebe ich!“, forderte Tak und stieß sie leicht mit seinem Kopf.
Alayna kreischte kurz auf. „Schieb nicht, du Idiot!“
„Keine Panik, Alayna, wir sind doch bei dir“, beruhigte sie Kioku wieder.
„Unten warten Eimi und Tsuru, also los!“, forderte Takeru. Er wurde langsam ungeduldig.
„Na gut“, vorsichtig krabbelte sie nach vorn. Mit ihren Händen spürte sie plötzlich die Kante und die Schräge. So schräg wie der Schacht hier war, wäre der Aufprall sicherlich schmerzhaft. Sie tastete sich noch weiter voran und bevor sie bereit war zu rutschen, schubste Takeru sie nach unten. Dann rutschten er und anschließend Kioku hinterher.
Ein lauter Knall signalisierte, dass Alayna, Takeru und Kioku, als sie an der Rutsche unten angekommen waren, durch ein aufgebrochenes Gitter glitten und alle schmerzhaft aufeinander auf dem Boden in einem Raum ankamen. Takeru fiel auf seine Schwester und kullerte zur Seite. Kioku versuchte beim Fallen sich noch am Lüftungsschacht festzuhalten, rutschte jedoch ab und fiel neben Alayna auf den Boden. Mit schmerzverzerrten Gesichtern richteten sie sich auf. Bevor Alayna einen Schmerzschrei loslassen konnte, schnappte Eimi ihren Arm, und half ihr auf und hielt ihr dabei den Mund zu. Verwundert standen nun auch Kioku und Takeru auf, die neben Tsuru und Eimi eine weitere Person in einer kleinen Zelle entdeckten. Zitternd und weit in eine Ecke der Zelle gedrängt stand dort ein Junge mit lockigen braunem Haar und einem Gewand, welches oft in Krankenhäusern von Patienten getragen wurde. Kioku klopfte sich den Dreck von den Klamotten. Tsuru sah sie bestimmt an.
„Wir sind drin“, flüsterte sie.
„Wie du sagtest, das Labor ist unterirdisch“, bestätigte Eimi und sah sich um. In der Zelle gab es eine Toilette und ein kleines Waschbecken sowie ein sehr unbequem wirkendes Bett aus Metall. Am auffälligsten war jedoch, dass an den Wänden, am Boden und an den Gitterstäben der Zelle merkwürdige, goldene Spuren zu sehen waren. Was das wohl bedeutete?

Der Junge mit den braunen Haaren drängte sich immer weiter in die Ecke der Zelle. Die Freunde starrten ihn an und wussten erst gar nicht, wie sie darauf reagieren sollten. Als der Junge aber wirkte, als würde er um Hilfe schreien wollen, machte Tsuru einen Satz nach vorn und hielt ihm den Mund zu.
 „Psst“, machte sie und legte dabei ihren Zeigefinger auf die Lippen. „Wir sind nicht die Bösen. Wir werden dir helfen.“
Der Junge riss auf einmal seine Augen auf und versuchte Tsuru mit aller Gewalt wegzustoßen. Tsuru interpretierte das als einen weiteren Versuch, nach Hilfe zu rufen und hielt ihn fester. Mit aller Kraft versuchte der Junge, der ungefähr die gleiche Statur wie Takeru hatte, sich zu befreien. Aber erst, als Tsuru bemerkte, wie seine Körpertemperatur ungewöhnlich stark anstieg, musste sie ihn wegen der Hitze loslassen. Sofort taumelte der Junge zur Toilettenschüssel und stemmte sich mit seinen Händen auf das kalte Metall. Mit einem lauten Schmerzensschrei beugte er sich nach vorn und ein merkwürdiges Blubbern signalisierte, dass gleich etwas sehr Unangenehmes passieren würde.
Panisch ging Alayna einen Schritt beiseite und stellte sich schützend hinter Kioku. Da die Zelle so klein war, mussten die Freunde unweigerlich dem Geschehen zusehen. Der Junge krümmte sich vor Schmerz und er schrie wieder. Dann hörte man ein Geräusch, das klang, als würden einige Murmeln in eine Metallschüssel fallen. Das Ganze dauerte einen kurzen Moment, dann brach der Junge erschöpft neben der Schüssel zusammen. Tsuru stützte ihn und gemeinsam mit Eimi trugen sie ihn auf sein Bett. Seine Körpertemperatur hatte sich normalisiert.
Bevor Tsuru neugierig einen Blick in die Toilette werfen konnte, hörte man in der Zelle ein mechanisches Klacken und Rattern und die Spülung aktivierte sich. Sie war nicht wie eine normale Toilettenspülung, sondern sie klang eher wie eine besondere Sauganlage.
„Was ist mit diesem Jungen?“, wunderte sich Kioku und deutete auf die Schüssel. Am Rand, dort wo sich der Junge festgehalten hatte, befand sich ein golden glänzender Handabdruck.
„Was ist hier überhaupt los?“, fragte Takeru und ging an die Gitterstäbe der Zelle. Er presste sein Gesicht ganz nah an die Stäbe, um zu erahnen, was in dem Raum noch alles war. Der Gang war nicht beleuchtet und deshalb konnte er nicht viel erkennen, außer einer Reihe von sehr kleinen roten Lichtern auf der anderen Seite des Raumes. „Ich kann hier draußen nichts erkennen.“
„Na toll, jetzt sind wir hier drinnen gefangen. Super Plan, Leute“, kritisierte Alayna, die besorgt auf den merkwürdigen Jungen starrte.
