KKZ 2 – Kapitel 15 – 21

Kapitel 15 – Arbeit in der großen Hafenstadt
Kapitel 16 – Das Luftschiff
Kapitel 17 – Der Sturm
Kapitel 18 – Regen und Schnee
Kapitel 19 – Auf zum weißen Berg
Kapitel 20 – Der Wald der weißen Tiere
Kapitel 21 – Wichtige Worte


Kapitel 15 – Arbeit in der großen Hafenstadt

 Die letzten Regentroffen prasselten gegen die Fensterscheibe des Hotelzimmers. Dann wurde es ruhig und die ersten Sonnenstrahlen drängten sich durch den nächtlichen Regen durch die Wolken. Die Wassertropfen, die sich noch ans Fenster klammerten, streuten die feinen Lichtstrahlen in winzige Kränze.
Kioku war als erste wach. Vielleicht lag es daran, dass sich die Freunde in dieser Nacht ein Zimmer haben teilen müssen, da sie kaum noch Geld im Portemonnaie hatten. Aber vielleicht lag es auch daran, dass sich Kioku ein Bett mit Alayna geteilt hat und sie des Öfteren etwas mehr Platz beansprucht hatte, als sie sollte.
Nichts desto trotz hatte Kioku so oder so wenig Schlaf gehabt. Sie konnte die Worte von Takeru am vorigen Tag nicht vergessen.
„Und für uns bist du nicht Niemand, du bist Jemand“, flüsterte sie sich vor sich in, als sie am Fenster stand und die Morgensonne betrachtete. Sie drehte sich um und sah Takeru, wie er noch schlief. Sein leises Schnarchen brachte sie zum Kichern. Dieser Junge hatte ein Feuer in sich, dass Kioku noch nicht wirklich erschließen konnte. Es war wie eine Leidenschaft, die so stark pulsiert, dass sie auf andere Menschen sofort übergeht. Die Freude, die er am Leben hatte – selbst wenn die Situation gerade mehr als kompliziert und schwierig für ihn sein mochte – gab ihr eine Sicherheit, dass auch sie einmal dieses Glück empfinden wird. Vielleicht sollte es der Moment sein, in der Kioku sich wieder an ihre Vergangenheit erinnerte.
„Wir brauchen Geld“, murmelte Eimi, der sich gerade streckte. Er gähnte Herzhaft und rieb sich die Augen.
Kioku drehte sich zu ihm. Er schlief die Nacht vor Takerus Bett auf dem Boden und sah dementsprechend erschöpft aus.
„Wir haben einfach kein Geld“, redete er weiter, ohne ihr einen guten Morgen zu wünschen oder Rücksicht auf die noch Schlafenden zu nehmen. „Sonst kommen wir einfach nicht weiter. Wir wissen ja auch gar nicht, wohin wir als nächstes gehen sollten. Es gibt keine weiteren Anhaltspunkte mehr, richtig?“
„Nicht, dass ich wüsste“, entgegnete Kioku und betrachtete wieder die Stadt hinter dem Fenster.
„Also, zumindest wüsste ich nicht, wie wir sonst weiterhin das Hotelzimmer oder Essen bezahlen sollten. Es ist schwierig, ohne Ersparnisse weiterzukommen.“
„Das stimmt. Also sollten wir uns wohl Arbeit besorgen?“
„Arbeit?“, sagte Alayna und gähnte herzhaft. Dann fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare und setzte sich auf. Sie streckte sich und gähnte ein zweites Mal herzhaft. „Das klingt so nach Arbeit.“
„Du bist lustig, natürlich heißt das Arbeit“, lachte Kioku. „Aber Eimi hat Recht, wir brauchen das Geld.“
Alayna ließ einen Seufzer los und starrte dann aus dem Fenster. „Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit? Das ist nicht gerade ein schönes Thema, wenn man gerade aufgewacht ist.“
„Also auf der Straße werden wir kein Geld finden“, erklärte Eimi. „Und ich kenn mich mit der Straße aus.“
„Was schlagt ihr dann vor?“ Alayna hatte keine andere Wahl. Sie hatte zwar noch nie in ihrem Leben gearbeitet, aber in dieser Situation blieb ihr nichts anderes übrig. Für alles gab es ein erstes Mal und ohne Geld kommt man nicht weiter.
„Wir werden uns heute Jobs suchen und etwas Geld verdienen, heute Abend sehen wir dann ja weiter. Vielleicht bekommen wir während der Arbeit Anhaltspunkte, wohin es weiterhin gehen könnte.“
„Klingt gut!“, bekräftigte Kioku und setzte sich zu Alayna aufs Bett.
„Das sollten wir deinem Bruder auch gleich sagen“, meinte Eimi. „Hey Tak, aufwachen!“
Takeru murmelte etwas vor sich hin und drehte sich um.
„Er kommt immer schwer aus dem Bett“, grinste Alayna und schnappte sich ihr Kissen um es auf ihren Bruder zu werfen. Doch der reagierte nicht. „Na warte!“
Sie stand auf zog ihrem Bruder die Decke weg um ihn dann mit ihrem Fuß wachzurütteln. „Aufwachen!“
„Ja… schon gut“, beschwerte sich Tak und versuchte sich unter seinem Kissen zu verstecken.
„Nichts da“, entgegnete Alayna, zog ihm auch das Kissen weg und setzte sich auf ihren Bruder.
„Hey, du bist so schwer! Dicke Kuh!“, ärgerte Tak sie zurück.
Doch Alayna streckte nur die Zunge heraus und meinte: „Ich hab nichts gehört!“
„Dicke Kuh!“, brüllte Tak und schob seine Schwester von sich und stand auf. „Das kriegst du zurück!“
Bevor sich Takeru ein anderes Kissen schnappte, stand Eimi schon zwischen den Geschwistern und versuchte beide wieder zu beruhigen, doch dann bekam er schon zwei Kissen ins Gesicht.
Die Geschwister sahen sich beide in die Augen und fielen schon in lautes Gelächter. Vielleicht war der Morgen doch nicht so schlecht, wie Alayna zunächst dachte.

Später blätterte Takeru die Zeitung durch. Auf der vorletzten Seite fand er Stellenanzeigen für Tageslöhner. Er bat seine Freunde um Ruhe und las einige der Anzeigen durch. Als er fertig war, lag er die Zeitung auf den Tisch.
„Sieht echt so aus, als würden wir nicht darum herum kommen, heute zu arbeiten. Da muss ich mich meinem Schicksal fügen“, seufzte Alayna theatralisch und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Sie fuhr langsam mit dem Finger über die Anzeigen. „Ich glaube ich nehme das.“
„Kellnerin in einem Restaurant?“, stellte Kioku fest, „Ist doch gar nicht so schlecht!“
„Ich denke, es ist machbar. Einen Teller Essen zu den Leuten bringen?“
Eimi schmunzelte. Ob das wirklich so einfach werden würde?
Takeru entschied sich das Tagesblatt der Zeitung auszutragen.
„Wir können im Hafen aushelfen, was hältst du davon?“, schlug Kioku vor und wandte sich zu Eimi. „Da verdient man das meiste, weil es körperlich anstrengender ist. Aber es könnte gut funktionieren.“
„Klar, wenn du das willst, hab ich gar nichts dagegen“, lächelte Eimi.
Nach den netten Worten Eimis am Vortag fühlte sich Kioku sicherer und entschloss sich deshalb, ihn besser kennenlernen zu wollen. Nicht zu wissen, wer man ist, hält einen nicht davon ab, herauszufinden, wer andere sind. So nett wie Eimi doch war, empfand sie ihn trotzdem als unnahbar. Er hatte etwas in seinen Augen, das einem spiegelnden Vorhang glich. Man wusste, dass man von ihm gesehen und wahrgenommen wurde. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sich noch etwas anderes, unbestimmtes dahinter versteckte. Sie musste es herausfinden.

So dauerte es nicht lange, da packten die Freunde ihre Sachen und machten sich auf den Weg zu ihren Arbeitgebern. Alayna kam als erste bei ihrem Arbeitgeber an. Als sie sich vorstellte, drückte der Chefkoch ihr gleich eine Schürze und einen Notizblock mit Stift in die Hand. Ihre Aufgabe war es, die Wünsche der Gäste zu notieren, dies den Köchen zu sagen und dann das Essen den Gästen zu bringen. Vorerst dachte sie, dass es machbar war, aber als sie merkte, dass es schwierig war, sich alles zu merken, welches Gesicht zu welcher Person, und welche Person zu welcher Bestellung gehörte, versuchte sie trotzdem immer zu lächeln. Wenn sie sich vertan hatte, entschuldigte sie sich höflich und meistens gab es auch keine weiteren Probleme deswegen. In einer Ecke saßen einmal ziemlich reich wirkende Damen, die mit schnippischen Kommentaren um sich warfen, als würden sie wie zu einem Fest Feuerwerk in die Luft jagen.
Alayna schoss die Wut durch den gesamten Körper. Sie war kurz davor, ihrem Ärger platz zu mache. Wie konnten sich diese Zicken nur so etwas erlauben?
„Und diese Klamotten, wie kann man nur so aus dem Haus gehen, geschweige denn Kellnerin werden?“, bemerkte eine der Frauen, die eine große Goldkette und ebenso große Kreolen trug. Ihre drei Freundinnen kicherten darauf wie wild, um ihr den nötigen Ruhm für ihre Kommentare zu geben.
Alayna ballte ihre Faust und war gerade dabei zu schreien, als der Chefkoch hinter ihr stand und sanft die Hand auf ihre Schulter legte. Mit seinen Augen sagte er ihr, dass sie in der Küche warten sollte. Sie verstand erst nicht, aber als sie bemerkte, was der Koch zu den Ladys sagte, als sie gerade wegging, schlich sich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht.
Die Küche war lebendig. Essen wurde hin- und hergetragen, die Anweisungen der Köche, das Klappern der Töpfe und Werkzeuge klangen in einer rhythmischen Melodie.
Der Chefkoch kam herein. Alayna blieb still.
„Eines must du im Leben lernen“, fing der Chefkoch an. Seine Stimme war so tief und angenehm. Sein grauer Bart bewegte sich kaum, als er redete. „Es gibt zwei Arten von Menschen: Die einen wollen dir etwas Gutes, die anderen fühlen sich besser, wenn sie dich schlecht machen. Halte dich einfach diesen Leuten fern und konzentriere dich auf die Guten.“
Er legte wieder seine Hand auf ihre Schulter, sah ihr tief in die Augen und Alayna nickte bestätigend.
„Dann geht es weiter mit der Arbeit.“
Und Alayna machte sich wieder auf.

Takeru befand sich schon auf seiner Reise durch die Stadt. Hinter sich zog er einen Bollerwagen, der befüllt mit Zeitungen und Werbung war. In der Hand hielt er eine Karte mit der Route, an welche Haushalte er die Zeitungen ausliefern sollte. Jedes Mal, wenn er vor einem Haus stand und dabei war, einen Stapel Zeitungen dazulassen, machte er eine kurze Pause und las in der Zeitung.
So ging das eine Weile, bis Takeru immer langsamer und immer langsamer wurde. Dann setzte er sich vor eine Haustür, schlug die Zeitung auf und las sich die großen Berichte durch: „Feuersbrunst zerstört ganzes Dorf“, „Geiselnahme mit glimpflichen Ausgang“, „Schneemonster und Lichtgestalt“.
Der letztere Bericht interessierte Takeru sehr.
„Augenzeugen berichten, dass in der Nähe ihrer Dörfer auf dem Fuße des Shimorita eine Lichtgestalt gesehen wurde, die von einer Art Schneemonster verfolgt worden sei. Die abergläubischen Dorfbewohner reden von einem Yeti und die Heilige Rothea, die Menschen aus Schneestürmen retten sollen. Es wird gebeten, dass weitere Aussagen den örtlichen Behörden gemeldet werden solle, weil noch nicht sicher ist, um was es sich bei diesem Ereignis handle“, las er halblaut vor. „Eine Lichtgestalt und ein Schneemonster, das ist sicherlich mein Vater und das Lichtwesen!“
Takeru jubelte vor Freude, das musste es sein! Doch wie kommt er nach Ruterion, damit er die Spur seines Vaters nicht verlieren konnte? Es war momentan unmöglich, ohne Geld weiterzukommen. Sie müssten sich ein Schiff leisten können. Oder doch eher als blinder Passagier mitreisen? Das wäre zu gefährlich.
Er seufzte und ließ die Zeitung fallen. Was sollte er nur tun? Grübelnd starrte er auf den Boden und entdeckte in der fallen gelassenen Zeitung ein Gewinnspiel.