„Ist doch ganz einfach, wir müssen hier nur die Zelle öffnen und dann leise herumschleichen, um herauszufinden, was es hier alles gibt“, erklärte Tsuru und kramte in ihrem Haar nach einer Haarklammer. „Tak, findest du irgendwo ein Schloss?“
Wie gebeten, tastete er außen an den Gitterstäben und seitlich an den Wänden nach einem Schloss. Leider konnte er keines finden.
„Wie können die hier Leute einsperren, wenn es gar keine Schlösser zu den Zellen gibt?“, fragte sich Eimi und ging nun auch zu den Stäben. Er streckte seine Arme ganz weit aus um in der Dunkelheit des Ganges vielleicht irgendetwas zu spüren. Doch auch er bemerkte nichts.
„Sie fahren die Gitterstäbe hoch“, sprach eine fremde Stimme und der Junge richtete sich vom Bett auf. Er hatte wieder das Bewusstsein erlangt. „Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich die Aktivierung.“
„Also, wenn wir da hinkommen, können wir hier heraus“, meinte Kioku und bat Eimi und Takeru von den Gitterstäben wegzukommen. Dann streckte sie ihren Arm aus und mithilfe ihres Bandes versuchte sie, die Aktivierung zu erreichen. Immer wieder versuchte sie das Band so gegen die Aktivierung zu schleudern, dass sich irgendetwas aktivierte.
„Wieso bist du hier?“, fragte Alayna den Jungen.
„Ich bin krank“, antwortete er und sah dabei auf den Boden. „Ich sterbe. Meine Eltern dachten, dass diese unechten Doktoren, die mich eigentlich gefangen halten, mich heilen könnten.“
„Wie, was bedeutet das?“, hakte Tsuru gleich nach. Sie witterte, dass sie an dem richtigen Ort war, um etwas über sich selbst herauszufinden.
„Sie sperren viele Leute wie mich ein und machen dann merkwürdige Experimente.“
„Das muss es sein“, sprach Tsuru und sah Eimi dabei hoffnungsvoll an. „Sie haben sicherlich auch Experimente an mir ausgeführt. Wir holen dich hier raus! Warte mal, wie heißt du eigentlich?“
„Ich heiße Suna. Suna Gull Oltin“, stellte sich Suna vor.
„Suna, du wirst uns sicherlich helfen, uns hier zu orientieren, richtig?“
Suna nickte.
„Was ist das für eine Krankheit?“, wollte Takeru wissen. Er setzte sich neben Suna auf das Bett.
„Sie nennt sich Petrificatyie. Es ist eine seltene Krankheit, bei der dein Körper allmählich versteinert. Es gibt nicht viele Fälle auf der Welt und die Leute, die mich hier festhalten, hatten damals behauptet, sie wären Experten auf diesem Gebiet. Meine naiven Eltern sind voll auf ihre Masche reingefallen“, erklärte Suna mit einem wütenden Gesichtsausdruck. „Es ist schon mehr als ein Jahr vergangen und es werden ständig nur merkwürdige Experimente an mir ausgeführt. Dabei werden meine Anfälle immer stärker. Sie nennen mich den Goldjungen.“
„Das Gold“, murmelte Alayna und sah sich noch einmal in der Zelle um.
„Ja“, lachte Suna verzweifelt. „Ich verwandle mich allmählich in einen menschlichen Goldklumpen. Bei meinen Anfällen stößt mein Körper Gold aus. Ich kann es nicht kontrollieren.“
Eimi legte seine Hand auf Sunas Schulter. „Wir werden dir helfen. Wenn wir hier herauskommen, suchen wir dir einen richtigen Arzt, ja?“
Suna lächelte unsicher. Ein klickendes Geräusch lenkte die Aufmerksamkeit der Freunde auf Kioku.
„Ich habe es geschafft“, grinste sie und die Freunde entdeckten, dass das rote Licht an der Wand nun grün war. Kioku ging einen Schritt zurück und kurz darauf erhoben sich die Stangen langsam.
„Bevor wir da rausgehen …“, sprach Alayna etwas ängstlich, „sollten wir uns nicht noch einen Plan überlegen?“
„Wir befreien die Gefangenen. Leider ist der Lüftungsschacht zu steil, somit können wir nicht zurück nach oben klettern“, stellte Eimi fest.
„Wir finden einen Weg nach oben. Ihr nehmt die Gefangenen und führt sie nach draußen. Wenn oben etwas sein sollte, kann Kûosa euch beschützen“, erläuterte Tsuru. „Derweil werde ich herausfinden, ob es etwas wie Archive gibt. Vielleicht finde ich Anhaltspunkte über meine Vergangenheit.“
„Und was ist mit Pecos‘ Gruppe?“, wunderte sich Alayna. „Sie stecken hier auch irgendwo.“
„Na, umso besser. Finden wir seine Gruppe, können sie euch helfen, die Gefangenen zu befreien“, sagte Tsuru gelassen. Sie beruhigte es sehr, dass Pecos und seine Leute auch in dem Gebäude waren. „Eimi und ich gehen vor. Alayna und Tak, ihr bleibt nah bei Suna, verstanden? Kioku bildet das Schlusslicht. So sollten wir erst einmal sicher vorankommen können.“
So verließen sie die Zelle und bemerkten dabei nicht, dass aus dem Lüftungsschacht metallische Geräusche kamen, als würde darin jemand hindurchkrabbeln.