„Gewinnen Sie ein Gratisrundflug für 5 Personen nach Saiyhô! Gratis Hotelübernachtung und Rundführung durch die Stadt. Melden Sie sich jetzt an und gewinnen Sie!“

„Das ist es!“, rief Takeru voller Freude. Er stürzte sich in diesem Augenblick auf alle Zeitungen, riss alle Anmeldeformulare für das Gewinnspiel heraus und füllte sogleich alle aus. Den Wagen mit den Zeitungen ließ er stehen. Dann rannte er zum Verlag und gab über dreihundert ausgefüllte Gewinnspielformulare ab. Jetzt hieß es nur noch abwarten und gewinnen. Die Ziehung sollte am Abend erfolgen.

Eimi und Kioku waren währenddessen damit beschäftigt, am Hafen Kisten hin und her zu schleppen.


Kapitel 16 – Das Luftschiff

 Als die Sonne am nächsten Morgen hinter dem Horizont aufstieg, waren unsere Freunde schon längst bereit und schlenderten durch die Straßen der Stadt. Sie verließen das Gasthaus so früh, damit sie nicht noch mehr zahlen mussten. Ein kleines Frühstück holten sie sich vom Markt. Alayna und Eimi liefen zusammen voraus.
„Ich find diese Einstellung irgendwie nicht in Ordnung“, murmelte Alayna und biss von ihrem Brot ab. Erst kaute sie darauf herum, als überlegte sie und sprach dann mit vollem Mund weiter: „Ich mein, klar sehe ich ein, dass wir nun auf unserer Reise weiterkommen, aber wir stecken doch schon in so viel Ärger, da ist es unmöglich, sich mehr Ärger anzuhäufen.“
Sie warf einen besorgten Blick über ihrer Schulter zu ihrem kleinen Bruder.
„Er meint es doch nur gut“, entgegnete Eimi, um sie zu beruhigen. Zum Frühstück hatte er sich nur einen Kaffee geholt. Vom Waisenhaus war er es gewohnt, erst dann zu frühstücken, wenn die Kinder mit ihrem Frühstück fertig waren. „Ihm fehlt es noch etwas an Verantwortungsbewusstsein. Ich kann ihn schon verstehen, dass es nicht leicht ist, sich zwischen Richtig und Falsch zu entscheiden, wenn ihr nach eurem Vater sucht, das ist eine ungewöhnliche Situation. Es ist schwierig, das Richtige zu tun, wenn man über sein Handeln keinen Überblick hat.“
Ein Kribbeln fuhr über Alaynas Haut. Sie sah Eimi von der Seite an. Sie sah ihm zu, wie er sprach, wie er mit seinen Händen gestikulierte und dabei in die Ferne sah. Es lag wohl an Eimis klarem Blick auf die Dinge, was Alayna so faszinierte. So gut wie er in einen Menschen sehen konnte, so gut konnte er sich auch in einen einfühlen.
„Dennoch ist es schwierig“, erklärte Eimi, „wenn sein Handeln keine Konsequenzen hat. Ich hoffe, dass sein Moralempfinden ihn irgendwann auf die richtige Bahn bringt.“
„Was meinst du mit irgendwann?“, wunderte sich Alayna. „Das klingt fast so, als wäre er auf sich allein gestellt. Wir können ihm doch einfach sagen, wenn er etwas falsch macht.“
„Klar können wir das. Aber ob er das auch versteht, ist die andere Frage. Ich habe im Waisenhaus oft Kinder gehabt, die solchen Ratschlägen lange aus dem Weg gegangen sind. Außerdem…“, Eimi legte eine kurze Pause ein und kratzte sich an seinem Hals, „Außerdem wird er früher oder später auf sich allein gestellt sein.“
Eimis Augen verschmälerten sich und Alayna wusste, auf was er hinaus wollte. Er brauchte nichts mehr sagen und sie verstand, dass das, was vor ihnen lag, große Gefahren barg.

Es verging etwas Zeit, als sich die Freunde am späten Vormittag zum Flugplatz aufmachten. Das Luftschiff sollte gegen Mittag fliegen. Ein warmer, leichter Wind wehte und die ersten Blumen, die sich zwischen dem Pflaster durchzwängten, um etwas von der frühlingshaften Sonne abzubekommen, schaukelten sanft hin und her.
Auf dem Platz waren viele Menschen unterwegs. Viele Männer beluden das Schiff, Flughafenarbeiter nahmen die Startvorbereitungen vor, entfernten Seile, brachten Haken an und checkten das Luftschiff von oben bis unten. Das Luftschiff selbst war riesig. Es verfügte über einen großen mit Gas gefüllten Auftriebskörper. An dessen Ende befanden sich Steuerklappen, mit denen das Schiff lenken konnte. Um schneller voran zu kommen, waren an den Seiten des Auftriebskörpers kleine Flügel mit Propellern angebracht. Die Gondel war zweistöckig und hatte große Fenster. Es passten sicherlich fast einhundert Passagiere hinein.
Die Freunde blieben stehen und besprachen sich kurz.
„Also, wir haben fünf Tickets und sind aber nur zu viert“, eröffnete Takeru das Gespräch.
„Das bedeutet, dass wir ein Ticket zum Verschenken haben“, antwortete Kioku.
„Oder wir verkaufen es“, warf Alayna ein.
„Aber wir haben doch auch nichts für die Tickets bezahlt“, meinte Kioku und sah sie fragend an.
„War ja nur ein Vorschlag“, murmelte das Mädchen.
„Ich finde den Vorschlag, die Karte zu verschenken, gar nicht so schlecht. Doch wie finden wir heraus, wer diese Karte noch will?“
„Wir gehen einfach herum und fragen die Leute!“, schlug Takeru vor und machte sich schon auf den Weg.
„Bleibt uns wohl nichts anderes übrig, bis gleich Leute“, seufzte Alayna und zog von dannen.
So liefen die Vier durch die Menge und fragten die unterschiedlichsten Leute, ob sie noch ein Ticket bräuchten. Sie trafen auf Familien mit Kindern, auf alte Leute und auf reiche Leute, die dekadent ihre teuren Pelzmäntel zur Schau stellen mussten. Allesamt schickten sie die Freunde wieder weg und meinten, sie hätten ihre Tickets bereits.

Am Ende war es Kioku, die Erfolg hatte. Als sie so durch die Menschenmasse ging, war sie zu unaufmerksam und lief in einen Mann. Als der Mann sie aber davor schützen konnte hinzufallen und sie auffing. Der Mann war ungefähr in Kiokus Alter. Seine blauen Haare fielen ihm strähnig ins Gesicht. Er trug ein Stirnband, welches mit verschiedenen dunkelgrauen Linien verziert war und einen schwarzen Trenchcoat, der wegen der Sonne schon etwas verblichen war. Seine rechte Hand war mit einem Verband umwickelt. Eisig türkisfarbene Augen sahen Kioku direkt in die Augen.
„Entschuldigen Sie“, versuchte Kioku sich zu entschuldigen, aber der Herr verbeugte sich höflich, nachdem er sie wieder loslassen konnte.
„Ich muss mich entschuldigen. Es tut mir leid, dass Sie über mich gestolpert sind“, sagte er förmlich. „Ich hoffe, Sie sind nicht zu Schaden gekommen.“
„Ehm“, stotterte Kioku, „keineswegs!“ Der Mann verunsicherte Kioku etwas. Es war selten, jemand so höfliches zu treffen. Deswegen wirkte er etwas befremdlich auf sie. Kioku bemerkte, wie der Mann den Stoff begutachtete, den Kioku um das Handgelenk trug. Es handelte sich um das Stück, welches sie in dem Antiquariat gekauft hatte.
„Interessanter Armschmuck“, bemerkte der Mann.
„Ihrer auch“, entgegnete Kioku, fasste sich schützend mit der linken Hand am rechten Handgelenk und deutete mit ihrem Blick auf seine Rechte.
„Das ist nur eine Verletzung“, meinte der Mann und lächelte leicht dabei. „Ich war etwas tollpatschig und verbrühte mir die Hand.“
Kioku wusste, dass er log. Vielleicht war es die Vermutung, dass er Rechtshänder war, wie sie vorhin beobachten konnte und man sich doch eher dann die linke Hand verletzen würde. Oder aber es lag einfach an der Art, wie er sie ansah und mit ihr sprach. Aber Kioku beließ es dabei, er hatte sicherlich seine Gründe.
„Sie wissen nicht zufällig, ob man sich hier noch irgendwo ein Ticket für das Luftschiff kaufen kann? Ich laufe hier schon geraume Zeit umher, aber finde nirgendswo einen Verkauf“, fragte der Mann und sah sich dabei suchend um.
„Ich…“, fing Kioku an und hielt noch einen Moment inne. Sollte sie das nun wirklich tun? Irgendetwas umgab diesen Mann, was ihn zwar befremdlich, aber auch ganz interessant wirken ließ. Also entschied sie sich dafür, ihn doch zu fragen. „Meine Gruppe und ich haben noch genau ein Ticket für das Luftschiff übrig. Wenn Sie wollen, können sie gerne mit uns zusammen fliegen?“
„Das würde mich sehr freuen. Sind Ihre Freunde damit auch einverstanden?“, hakte der Mann nach. Es war nun viel vertrauenserweckender, dass er noch extra nachfragte, ob das für jeden in Kiokus Gruppe in Ordnung war.
„Ich denke schon“, lachte Kioku nervös. Warum war sie denn jetzt plötzlich nervös? Sie hoffte, dass sie sich nun doch richtig entschieden hatte.
„Wenn Sie mitkommen, stelle ich Ihnen meine Freunde vor. Mein Name ist Kioku“, schlug sie vor und reichte dem Mann die Hand. Doch er winkte lächelnd ab.
„Gegen die Vorstellung habe ich nichts einzuwenden. Aber ich verzichte auf das Händeschütteln. Sie wissen, die Verletzung“, erklärte er mit einem charmanten Lächeln. „Mein Name ist Anon Tedium.“
Es gab für Kioku zwei Möglichkeiten. Wenn sie sich irrte und dieser Anon doch eher böse Absichten hatte, dann war Kioku wenigstens nicht allein und sie könnten sich als Gruppe wehren. Würde sie sich jedoch nicht täuschen und es bestätigte sich, dass Anon ein Guter war, gab es ja keine Probleme.

Die Freunde trafen sich nach kurzer Zeit wieder und Kioku stellte ihnen Anon Tedium vor. Es stellte sich heraus, dass Anon wirklich der einzige Kerl ohne Ticket auf dem ganzen Flugplatz war.
„Ich wünsche euch einen schönen guten Tag“, begrüßte Anon die Freunde und sie grüßten zurück.
„Weswegen wollen Sie denn unbedingt nach Ruterion fliegen?“, hakte Takeru neugierig nach.
„Dasselbe könnte ich euch fragen“, meinte Anon und lächelte wieder charmant.
„Wir haben schon unsere Gründe“, antwortete Alayna schnippisch.
Anon lächelte nur weiterhin. Kioku beobachtet die Situation. Das, was Alayna so provozierte, faszinierte Kioku eher. Klar, jetzt war sicher, dass Anon etwas verheimlichte, aber was war das?
Eimi verschränkte seine Arme gemütlich hinter seinem Kopf. „Also ich habe nichts dagegen, dass dieser Herr mitfliegt. Es hat sich doch eh niemand anderes finden lassen, richtig?“
„Mh“, murmelte Alayna und verschränkte ihre Arme. „Von mir aus. Mir ist das egal.“
„Ich habe auch nichts dagegen“, antwortete Takeru und überreichte Anon die Karte. „Ich glaube, wir sollten langsam einsteigen, die meisten Leute stellen sich schon an!“

Kurz bevor die Freunde einsteigen konnten, hörten sie ein lautes Brüllen.
„He Junge! Jungchen! Warte!“, rief ein etwas älterer Mann.
„Mist!“, reagierte Takeru und beeilte sich, einzusteigen.
„Was ist denn los?“, hakte seine Schwester nach, die sich über das komische Verhalten ihres Bruders wunderte. Die Freunde zeigten ihre Tickets vor und waren kurz davor einzusteigen.
„Das ist der Chef der Zeitung“, erkannte Takeru.
„Was hast du gesagt?“
„Dass das der Chef der Zeitung ist, der wohl gemerkt hat, dass ich Mist gebaut habe…“, wiederholte Takeru, drückte dem Schaffner panisch das Ticket in die Hand und rannte den Steg hinauf. Kurz bevor er im Luftschiff verschwand, kam der Mann zu den Freunden. Sein Gesicht war durch viele Falten gekennzeichnet, sein grauer Schnauzer hatte an manchen Stellen gelbe Flecken. Er keuchte und beim Brüllen flogen einige Speicheltropfen umher.
„Komm her, du Bursche!“, brüllte er, ohne die Freunde zu bemerken. „Ich weiß, dass du die Zeitungen gar nicht ausgetragen hast, sondern dir nur die Gutscheine eingeheimst hast!“
Auf die Sekunde kam ein hagerer Mann mit Brille. Er trug einen Anzug und hatte einige Unterlagen unterm Arm. Es handelte sich hier wohl um den Assistenten des Zeitungsverlegers. Er schnaufte, als er sagte: „Chef, ich glaube nicht, dass sie ihn noch in die Finger kriegen. Wir haben nicht einmal die richtigen Beweise.“
„Lasst mich hinein! Ich weiß, dass er es war!“, brüllte der Zeitungsverleger und versuchte sich auf den Steg zu drängeln. Doch sogleich kamen einige Wachmänner und hielten ihn davon ab.
„Den knöpf ich mir noch vor, wenn ich ihn wiedersehe!“, brüllte der Zeitungsverleger und wurde von den Wachmännern weggezerrt.
Alayna, Kioku und Eimi sahen sich verwundert an. Das Ganze passierte gerade so schnell, dass sie kaum darauf reagieren konnten.
„Hab ich es doch gewusst“, murmelte Alayna. „Da hat er großen Mist gebaut.“

Einige Augenblicke zuvor rannte Takeru durch das Luftschiff und kam zum Bug. Er verschnaufte kurz und lehnte sich an eines der Bullaugen, um die Situationen aus sicherer Entfernung zu betrachten.
„Hast wohl was angestellt?“, fragte ihn plötzlich eine fremde Stimme. Es war eine Frau, die etwas älter als seine Mutter wirkte. Sie trug eine dunkelbraune Lederjacke. Ihr Haar war streng zurückgebunden und zu einem Zopf geflochten. Nur eine einzelne Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Um ihren Hals trug sie eine auffällige Fliegerbrille. War sie eine Pilotin?
Takeru antwortete erst nicht und sah sie verwirrt an.
„Ich sehe so was, Junge“, meinte sie und warf einen Blick nach draußen.
„Aber ich hatte doch keine böse Absicht“, verteidigte sich Takeru. Er war überzeugt davon, dass es nicht so schlimm war, dass er den Zeitungsverleger um die Gutscheine betrogen hatte.
„Ob etwas gut oder böse ist, ist immer eine Sache der Perspektive“, erklärte sie und blickte dabei nicht mehr auf die Menschen, sondern in die Ferne. „Dinge, die für einen selbst einen guten Nutzen haben, können für andere Menschen verletzend sein, weißt du. Wenn man etwas tut, sollte man sich im Voraus immer sicher sein, ob das nicht auch negative Folgen für jemand anderes haben könnte. Das Beste ist es, Dinge zu tun, die für jeden einen Nutzen haben.“
„Die für jeden einen Nutzen haben“, murmelte Takeru nach. Ihm war noch nicht so klar, was diese Frau meinte.
„Nimm mich zum Beispiel, die gute alte Fenya fliegt gerne in den Himmel. Aber alleine zu fliegen, wäre Verschwendung von Ressourcen. Deswegen nehme ich gern andere Leute mit. Es ist meine Bestimmung, Menschen die Schönheit des Himmels zu zeigen.“
Die Frau schwärmte so sehr, dass sie gar nicht mehr mitbekam, was um sie herum passierte. Takeru verstand aber nun besser, was die Frau meinte. Es war gerechter, wenn man etwas für sich selbst tat und dabei auch noch etwas Gutes für andere Leute machte, als jemanden dann auch noch zu verletzen.
„Ich hätte wenigstens die Zeitungen austeilen können“, murmelte Takeru vor sich hin. Es tat ihm plötzlich leid, dass er den Zeitungsverleger so schamlos ausgenutzt hatte.
„Tak!“, rief Alayna, die ihren Bruder gefunden hatte. „Was war das gerade eben?!“
Sie war sichtlich sauer darüber, dass sich Takeru so feige verhalten hatte. Kioku und Eimi konnten gerade nichts dazu sagen.
„Es tut mir leid, Alayna! Du hattest Recht, es war nicht gut, die Situationen mit den Gutscheinen so auszunutzen. Ich hätte das nicht tun sollen.“
Alayna verpasste ihrem Bruder eine Kopfnuss. „Das nächste Mal machst du so etwas nicht mehr!“
„Ist ja wieder gut“, unterbrach Eimi die Zwei, „Er hat es ja jetzt eingesehen. Und siehst du, er hat es auch selbstständig herausgefunden.“
„Sie hat mir dabei geholfen“, musste Takeru zugeben und zeigte auf Fenya, die neben ihm stand.
„Fenya T. Sendo. Ich bin die Kapitänin des Schiffes. Freut mich, euch kennenzulernen. Ihr seid die Familie, nehme ich an?“
„Freunde. Ich bin Kioku“, entgegnete Kioku und reichte ihr die Hand. Dann stellte sich Alayna als die Schwester und Eimi als Freund vor. Anon Tedium hatte sich schon vorher von den Freunden getrennt.
„Ich hoffe, ihr habt einen angenehmen Flug“, lächelte Fenya die Freunde an. „Schau mal, da ist der Mann, bei dem du dich entschuldigen solltest.“
Prompt öffnete sie das Bullauge und lud Takeru dazu ein, sich hinauszulehnen.
„Es tut mir so leid!“, rief Takeru so laut er konnte und der Zeitungsverleger hörte ihn sogar. „Ich hätte die Zeitungen austragen müssen, ich habe darüber nicht nachgedacht, sondern nur meinen eigenen Vorteil gesehen! Es tut mir schrecklich leid! Ich muss aber unbedingt meinen Vater finden!“
Der Zeitungsverleger hatte, dank der Hilfe seines Assistenten, mittlerweile eingesehen, dass es keinen Zweck mehr hatte. Trotzdem war er unglaublich wütend und rief noch einige unverständliche Worte vor sich hin.
„So, ich muss dann“, entschuldigte sich Fenya, nachdem sie auf ihre Taschenuhr geblickt hatte, „das Luftschiff fliegt sich nicht von allein.“
Der Zeitungsverleger ging vom Flugplatz, Takeru schloss das Bullauge wieder und blickte erleichtert seine Freunde an.
„Damit das klar ist, ich finde das immer noch nicht wirklich in Ordnung“, verteidigte sich Alayna und stellte sich an ein anderes Fenster.
„Das ist nun mal passiert“, meinte Kioku und kratzte sich. „Er hat sich ja immerhin entschuldigt.“
Eimi schenkte Takeru nur ein leichtes Schulterklopfen.
„Dann kann der Flug jetzt ja losgehen!“, grinste Takeru erleichtert. Dank Fenya hatte er jetzt immerhin etwas dazugelernt. Es dauerte nicht lange, da hob das Luftschiff auch ab. Einige Seile lösten sich und langsam schwebte das Schiff immer höher vom Boden. Jetzt ging es nach Ruterion.
 
Nach einer Weile trafen die Freunde wieder auf Anon Tedium. Er hatte sich relativ zügig zurückgezogen, nachdem alle an Bord gegangen waren. Er saß im hinteren Teil des Luftschiffes, wo sich das Bistro befand. Der rote Teppichboden und die vergoldeten Stuckelemente an den Wänden ließen zusammen mit einem Kronleuchter den Raum ziemlich edel wirken. Die Fenster hier waren größer, sodass man auch von der Mitte des Raumes aus gut nach draußen schauen konnte. Es befanden sich einige runde Tische im Raum, an denen teilweise Familien zu Mittag aßen, oder man auch allein nur einen Kaffee trank.
Anon Tedium saß auf der Backbordseite, trank einen Rotwein und blickte aus dem Fenster.
„Da seid ihr ja wieder“, grüßte Anon, als er die Freunde erblickte. „Der Flug geht zügig voran.“
Er deutete aus dem Fenster, wo man erkennen konnte, dass sich das Luftschiff schon über dem Meer befand. Die Sonne glitzerte auf der sich bewegenden Wasseroberfläche. Das Schiff flog so weit oben, dass es seinen Schatten auf Wolken darunter warf, die es ab und an überholte. Die Wolken wirkten wie starre, formlose Hindernisse, die man einfach überfliegen konnte.
Mit einer Handbewegung lud Anon die Freunde ein, sich zu ihm zu setzen.
„Wie kommt es, dass sich vier so junge Leute zusammentun und sich für eine Reise mit diesem herrlichen Luftschiff entscheiden?“, fragte er direkt nach.
„Wissen Sie“, antwortete Kioku gleich, „Wir haben diese Freikarten gewonnen und dachten uns, dass es ein schönes Ausflugsziel wäre, einmal den anderen Kontinent zu sehen.“
Sie nahm gleich das Wort an sich. Ihr war der Mann immer noch nicht so ganz geheuer, weswegen sie erst einmal lieber auf Abstand gehen wollte. Sie zwinkerte ihren Freunden zu, damit diese ihre Aussagen bestätigten. Passenderweise hatten die Freunde auch ziemlich wenig Gepäck, weswegen die Sache mit dem Ausflug eher glaubwürdig wirkte.
„Ich suche etwas“, entgegnete Anon, ohne auf die Absichten der Gruppe einzugehen.
„Wir su…“, fing Takeru an, wurde aber von Kioku unterbrochen. „Das klingt so, als würden Sie da ein Abenteuer vor sich haben!“
„Ein Abenteuer?“, wiederholte Anon und blickte nachdenklich in die Ferne.
Takeru holte Luft und wollte wieder etwas sagen, aber Kioku sah ihn mit verengten Augen an und er verstand daraufhin, dass er nichts verraten durfte. Während sich Alayna und Eimi leise unterhielten, wollte Kioku noch etwas mehr Informationen aus diesem Mann herauskitzeln. Sie hatte die Befürchtung, dass mit diesem Kerl etwas nicht stimmte. Oder war sie doch etwas zu ängstlich? Eigentlich war Anon Tedium ein netter Mann. Sie war sich einfach nicht sicher. Warum war sie denn gerade so misstrauisch, erst war es Eimi, jetzt Anon. Die letzte Zeit war einfach sehr angespannt und vielleicht musste sich Kioku für ein klareres Urteil einfach nur entspannen.
„Ich bin mir nicht sicher, wie die Suche wird. Aber was ich finde, bleibt ein Ge-heim-nis“, erklärte Anon, bewegte seine Finger im Takt und lächelte freundlich. Dann nahm er sich einen Schluck seines Rotweines.
„Eine herrliche Reise. Was heutzutage alles möglich ist. Wir überqueren fliegend ein Meer, was vor hunderten Jahren den Menschen nur mit aufwendiger und anstrengender Seefahrt möglich war. Und zu was die Menschen heute in der Lage sind, das sind wahrliche Wunder.“
‚Wahrliche Wunder‘, wiederholte Kioku in ihren Gedanken. So wie Anon das sagte, klang das so, als wären Menschen zu übermenschlichen Taten fähig.
Dann stieg Takeru mit ins Gespräch ein und er erzählte davon, wie er in der Schule gelernt hatte, wie die Menschen zum Fliegen kamen. Anon und er tauschten sich über so einige interessante Geschichten aus und Kioku verließ gedanklich schon lange die Unterhaltung. Sie vertiefte sich in die Analyse ihres Gegenübers und versuchte ihn durch ihre Beobachtungen besser zu verstehen.
So beschäftigt unsere Freunde auch mit ihren Unterhaltungen und ihren Gedanken waren, bekamen sie nicht mit, dass aus der Richtung, aus der sie kamen, sich die Wolken zu schwarzen Türmen zusammenschoben und dem Luftschiff immer näher kamen.

 


Kapitel 17 – Der Sturm

 Das Meer wurde unruhig. Die zunächst sanften Wellen bekamen mehr Energie und schaukelten sich allmählich zu größeren, wilderen Wellen auf. Schäumend schlug das Wasser aufeinander. Der Rückenwind, der das Luftschiff durch die Luft beförderte, wurde immer schneller.
Panisch kam einer der Luftmatrosen auf die Brücke. „Das wird mindestens ein Sturm der Kategorie 7!“
„Ich weiß!“, behauptete Fenya, die die Messgeräte des Luftschiffes sekündlich prüfte. „Mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir in den Sturm geraten. Wir müssen hoffen, dass wir den Kurs beibehalten können.“
Fenya nahm ihre Mütze ab und fuhr sich angestrengt mit ihrer Hand durch die Haare. „Warum habe ich das in meinen Vorbereitungen nicht festgestellt, dass so ein Sturm auf uns zukommt?“
„Das ist ziemlich ungewöhnlich. Das passiert Ihnen sonst nie“, meldete sich einer der Luftmatrosen zu Wort, der für das Gas im Luftschiff zuständig war.
„Ja, ich weiß“, seufzte Fenya, setzte sich wieder die Mütze auf und setzte sich ans Steuer. „Ich übernehme…“

Eine halbe Stunde zuvor …

Bevor dies alles passierte, bemerkten die Freunde noch nicht, in welcher Gefahr sie bald schwebten. Während Eimi den stärker werdenden Wellen zusah, hörte er Alayna zu, die Geschichten aus der Schule erzählte.
„… und da war dieser eine Tag, an dem doch ernsthaft unser Lehrer vergessen hatte, dass er eine Klausur in unserer Klasse schreiben wollte. Da hatten die, die nichts gelernt hatten, aber Glück gehabt. Wie es wohl meinen Mädchen geht?“ Alayna dachte an ihre besten Freundinnen, die zusammen eine kleine Clique gebildet hatten. Sie saßen im Klassenzimmer zusammen und hatten auch sonst ziemlich viel Zeit miteinander verbracht.
„Es sieht wohl so aus, als würde ich sie lange nicht mehr sehen“, meinte sie gedankenverloren und wirkte dabei sehr traurig.
„Bald sind die Ferien auch zu Ende, richtig?“, antwortete ihr Eimi. Auch er dachte gerade an seine Heimatstadt, seine Schule und vor allem die Kinder im Heim. In letzter Zeit war es ihm noch gar nicht so bewusst gewesen, dass er seine Familie und das Heim zurückgelassen hatte, um mit Alayna und Takeru mitzureisen. Heimweh hatte er keines. Doch wie war das für Alayna? Und was hatte es eigentlich für Konsequenzen, dass sie alle von Zuhause fort waren?
„Es wird sicher alles gut werden“, sagte er und wollte damit Alayna und sich beruhigen. Es war nicht gerade erwachsen und verantwortungsvoll gewesen, aber diese Konsequenzen wollte er erst einmal beiseiteschieben. Momentan war die Suche nach Alaynas Vater wichtiger.
„Meinst du, deinen Eltern geht es gut? Ob sie sich Sorgen machen? Ob sich meine Mutter um mich sorgt?“, grübelte Alayna. Sie hatte doch erst letztens mit Takeru darüber geredet, aber dieses Gefühl, dass sich Ryoma um ihre Mutter sorgte, war ihr immer noch nicht geheuer.
„Ich habe es meinen Eltern erklärt, und sie fanden es in Ordnung. In ihrer Erziehung hatten sie mir schon immer viele Freiheiten gelassen. Wahrscheinlich sehen sie das als eine Art Studienfahrt an.“ Eimi lachte etwas, bei dem Gedanken, dass dies eine Studienfahrt wäre. „Und deiner Mutter geht es sicher gut. Ryoma hat sich um euch doch auch gekümmert. Außerdem ist sie eine erwachsene Frau, sie wird schon wissen, was sie tut.“
Alayna war sich nicht sicher, was sie glauben sollte. Sicherheit oder nicht, das konnte sie einfach nicht einschätzen. Die ganze Situation war so konfus, dass sie überhaupt nicht mehr wusste, was sie überhaupt denken sollte. Und immer wieder kam sie zu diesen Momenten, in denen sie sich innerlich verkrampfte und nicht erahnen konnte, wie es weitergehen sollte.

Die interessanten Unterhaltungen wurden unterbrochen, als Fenya an den Tisch kam.
„Also, da ihr sicherlich über den Shimorita gehen wollt, möchte ich euch noch etwas dafür schenken“, begrüßte die Kapitänin die Freunde.
„Wie, etwas schenken?“, hakte Kioku neugierig nach.
„Das werdet ihr gleich sehen, kommt mit!“, lud Fenya ein und die Freunde liefen ihr hinterher. Die Reise ging durch das Luftschiff bis an das Heck. Sie führte die Freunde in einen kleinen Raum. Dieser war zugestellt mit staubigen Kisten, Planen, Seilen und anderem Krimskrams, welcher ebenfalls mit Staub und Spinnenweben bedeckt war. In der Mitte des Raumes leuchtete schwach eine nackte Glühbirne. Der Luftzug, der durch die geöffnete Tür kam, wirbelte einigen Staub und Spinnenweben auf. Mit einer Brechstange drückte sie den Deckel einer Kiste auf. Ein paar Motten entflogen der Kiste und deckten einen Haufen alter Klamotten frei.
„Ich wundere mich schon, warum ihr alle so kalt angezogen seid“, fing Fenya ihre Erklärung an, „für Ende des Winters ist es meiner Ansicht immer noch ziemlich kalt. Aber ihr seid da wohl etwas härter drauf als ich.“
Sie musste lachen und wühlte durch die Klamotten. Die Freunde sahen sich dabei verwundert an. Sie hatten tatsächlich nicht so viele Klamotten dabei, dass es für kältere Temperaturen ausreichen würde. Aber bisher hatten sie auch keine Probleme gehabt. Das Wetter war beständig und aushaltbar gewesen. Dass man auf einer Bergüberquerung natürlich festere Klamotten bräuchte, daran dachte keiner. Für solche praktischen Gedanken war seit Anfang an kaum Platz gewesen.
„Auf jeden Fall habe ich hier viel mehr Klamotten, als ich überhaupt brauche. Das sind alte Fundstücke von Passagieren und Luftmatrosen, die hier nicht mehr arbeiten. Ihr könnt sie haben. Hier in den Lüften ist es meistens auch ziemlich kalt.“
„Vielen Dank!“, freute sich Takeru und stürzte sich gleich auf die Kiste.
„Das ist wirklich nett“, bedankte sich auch Kioku, „Das könnten wir wirklich gebrauchen auf unserer weiteren Reise.“
Alayna fand als erste etwas. Sie hatte einen knielangen, innen gepolsterten und warmen Mantel gefunden, der dazu auch noch eine Kapuze und viele Taschen besaß. Die weiße Jacke hatte ein feines, graues Karomuster in Form von spitzen Rauten aufgenäht. Eimi zog sich einen ockerfarbenen Poncho aus der Kiste, der ein rot-orangenes Zickzackmuster aufwies. Der Poncho war aus einem so dicken Stoff gefertigt, dass dieser auch wärmend war. Das praktische für ihn war, dass er sein Schwert ganz leicht darunter verstecken konnte. Takeru fand eine blaue Daunenjacke, mit weißen Ärmeln und einer weißen Kapuze. Kioku zog sich eine alte Fliegerjacke aus dunkelbraunem Leder aus der Kiste, dessen Kapuze und Stoff mit Fell gefüttert war. Zudem konnte sie sich noch eine lange Hose herausholen, welche sie statt ihrer kurzen tragen konnte.
„So seid ihr etwas besser ausgestattet und übersteht auch etwas kältere Temperaturen“, meinte Fenya und zwinkerte den Freunden zu.
„Das ist super“, freute sich Takeru, „Damit können wir Wind und Wetter trotzen und trotzdem sicher weiterreisen!“
„Also, die schönste Jacke ist das ja nicht“, meinte Alayna und blickte kritisch an sich herab.
„Du siehst aber schon hübsch aus“, meinte Eimi, woraufhin Alayna rot anlief und sich deshalb beiseite drehte.
„Danke“, antwortete sie. Kioku freute sich so sehr darüber, dass sie grinsen musste.
„Also ich schätze, ihr seid für eure Weiterreise gewappnet“, sagte Fenya und warf den Deckel wieder auf die Kiste. Ein weiterer Wirbel von Staub und Spinnenweben bewegte sich durch den Raum. „Ich werde dann mal zurückgehen, ich hoffe, ihr könnt euren Flug genießen.“
„Tun wir!“, strahlte Takeru und ging als erster raus. Die anderen folgten ihm.

Eine Weile später spazierten die Freunde in ihren neuen Klamotten durch das Schiff. Sie wollten sich alles einmal ganz genau anschauen. Klar, das Schiff war nicht sonderlich groß, aber die Räume, die Menschen und der Ausblick auf das nicht enden wollende Meer faszinierten die Freunde. Ab und an kam ihnen ein Luftmatrose entgegen, den sie nett grüßten.
Es gab auch eine Aussichtsplattform, auf die die Freunde gehen wollten. Am Heck gab es eine massive Tür, die ein großes Bullauge besaß und den Blick nach draußen zur Plattform ermöglichte, welche so groß war, dass zehn Leute leicht Platz hatten. Geschützt war diese von einer Brüstung aus verzierten Stangen, die ungefähr so groß war wie Takeru.
„Türe bitte geschlossen halten“, las Kioku von einem Schild ab, während sie diese öffnete. „Nicht zu stark über die Brüstung lehnen.“
„Also da hätte ich keine Lust drauf“, antwortete Alayna. „Möchte ja schließlich nicht im Meer landen.“
„Dass du landest, ist nicht das Problem, das Wie ist die Frage“, kicherte Takeru.
Draußen auf der Brüstung gab es einen unglaublichen Ausblick. Die Wellen des Meeres schäumten sich auf zu weißen Hügeln, der Wind schob die Wolken vor sich hin und das Schiff schaukelte hin und her. Die Mädchen waren damit beschäftigt, sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen, welche vom Wind immer wieder hin und her gewirbelt wurden.
„Die Jacke hilft“, stellte Takeru fest. „Mir ist gar nicht kalt!“
„Da bin ich Fenya unglaublich dankbar“, meinte Kioku und lehnte sich an die Brüstung. Sie genoss es, sich einmal so frei zu fühlen, einmal für einen kurzen Augenblick alles andere zu vergessen, obwohl etwas Angst und Sorgen in ihr zurückblieben. Ihr Leben war bestimmt vom Unbestimmten. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte und wer sie war, aber nun gab es diese andere Unbestimmtheit. Lag es vielleicht daran, dass sie sich verantwortlich für Alayna und Takeru fühlte und sie endlich einen Sinn sah, den zweien zu helfen?

Für einen kurzen Moment stellte sich Takeru ganz an das Ende der Plattform und holte seinen Kompass heraus. Vorsichtig öffnete er den Deckel und sah auf die schöne Emaille. Doch der Kompasszeiger bewegte sich nicht. Bevor er ihn wegsteckte, hielt er ihn noch einmal fest in seiner Hand und wünschte sich, bald am Ziel angekommen zu sein, seinen Vater endlich zu finden und wieder ein normales Leben zu führen. Klar, das Abenteuer machte ihm Spaß und es reizte ihn, jeden Tag aufs Neue ganz viele verschiedene Dinge zu erleben, aber irgendwie wusste er, dass es bald ernster werden würde, als er es sich wünschte.
Als er in die Ferne blickte, stockte ihm kurz der Atem. Er sah, wie eine riesige Welle schwarzer Wolken auf die Freunde zukam.
„Leute…“, meinte er, während er seinen Blick nicht abwenden konnte. „Ist das normal?“
„Das sieht übel aus“, meinte Eimi dazu. In der Ferne sah man Blitze, die ins Meer einschlugen. Die Welle kam immer schneller an die Freunde heran. Der Wind wurde immer schneller. Dumpf hörten die Freunde die Matrosen rufen, die auf den Stegen, die um das Luftschiff befestigt waren, hin und her liefen und fleißiger arbeiteten.
Die Lautsprecher gingen an und eine ruhige, männliche Stimme verkündete: „Wir bitten alle Passagiere, sich unverzüglich in das Bistro zu begeben. Wir geraten in leichte Turbulenzen aber Sie müssen sich keine Sorgen machen. Bleiben sie ruhig und begeben Sie sich unverzüglich in das Bistro.“
Als die Durchsage sich gerade wiederholen wollte, schlug eine Windböe seitlich auf das Schiff und brachte es stark ins Schwanken. Kioku und Takeru konnten sich gerade noch festhalten, während Alayna mit Eimi zusammen auf den Boden fiel, als er sie gerade auffangen wollte. Bevor sich das Schiff wieder stabilisieren konnte, rutschten die Zwei noch etwas über den Boden. Als sie sich aufrichteten, bedankte sich Alayna bei Eimi. Die Freunde sahen sich verwundert an. Die leichten Turbulenzen waren doch schwerer, als sie annahmen.
„Wir müssen unbedingt ins Bistro!“, meinte Kioku und hielt Takeru am Arm fest, damit dieser nicht auch hinfallen konnte. Gerade aber, als sie sich der Tür näherten, schlug ein weiterer Windstoß an die Seite des Schiffes und brachte es diesmal sehr steil zum schwanken. Die Freunde stießen zusammen gegen die linke Brüstung. Mit einem metallischen Krach brach über der Tür ein Steg zusammen und versperrte die Tür.
„Was passiert hier!?“, rief Alayna panisch mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie schob ihren Bruder beiseite und ihr wurde von Eimi aufgeholfen. Der Wind schien immer stärker zu werden.
„Das sieht nicht aus wie eine leichte Turbulenz“, meinte Eimi. Dann zog das erste Donnergrollen über den Himmel.
Keiner der Freunde wurde von dem Stück Steg, das herunterbrach, verletzt. Das Schiff brachte sich langsam wieder in eine stabile Lage. Einer der Matrosen kam von oben herbeigerannt und fluchte laut.
„Seid ihr in Ordnung?“, fragte er die Freunde, die sich wieder aufrichteten.
„Ja!“, entgegnete Kioku, „Aber wäre schön, wenn Sie uns helfen könnten!“
Der Matrose winkte die Freunde zu sich heran. „Steigt über diesen Schrott hier und ich ziehe euch hoch.“
Eimi prüfte die Trümmer, die vor der Tür lagen. Die Tür ging wirklich nicht auf.
Takeru kletterte als erster über die Eisenteile und der Matrose zog ihn mit Leichtigkeit nach oben. Danach folgte Alayna und dann Kioku. Eimi sprang fast von alleine hinauf.
„Ihr müsst unbedingt ins Bistro, da ist es am sichersten“, befahl der Matrose und führte die Freunde um das Schiff über den Steg. „Haltet euch gut fest!“
Der Boden des Steges wirkte sehr wackelig. Alayna fühlte sich unglaublich unsicher und wollte so schnell wie nur möglich zurück in das Luftschiff gelangen. Die Freunde waren still. Sie hörten die Matrosen, die sich einige unverständliche Sachen zuriefen. Der Donner grollte immer häufiger und der Wind peitschte den Freunden ins Gesicht. Kurz, bevor sie an die Tür kamen, die sie ins Innere brachte, drückte ein weiterer Windstoß das Schiff in die Schräge.
Alayna schrie auf, rutschte aus und konnte sich kaum mehr halten. Sie fiel über die Brüstung und hielt sich mit einer Hand an einer Stange fest. Sie rief so laut es ging nach Hilfe.
Eimi bückte sich zu ihr hinunter und versuchte ihre andere Hand zu greifen. In purer Panik und Todesangst verkrampfte Alaynas Körper, sie wollte jetzt noch nicht sterben.
Bevor sie Eimi jedoch greifen konnte, rutschte sie mit ihrer Hand ab und fiel. Wie in Zeitlupe schrien die Freunde nach ihr, während sich ein Bullauge des Luftschiffes öffnete und ein Stoffband herausgeschossen kam. Es wickelte sich unglaublich schnell um Alaynas Körper und hielt sie fest.
Sie konnte nicht mehr aufhören zu schreien. Eimi und Kioku versuchten genau zu erkennen, was dort passierte. Aus dem Bullauge heraus lehnte sich Anon Tedium, der mit beiden Armen das Stoffband, welches um Alayna gewickelt war, festhielt.
„Macht euch keine Sorgen!“, rief er zu den Freunden hinauf, „Ich habe das Mädchen!“
Der Matrose drängte die Freunde, endlich hineinzugehen und schob sie einzeln durch die Tür in das Innere. Sie waren noch nicht im Aufenthaltsbereich, aber in einer Art Innenkonstruktion des Luftkörpers. Der Gang war eng und eine steile Treppe führte die Freunde zu einer Geheimtür in einen Gang zum Bistro. Im Inneren angekommen, fanden sie Anon vor sich, der gerade dabei war, Alayna nach oben zu ziehen. Er versuchte sie durch das Bullauge hinein zu ziehen. Eimi packte mit an. Das Fenster war etwas eng, aber sie schafften es, Alayna zu sich zu ziehen.
„Alayna, geht es dir gut!?“, wollte sich Takeru versichern, der sich zu seiner Schwester herunterbeugte, die schnaufend auf dem Boden lag.
„Danke, dass du Alayna gerettet hast“, bedankte sich Eimi herzlich.
„Aber wie haben Sie das gemacht?“, hakte Kioku nach, die einen kurzen Augenblick auf seine bandagierte, rechte Hand blickte. Es konnte also doch keine Verletzung gewesen sein.
„Danke für die Rettung“, bedankte sich Alayna, die sich erst wieder beruhigen musste.
„Ja genau, wie konntest du meiner Schwester helfen?“, hakte Takeru nach.
Anon seufzte und setzte sich auf den Boden. Eimi und Kioku setzten sich auch hin.
„Ich schätze, ich kann es euch gleich erzählen. Du starrst mich sonst die ganze Zeit an“, fing Anon an und blickte währenddessen auf Takeru, der einen unglaublich erstaunten und neugierigen Eindruck machte. Er hob seine rechte Hand, welche in Bandagen eingewickelt war. Erst passierte nichts, Eimi blickte fragend in die Runde, doch dann bewegte sich etwas. Der vermeintliche Verband löste sich wie von allein von Anons Hand und bewegte sich. Der Verband schlängelte sich durch die Luft und legte etwas von Anons Fingerspitze frei.
„Ich kann es kontrollieren“, erklärte er in einer ruhigen Stimme. „Soweit ich weiß, haben Sie auch so einen Stoff.“
Kioku griff nach ihrem rechten Handgelenk. Das Stück Stoff, welches sie aus dem einen Laden mitgenommen hatte, konnte also auch so kontrolliert werden. Anons Stoff wickelte sich wieder um seinen Finger. Kioku streckte ihren Arm aus und die Freunde betrachteten erstaunt ihren Stoff.
„Du kannst das also auch? Wie cool!“, begeisterte sich Takeru.
„Nein, Tak kontrollieren kann ich es noch nicht“, antwortete sie enttäuscht.
„Das braucht Übung. Ich kontrolliere es mit meinen Gedanken und meiner Energie.“
Kioku wunderte sich, wie so etwas funktionieren konnte.

Im nächsten Augenblick war ein unglaublich lautes, metallisches Reißen zu hören. Kurz darauf hallten Hilferufe von Matrosen durch die noch offene Geheimtüre.
„Ein Flügel reißt ab“, murmelte der Matrose vor sich her und war dabei, durch die engen Gänge wieder nach draußen zu gehen.
„Ich kann Ihnen helfen!“, unterbrach Anon den Mann. „Ich komme mit.“
„Das ist viel zu gefährlich!“, entgegnete der Matrose. „Das kann ich nicht zulassen.“
„Wollen Sie lieber, dass wir abstürzen?“, konterte Anon.
„Wie abstürzen!? Dann sterben wir alle!“, rief Alayna panisch und Kioku versuchte sie irgendwie zu besänftigen.
„Das wird nicht passieren“, behauptete Anon felsenfest. „Ich habe doch meine Techniken, das wird schon!“
Daraufhin verschwand Anon mit dem Matrosen und die Geheimtür fiel fast zu. Kioku hielt sie sich auf und blickte ihre Freunde erwartungsvoll an.
„Ihr müsst mir jetzt vertrauen“, fing sie an, „Wenn das stimmt, was Anon gerade gesagt hat, dann kann ich entweder etwas von ihm lernen oder ihm sogar helfen! Ihr müsst unbedingt ins Bistro gehen und euch um die Passagiere kümmern.“ Sie war überzeugt, dass die Drei etwas tun konnten. Nur nicht dort draußen. „Wenn hier auch noch eine Massenpanik ausgelöst wird, dann weiß ich nicht was passiert.“ Sie sah dabei zu Takeru und hoffe, dass er für diese Idee Feuer fing.
„Geht klar“, bestätigte er mit stolzer Brust. „Wir helfen und kümmern uns um die Leute.“
Während Eimi der noch schnaufenden Alayna hoch half und sie zum Bistro gingen, verschwand Kioku in den verwirrenden Gängen des Luftkörpers. Sie folgte dem dumpfen Klang von Anons Stimme. Er und der Matrose mussten innen zum entsprechenden Ort gegangen sein. Draußen unnötig herumzulaufen, wäre sehr gefährlich gewesen. Also rannte sie so schnell sie konnte durch die enge Konstruktion und sah in der Ferne eine Tür, die gerade am Zufallen war. Dort mussten die Zwei herausgegangen sein.
Als sie heraustrat, befand sie sich auf einer ähnlichen Befestigung wie vorhin auch schon, nur dass sie dieses Mal weit über einem der Flügel war. Mittlerweile fiel der Regen und machte alles sehr nass und rutschig. Sie sah, wie Anon und einer der Matrosen, welcher Werkzeug um seinen Körper geschnallt hatte, langsam zur Bruchstelle des Flügels gingen. Dabei hielt sich Anon mit dem linken Arm und mithilfe seiner Bänder am Flügel fest und sicherte zudem auch noch den Matrosen. Mit dem rechten Arm wickelte er ein Band mehrmals um die Bruchstelle des Flügels und hielt ihn dadurch zusammen. Währenddessen versuchte der Matrose die metallische Schalung des Flügels wieder zu reparieren.
Kioku krallte sich am Steg fest und beobachtete die Situation genau. Wie es schien, konnte Anon mehrere Bänder gleichzeitig kontrollieren und zudem die Länge und Stärke variieren. Es war faszinierend, dass er so stark und konzentriert war, das alles auf einmal im Griff zu haben. Vorsichtig ließ Kioku ihre linke Hand von der Brüstung los und ging in die Hocke.
„Mit Gedanken und Energie“, murmelte sie und versuchte, sich in das Band, welches um ihre linke Hand gewickelt war, hineinzuversetzen. Mit viel Anstrengung schaffte sie es, die Spitze hart und wieder weich werden zu lassen. Doch mehr bekam sie nicht hin.
Plötzlich fuhr ein mächtiger Blitz in der Nähe des Luftschiffes direkt in das Meer und der Donner lärmte und ein weiterer, starker Windstoß prallte gegen die Menschen, die sich außerhalb des Schiffes befanden. Kioku erschrak so sehr, dass sie auf dem Steg ausrutschte, erst einige Meter über das Gitter glitt und dann vom Steg fiel. Sie fiel an der Wand des Luftschiffes entlang und sah die einzelnen Regentropfen auf ihre Hand schlagen, die sie hoffend nach vorne streckte, um sich irgendwo festhalten zu können.


Kapitel 18 – Regen und Schnee

Es fühlte sich unbeschreiblich an, wie Kioku sich weiter vom Luftschiff entfernte. Wie in Zeitlupe sah sie die in tausend kleinere Bestandteile zerberstenden Regentropfen gegen ihre ausgestreckte Hand prasseln. Ein Blitz zog sich schlängelnd über den Himmel und verschwand irgendwo zwischen den Wolken. Ein Gefühl setzte sich tief in ihr Herz, nur wusste sie nicht, ob es nach innen drückende Angst oder nach außen drängende Freiheit war. Fühlte es sich so an zu fliegen? Nur war das, was sie tat, reines Fallen.
Plötzlich sah sie Hoffnung. Es war Anon, der Anlauf nahm, sich mit einem Band an dem Flügel des Luftschiffes festhielt und dann wie ein Pfeil zu ihr hinunterstürzte. Dabei war sein Körper kerzengerade, damit er weniger Widerstand beim Fallen hatte und somit beschleunigte. Noch schneller war ein Band, welches sich aus seinem rechten Ärmel herausschlängelte und sich um Kiokus Körper wickelte. Es zog sich schnell fest und stabilisierte ihren Körper wie durch ein Korsett. Das aufkommende Gefühl der Sicherheit wurde durch einen festen Ruck des Bandes bestätigt. Als das Fallen augenblicklich stoppte, war ihr Körper einer starken Kraft ausgesetzt. Die Fallenergie stoppte und veränderte sich zu einem starken Aufschwung, welcher sie wieder in Richtung des Luftschiffes schleuderte.
„Halt dich irgendwo fest!“, schrie Anon, was durch den starken Wind schwer zu hören war.
Sie riss sich zusammen, spannte ihren Körper an und als sie der Wand des Luftschiffes näherkam, krallte sie sich an einem der Stege fest. Das Band um ihren Körper löste sich und wie ein Pendel schwang Anon zurück. Mit aller Kraft zerrte sie sich an dem Steg nach oben. Mit ihrem Knie versuchte sie sich auf dem Metallgitter hochzudrücken, doch durch den Regen war alles sehr rutschig geworden und dadurch erschwerte sich ihre Tat. Sie spürte schnelle Schritte und auf einmal zogen zwei Matrosen sie zurück auf den Steg. Sie ließ sich auf ihre Knie fallen und holte tief Luft. Der nicht aufhörende Regen hatte sie durchnässt. Mit ihrer Hand schob sie einige Haarsträhnen aus ihrer Stirn, um besser sehen zu können. Sie bedankte sich bei den Matrosen, die gleich wieder losliefen, wahrscheinlich um bei der Reparatur des Flügels zu helfen. Dann blickte sie, sich mit der einen Hand am Steg festhaltend, auf die andere Hand.
„Mit Energie und Gedanken“, murmelte sie noch einmal leise. Anon hatte also die volle Kontrolle über die Länge, Kraft und Anzahl der Bänder und brauchte sich dabei nur stark genug zu konzentrieren. Sie musste um jeden Preis herausfinden, wie er das genau anstellte.

Takeru und Alayna waren währenddessen im Bistro und saßen zusammen mit den Gästen des Luftschiffes unter den am Boden festgeschraubten Tischen. Sie waren von den Matrosen dazu aufgefordert worden, für den Fall, dass etwas herunter- oder umherfallen sollte. Alayna klammerte sich fest an Takeru. Ihre Angst, dass das Schiff doch abstürzen sollte, paralysierte sie. Takeru wiederholte leise immer wieder, dass schon nichts passieren würde, um siezu beruhigen. Komischerweise hatte er keine so große Angst, wie seine große Schwester.
Eimi jedenfalls ging umher und kümmerte sich um die kleineren Kinder, die weinend neben ihren Eltern saßen. Dabei strahlte er sie mit einem breiten Grinsen an. Um die Kinder zu beruhigen, erzählte er jedem einzelnen mit einem Flüstern, wie sie helfen könnten, dass niemandem etwas passierte.
„Wenn du mit deinem linken Zeigefinger ein Dreieck in deine rechte Handfläche zeichnest“, fing er an zu erklären, „und ganz fest daran glaubst, dass alles gut wird, dann kann uns gar nichts passieren.“
Ein kleiner Junge mit roten Pausbacken und kurzen Haaren sah ihn erst verdutzt an, dann blickte er fragend zu seiner Mutter und wieder zurück zu Eimi.
„Aber das ist unser Geheimnis, okay?“, flüsterte Eimi, als er dem Jungen noch etwas näher kam, als wäre diese Technik ein Geheimnis. Dann fing der Junge an, diese Dreiecke auf seiner Hand zu zeichnen. Als er das noch den anderen Kindern zeigte, bemerkte Alayna plötzlich, wie still es auf einmal geworden war. Ohne bewusst darüber nachzudenken, fing sie auch an, Dreiecke in ihre linke Hand zu zeichnen. Die Kinder hatten sich alle beruhigt. Grinsend kam Eimi zurück zu ihr und ihrem Bruder. Dieses warme Lächeln beruhigte sie.
„Das half auch immer im Waisenhaus“, erklärte er seinen Freunden. „Man muss die Kinder nur richtig ablenken.“

Kioku hatte sich schon auf den Weg gemacht, zurück zu Anon. Als sie durch den Regen auf die andere Seite des Schiffes gelang, sah sie, wie er den Flügel mit seinen Bändern festhielt. Die Arbeiter sicherte er mit weiteren Bändern. Sie beobachtete genau, wie breitbeinig er da stand, mit den Bändern vom rechten Arm die vier Arbeiter sicherte und mit denen vom linken den Flügel des Schiffes fest umwickelte. Obwohl der starke Wind den Regen gegen seinen Körper klatschte, stand er wie ein Fels da. Sein Blick war konzentriert und entschlossen. Der Wind wehte seinen Mantel hin und her und für einen kurzen Augenblick erkannte sie, dass sich selbst unter seiner Kleidung die Bänder um seinen Körper wickelten.
Sie musste lernen, wie das ging. Kioku stellte sich also genauso hin wie Anon, streckte dabei ihre Arme nach vorne und konzentrierte sich auf ihren Körper. Dabei schloss sie die Augen. Das Einzige, was sie jetzt noch spürte, waren die Regentropfen, die gegen ihren Körper fielen. Sie spürte den Stoff, der sich um ihr Handgelenk wickelte. In ihren Gedanken verlängerte sie eine Linie von ihrem Kopf über ihr Herz in die Schulter. Von dort aus in Richtung Ellbogen und ins Handgelenk. Anstelle ihrer Hand stellte sie sich jedoch das Band vor, das sich wie ein Finger zeigend nach vorne streckte. Diesen Ablauf ging sie immer und immer wieder in ihrem Inneren durch. Sie bemerkte nicht, wie viel Zeit verging.
„Wir sind im Landeanflug!“, rief einer der Matrosen, was sie plötzlich aus ihren Gedanken riss. Sie sah, wie sich in diesem Augenblick das Band wie ein Finger nach vorne streckte und just in diesem Moment schlaff nach unten fallen ließ. Dass das Schiff sich nun im Landeanflug nach Saihyô befand, war ihr gerade egal. Jubelnd hüpfte sie auf und ab, die Gefahr ignorierend, dass sie wieder vom Schiff fallen könnte. Sie rannte hinein ins Schiff und stürmte ins Bistro. Erst sah sie sich verwirrt um, konnte ihre Freunde dann jedoch entdecken und rief nach ihnen.
„Ich habe es hinbekommen!“, erzählte sie stolz und streckte ihren Arm nach vorn.
Sichtlich durch den Wind, wussten die Freunde nicht, wie sie darauf reagieren sollten.
„Was hast du hinbekommen?“, fragte Takeru neugierig. Bevor sie jedoch antworten konnte, kam eine Durchsage einer ruhigen männlichen Stimme: „Liebe Gäste, wir entschuldigen die Unannehmlichkeiten während des Fluges. Das Schiff befindet sich im Landeanflug nach Saihyô und in Kürze werden wir ohne weitere Probleme landen.“
Alayna, Takeru und Eimi sahen sich glücklich an und freuten sich über die Situation. Kioku streckte jedoch, um wieder die Aufmerksamkeit zu erlangen, ihren Arm nach vorne und präsentierte dabei ihr Band, welches immer noch um ihr Handgelenk gewickelt war.
„Ich konnte es bewegen!“, erklärte sie sich stolz. „Das Band, ich hatte für einen Moment das Gefühl, dass ich es wirklich kontrollieren konnte.“
„Das ist unglaublich!“, ließ sich Takeru begeistern. „Dann kannst du bald genauso coole Sachen wie Anon?“
„Wahrscheinlich“, strahlte sie.

Das Luftschiff stabilisierte sich, es schwankte seltener hin und her. Auch der Regen und der starke Wind hatten nachgelassen und das Schiff, mitsamt aller Passagiere, konnte problemlos landen. Die Landebahn Saihyôs war ziemlich verschneit. An Land befanden sich Lotsen, die dem Schiff halfen, vorsichtig zu landen. Mithilfe kleiner Gewichte, die am Boden befestigt wurden, konnte das Schiff am Boden in Sicherheit gebracht werden. Die Matrosen halfen, dass die Passagiere ordentlich und ohne Stau aussteigen konnten. Nur die Freunde hielten sich noch im Schiff auf, um Fenya und Anon zu sprechen.

An der Brücke angelangt, öffnete sich die Tür und Fenya kam heraus. Man sah ihr die Erleichterung direkt ins Gesicht geschrieben.
„Schön, dass es euch gut geht“, begrüßte sie die Freunde. „Also ich muss mich echt entschuldigen. Diese ganzen Probleme. Die schlechte Wartung des Schiffes, die spontane Wetterlage. Ich hab mein Bestes als Pilotin getan.“
„Es sind alle sicher angekommen“, entgegnete Eimi. „Das ist doch, was zählt.“
„Ja, ich find, dass es aufregend war!“, grinste Takeru. „Ist nicht so leicht, so etwas zu fliegen, richtig?“
Kioku beteiligte sich kaum am Gespräch. Sie sah sich um, ob sie Anon nicht irgendwo entdeckte. Als sie im Gang aber nichts hörte, entschied sie sich, auf eigene Faust nach Anon zu suchen. Die Freunde sahen ihr nur verwirrt hinterher.
„Was wird jetzt passieren?“, hakte Takeru nach.
„Also, um ehrlich zu sein“, seufzte Fenya, „werde ich mich wohl der Luftaufsichtsbehörde stellen müssen. Dort darf ich mich erst einmal verteidigen, warum das Schiff so schlecht gewartet war. Obwohl ich das mit meiner Crew an jedem neuen Tag eigentlich mache, gab es wohl doch Fehler, die uns nicht aufgefallen waren.“
„Was bedeutet das?“, fragte Alayna, die von all dem nicht viel verstand.
„Tja, das bedeutet, dass ich wohl den Luftmatrosen finden muss, der dafür verantwortlich ist, seine Arbeit nicht richtig gemacht zu haben. Wenn ich diesen gefunden habe, kriegen er und ich wohl Ärger.“
„Aber warum du?“, wunderte sich Takeru und sah Fenya ernst an. „Wenn das seine Aufgabe war, muss er doch allein dafür gerade stehen?“
„Kleiner, so funktioniert das leider nicht“, erklärte sie und schaute dabei aus einem der Bullaugen nach draußen. „Ich als Kapitän bin einzig und allein für meine Crew verantwortlich. Wir arbeiten zusammen, leben zusammen, wir sind eine Familie. Und in einer Familie ist jeder für das Wohl seiner Familienmitglieder zuständig, so wie wir alle dafür zuständig sind, dass es uns gut geht. Der Koch muss uns Essen machen, der Mechaniker muss sich um die mechanischen und hydraulischen Bauteile des Schiffes kümmern und der Navigator muss dafür sorgen, dass wir alle auch am Ziel ankommen. Wir sind wie viele kleine Zahnräder, die ineinandergreifen und sich gegenseitig antreiben.“
„Ich verstehe“, meinte Takeru.
„Dann hoffe ich, dass dir nichts Schlimmes passiert“, sagte Alayna. Die Worte über Familie und wie man zusammenhielt, ließ sie über ihre eigene Situation nachdenken. Ohne ihre Eltern war ihre Familie ziemlich aus den Fugen geraten. Also musste sie schauen, dass die Familie wieder funktionierte. Langsam verstand sie, was ihr kleiner Bruder vielleicht schon vorher gewusst hatte. Wenn ihre Welt wieder in Ordnung sein sollte, dann müsste sie nun ihr Bestes geben, dass dies so werden würde.
Es war ihr noch nie so bewusst gewesen wie in letzter Zeit, dass ihre Eltern sich eigentlich um so viel gekümmert hatten. Sie wohnten in einem Haus, hatten genug zu Essen und keine Probleme mit Geld. Alayna ging es gut und das lernte sie erst in diesem Moment vielleicht richtig zu schätzen.
Ihr Blick schweifte zu Eimi. Der kleine Familienersatz, der mit Eimi und Kioku nun da war, beruhigte sie. Oft hätte sie sich unfähig gefühlt, überhaupt aufzustehen und weiterzulaufen. Doch mit diesen zwei Freunden wusste sie, dass selbst ein Nahezu-Luftschiff-Absturz eigentlich nicht so schlimm war.
„Wie geht es jetzt bei euch weiter?“, erkundigte sich Fenya neugierig.
„Wir werden wohl nach Norden weitergehen“, erklärte Takeru.
„Können wir aber vorher noch eine Übernachtungsmöglichkeit suchen?“, schlug Eimi vor. „Denk doch an unsere Mädchen, die wollen sich sicherlich ausruhen.“
Takeru hielt kurz inne. Es war schon Abend, jedoch war das Gefühl in ihm, endlich seinen Vater zu finden, so unglaublich stark. In der Zeitung stand, dass auf dem Berg hinter der Stadt diese Gestalt gesehen wurde. Eigentlich wäre er gerne weitergezogen, dann sah er aber zu seiner Schwester. Diese sah so nachdenklich aus und auch ihm fielen die Worte Fenyas nun ein. Eine Familie musste zusammen funktionieren. Er konnte sie nicht immer nach vorne drängen. Wenn sie müde wäre, würden sie doch auch viel langsamer vorankommen.
„Ja“, bestätigte er die Idee. Es war besser, sich erst einmal auszuruhen und neue Kräfte zu schöpfen.
„Apropos Mädels, wo ist Kioku denn nun?“, wunderte sich Eimi und sah sich um. Sie war nirgends zu sehen.

Oben auf dem Luftschiff angekommen, sah Kioku, wie sich einige Matrosen gleich an die Arbeit machten, den Flügel komplett zu reparieren. Jedoch konnte sie Anon nicht mehr sehen. Er und seine Bänder waren einfach nicht mehr da. Dann lief sie einmal schnell über die Stege und hielt Ausschau nach ihm. Als er nirgends zu sehen war, stürmte sie in das Innere des Schiffes und rannte alle Gänge ab. Irgendwo musste er sein und sie musste endlich eine Antwort über diese Bänder bekommen. Was sollte sie tun, um sie endlich unter Kontrolle zu bekommen? Was war das Geheimnis?
Auch in den Gängen, im Bistro, bei den Schlafräumen und im Lager war er nicht. Sie rannte verzweifelt die Gänge entlang und in ihrem Augenwinkel sah sie etwas auf der Landebahn. Sie blieb abrupt stehen und sah, wie in der Ferne auf dem weißen Schnee ein Mann mit einem langen Trenchcoat lief. Das musste er sein!
So schnell sie konnte verließ sie das Schiff und lief in die Richtung, in die Anon gegangen zu sein schien. Jedoch war er plötzlich wie verschwunden.
Enttäuscht ließ sie sich zu Boden nieder und schlug mit ihrer Faust in den Schnee.
„Du kannst doch nicht so einfach verschwinden“, redete sie mit sich selbst. „Ich wollte doch wissen …“
Ein komisches Gefühl kam in ihr hoch. Ein paar Tränen fielen auf die Schneedecke und schmolzen kleine Löcher hinein. Dieser aufregende Flug und das Gefühl, nichts zu können, waren gerade einfach genug.
„Ich weiß nicht …“, wiederholte sie leise. Dieser Schlüsselsatz wiederholte sich auch in ihrem Kopf. Sie wusste nicht, wer sie war. Sie wusste nicht, wie sie dieses Band kontrollierte, sie wusste nicht, wie sie ihre Freunde beschützen sollte. Ihr fiel es auf, wie verantwortungslos sie gehandelt hatte. Wäre Anon nicht da gewesen, wäre sie vom Luftschiff gestürzt und ins Meer abgetaucht. Ihre Freunde wären alleine gewesen. Wäre Anon nicht da gewesen, hätte das Luftschiff abstürzen können und die Drei wären gestorben. Ins Meer gestürzt und gestorben.
„… ins Meer gestürzt und gestorben.“
Sie setzte sich und starrte hinaus auf das weite Meer.
„… ins Meer gestürzt“, wiederholte sie noch einmal. Sie schloss ihre Augen und auf einmal schoss für eine Sekunde ein Bild vor ihrem inneren Auge auf, das zeigte, wie sie auf das Meer zustürzte. Aber dieses Bild war anders, als vor einer Weile. Es regnete nicht und das Meer, in das sie stürzte, war viel näher als von dem Luftschiff aus. Krampfhaft versuchte sie, das Bild wieder in ihre Erinnerung zu holen, doch sie konnte den Eindruck nicht wiederholen. Sie öffnete wieder ihre Augen. Dann strich sie vorsichtig mit ihrem Finger über die Narbe an ihrem Kopf.
„Ins Meer gestürzt“, wiederholte sie ein letztes Mal.

Ein lautes Rufen holte sie plötzlich aus ihren Gedanken. Es waren Takeru, Eimi und Alayna, die auf sie zugelaufen kamen. Alayna half ihr auf und klopfte den Schnee von ihrer Kleidung.
„Da bist du ja“, begrüßte Eimi sie lächelnd.
„Wir haben uns schon Sorgen gemacht“, freute sich Takeru und umarmte sie fest. Die Tränen kullerten über ihr Gesicht. Das Lächeln, die Hilfe und die Umarmung. Das waren alles so innige Gesten, die sie dazu brachte, wieder zu weinen.
„Es ist alles gut“, sagte sie mit voller Überzeugung. Wenn ihre Freunde da waren, sie lebten und gesund waren, dann war wirklich alles gut.
„Wir wollten ein Gasthaus finden“, erklärte Eimi. „Fenya hat uns einen Gutschein geschenkt, den sie selbst von einem Gast geschenkt bekommen hat. Sie meinte, sie bräuchte ihn nicht, da sie die ganze Nacht eh am Schiff arbeiten würde.“
„Ich freue mich auf ein warmes Bett“, seufzte Alayna und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Eine Dusche täte auch ganz gut.“
Lautes Bauchgrummeln unterbrach das Gespräch. Takeru kicherte und rieb sich den Bauch.
„Ich hab auch megamäßig Kohldampf“, antwortete Kioku lachend darauf.
„Dann geht’s los! Finden wir das Gasthaus“, motivierte Takeru die anderen.

Auf dem Weg zum Gasthaus dachte Kioku noch einmal über die Ereignisse des Tages nach. Die Sache mit Anon war für sie noch nicht geklärt, sie wollte von ihm noch mehr Antworten. Die Erinnerung? Die ließ sie für die Nacht nicht mehr los. Das Gefühl des Fallens war so vertraut, es musste wohl schon einmal passiert sein. Und das wohlige Gefühl in ihrem Bauch? Das schien von ihren Freunden zu kommen. In dieser Nacht schliefen sie alle sehr fest, außer Kioku. Sie saß halbwach im Bett und sah sich ständig von dem Luftschiff stürzen. Es war immer und immer wieder die gleiche Szene, die sich wiederholte. Jedoch kam diese andere Erinnerung nicht mehr.


Kapitel 19 – Auf zum weißen Berg

Das Geschirr klapperte, welches die Leute in die Hände nahmen, als sie ungeduldig am Frühstücksbuffet anstanden. Alayna meinte, sie bleibe sitzen, bis der Ansturm nachgelassen hätte. Das konnte Takeru gar nicht verstehen. Sie waren jetzt schon eine Weile unterwegs und das war das erste Mal, dass die Freunde ordentlich frühstücken konnten. Takeru war ganz fasziniert von der Auswahl, die das kleine Gasthaus im All-You-Can-Eat-Buffet hatte. Neben den verschiedensten, knusprig gebackenen Broten aus den verschiedensten Mehlen, dekoriert mit den unterschiedlichsten Körnern und Samen gab es zudem auch noch verschiedene klein geschnittene Sorten von Käse und Wurst. Neben diesen deftigen Zutaten gab es eine Auswahl an delikaten Marmeladen und Gelees in verschiedenen Gewürz- und Fruchtvarianten. Es gab Apfel-Zimt, Brombeer-Pfeffer, Johannisbeere mit Basilikum und dann auch noch gewöhnliche Marmeladen. Butter und Margarine standen direkt neben der reichlich gefüllten Obstschale, in der unter anderem Äpfel, Bananen, Erdbeeren, Mangos, Pfirsiche, Kirschen und noch allerlei Obst enthalten waren. Takeru konnte gar nicht so lange warten, seinen Frühstücksteller mit allem Möglichen zu füllen und sich an ihrem Tisch den Bauch vollzuschlagen. Also stellte er sich an und wartete geduldig daran, sich an dem Buffet zu bedienen.
Während er so wartete, fiel ihm ein, wann er mit seiner Familie das letzte Mal in einem Hotel gewesen war. Es musste vor ungefähr fünf Jahren gewesen sein, als sie sich weit im Süden in einem Hotel niedergelassen hatten. Die Familie wollte einen Strandurlaub machen und an der südlichen Küste entspannen. Es war Anfang des Sommers, als das Wasser angefangen hatte, wärmer zu werden und die Sonne noch nicht so heiß war, dass man auf dem Sand verbrannte. Im Hotel gab es damals ein ähnliches Buffet, nur, dass die Früchte noch etwas exotischer gewesen waren. Das war das erste Mal gewesen, dass Takeru eine Drachenfrucht gegessen hatte. Es hatte sich schön angefühlt, überhaupt so eine weite Reise zu wagen. Sie waren mit dem Zug sicherlich zweieinhalb Tage unterwegs gewesen. Es war anstrengend gewesen, aber es hatte sich gelohnt. Fast zwei Wochen lang konnte Takeru an der Landschaft am Meer Abenteuer genießen. Er entdeckte alle möglichen Arten von Tieren wie Einsiedlerkrebse und Seepferdchen.
Damals war Alayna auch noch ganz anders zu ihm gewesen. Sie hatte viel mehr mit ihm gespielt. Während er im Schwimmreifen saß, schwamm Alayna wie eine Meerjungfrau auf ihn zu und er sollte vor ihr wegschwimmen. Wenn sie nicht im Meer waren, sammelten sie am Strand Muscheln, dekorierten Sandburgen und machten sich selbst Ketten.
Wenn er so darüber nachdachte, empfand er sich selbst als unschuldig und unbekümmert. Die damalige Freiheit war kein Vergleich zu der jetzigen. Und vielleicht war er gerade erst imstande zu verstehen, was diesen Unterschied ausmachte.
Nachdem er seinen Teller mit Frühstück bestückt hatte und Kioku und Eimi sich vor einiger Zeit angestellt hatten, stand nun auch Alayna auf. Für einen Moment saß Takeru alleine am Tisch und sah seiner kleinen neuen Familie hinterher. Und als er Alaynas verschlafenen Blick sah, der aufhellte, als Eimi mit ihr sprach und Kioku grinste, als Alayna ihr etwas sagte, da wurde der Wunsch in ihm noch viel größer, seinen Vater endlich zu finden und die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Er kratzte sich an der Schulter und spürte, dass in seiner Weste das Tagebuch steckte und holte es heraus, dann nahm er den ersten Bissen von seinem Brötchen und blätterte in dem Tagebuch umher, bis er einen Eintrag fand.

Wir haben heute eine kleine Pause eingelegt. Jumon hat mir ein Buch gegeben, als er gesehen hat, dass ich mich etwas gelangweilt habe. Ich habe darin gelesen und er hat sich ganz ruhig neben mich gesetzt und ebenfalls gelesen.

Da war ein neuer Name. Diesmal war es Jumon. Wer war das? Während er so darüber nachdachte, fiel ihm eine Idee ein. Schnell sprang er auf und lief zur Rezeption, um nach einem Stift zu fragen. Zurück an seinem Platz schrieb er mit Kugelschreiber die Worte des Eintrages ganz unten auf die Seite, auf die dieser erschienen war. Wenn er die Einträge in das Buch schrieb, könnte er sich die Einträge merken und irgendwann vielleicht auch einmal zusammenhängende Texte verstehen.
Alayna, Eimi und Kioku kamen zurück zum Tisch.
„Was tust du da?“, hakte seine Schwester neugierig nach.
„Mir kam gerade die Idee, wie wir die erscheinenden Einträge haltbar machen. Wenn wir den Eintrag einfach hineinschreiben, sollte dieser eigentlich nicht verschwinden. Dann können wir bald vielleicht auch mehr zusammenhängende Texte verstehen und dann endlich herausfinden, was es damit auf sich hat.“
„Meinst du, das funktioniert?“, wunderte sich Alayna.
„Also, eigentlich klingt das sehr plausibel“, unterstützte ihn Eimi. Dann schmierte er sich eine dicke Schicht Butter auf sein Brötchen und legte drei Scheiben Käse darauf.
„Den ersten habe ich gerade schon abgeschrieben, seht ihr?“ Takeru zeigt auf die beiden Einträge, die sich nur durch die Handschrift unterschieden. „Kannst du dich noch an einen anderen Eintrag erinnern, Alayna?“
„Leider nicht“, erwiderte sie und sagte etwas schnippisch: „Auch nicht, wenn ich stark darüber nachdenke. Kann mir so etwas nicht wirklich merken. Eigentlich hatte ich ja auch ganz andere Probleme in letzter Zeit.“
„Dann bleibt ja nichts anderes übrig, als abzuwarten und den nächsten Eintrag ebenfalls dazuzuschreiben. Richtig?“, entgegnete Eimi und Kioku nickte zustimmend.
„Schade“, murmelte Takeru, „hätte das jetzt zu gerne ausprobiert.“ Etwas enttäuscht packte er das Tagebuch wieder in seine Weste.
„Ist doch kein Problem“, grinste Kioku und stupste ihn mit ihrem Ellbogen an.
„Es ist nur ärgerlich, weil doch in jedem Eintrag ein wichtiger Hinweis stecken könnte, wo unser Vater ist!“, erklärte er sich und biss grübelnd in sein Brot.
„Wir müssen halt leider mit dem arbeiten, was wir haben, Tak“, meinte Kioku. „Aber es ist schon eine große Hilfe gewesen, dass du diesen Zeitungsartikel entdeckt hast.“
„Apropos!“, wurde Takeru aufmerksam. „Im Artikel wurde beschrieben, dass diese Gestalt auf dem Berg hinter der Stadt gesichtet wurde. Wir müssen nur dort hinauf.“
„Ist das nicht ein wenig gefährlich?“, hakte Alayna nach. „Wir kennen uns nicht im Bergsteigen aus.“
„Kein Problem“, grinste Tak. „Als ihr alle noch geschlafen habt, habe ich mir aus dem Foyer einen Flyer geschnappt, auf dem einfache Wanderrouten aufgezeichnet sind. Diese führen an einem Dorf auf dem Berg vorbei. Wenn wir dort einen Halt machen, können wir die Ansässigen auf den Vorfall ansprechen und vielleicht etwas herausfinden.“
„Bin beeindruckt über deine Vorbereitungen“, grinste Eimi und bot Alayna die Hälfte eines Apfels an, den sie dankend annahm.
Der Plan musste funktionieren, davon war Takeru überzeugt. Die Wanderwege waren einfach; dank Fenya waren sie mit wintertauglichen Klamotten ausgestattet und nun konnte ihrem Ziel nichts mehr im Wege stehen.
„Also, wenn wir nach dem Frühstück unsere Sachen packen“, fuhr Takeru fort, „können wir über diese einfache Route zum Dorf gelangen. Vielleicht noch schnell genug, dass unser Vater nicht so weit weg sein könnte.“ Während er seinen Freunden den Plan erklärte, fuhr er mit dem Finger die Route, die er gewählt hatte, auf dem Flyer nach. „Es dauert vielleicht einen Tag, bis wir dort sind, wenn wir früh genug aufbrechen.“

Nachdem sie sich die Bäuche vollgeschlagen hatten, packten sie vom Buffet noch unbemerkt ein paar Vorräte für unterwegs ein. Auf ihrem Zimmer stopften sie ihre Sachen in die Taschen, füllten ihre Wasserflaschen auf und zogen sich, in Gedanken an Fenya, warm an. Ziel war es, sich nun nicht mehr ablenken zu lassen, sondern schnurstracks in Richtung des Berges zu gehen und die von Takeru herausgesuchte Route zu nehmen.
Der Himmel war klar. Einzelne Wattewolken zogen durch das helle Blau. Es war trocken, aber eisig kalt. Der Pulverschnee auf der Straße knirschte kaum, als die Freunde die Stadt in Richtung Norden verließen. Den gepflasterten Gehwegen wich ein erdiger, gefrorener Weg durch eine Buschlandschaft. Die zarten, blätterlosen Zweige der Büsche waren überzogen mit weißen, glitzernden Kristallen aus Schnee und Eis. Takeru ging voraus, um von den Verzweigungen der Wege die richtige Richtung abzuleiten. Kurz dahinter befand sich Alayna, die sich in regelmäßigen Abständen den Kragen ihrer Jacke nach oben zog, da sie leicht fröstelte. Die Bewegung halte warm, hieß es, aber es half auch nicht, dass der Weg allmählich steiler und somit auch anstrengender zu gehen wurde. Eimi und Kioku liefen ein Stückchen hinter Alayna.
„Großartig, was Tak für eine Energie zeigt, seinen Vater zu finden“, stellte Kioku fest und fixierte mit ihrem Blick ziellos die Ferne.
„Aber das tust du doch genauso“, entgegnete Eimi. „Du hilfst den Zweien, obwohl du selber auf der Suche bist.“
„Nicht obwohl“, gab sie knapp zur Antwort.
„Nicht obwohl“, wiederholte Eimi verstehend und fuhr fort: „Ist alles in Ordnung bei dir heute? Du wirkst etwas niedergeschlagen.“
Kioku schreckte aus ihrem fixierten Blick auf und stieß dabei eine große Atemwolke in die Luft. „Ich? Was meinst du? Nein, gar nicht! Ich bin voller Energie!“, erklärte sie sich.
„Es ist wegen der Sache mit Anon, richtig? Das lässt dich nicht los.“
„Ertappt“, gestand sie und seufzte. „Ich glaube, ich brauche einfach noch etwas Zeit für mich. Überhaupt für mich. Es passiert so viel und es ist so wenig Pause.“
„Sollen wir länger Rast machen?“, schlug Eimi vor. Er sorgte sich wirklich um Kioku. Auch um die anderen. Er selbst war ausdauernd, aber er hatte so seine Zweifel bei den anderen.
„Nein, das nicht. Das ist schon alles okay“, meinte Kioku und lachte. „Wir schaffen das alles!“
Eimi hatte trotzdem nicht den Eindruck, dass sie sehr motiviert war. Er fühlte sich im Moment bestätigt, denn es war eine gute Idee gewesen, diese Reise anzutreten. Es war einfach richtig, Alayna, Tak und Kioku auf ihrer schwierigen Suche zu unterstützen. Wenn Kioku nun behauptete, dass für sie alles in Ordnung wäre, dann vertraute er darauf. Ein kleiner Vertrauensvorschuss würde ihrer Beziehung gut tun, das wusste er. Außerdem würde es sicherlich bald eine Möglichkeit eröffnen, in der er den anderen richtig unter die Arme greifen konnte. 

Takeru machte sich derweil Gedanken, ob sein Experiment mit dem Tagebuch klappte. Bisher hatte er noch nicht hineingeschaut, aber er war der Überzeugung, dass es einfach noch etwas brauchen würde, bis ein neuer Tagebucheintrag erscheinen würde. Was er gedankenverloren bisher nicht merkte, war, dass er schon zum dritten Mal eine falsche Abzweigung genommen hatte. Erst, als die Freunde an eine Stelle kamen, die gar nicht so aussah wie auf der Karte, blieb er verdutzt stehen und blickte mehrmals in die eine und dann in die andere Richtung.
„Was ist los, Bruderherz?“, fragte Alayna nach und klopfte ihm dabei auf die Schulter.
„Eh … ja …“, stotterte Takeru, „Nichts, alles bestens!“
Alayna wurde sofort stutzig und hakte nach. „Was ist alles bestens? Warum stotterst du so?“
Takeru fuhr mehrmals mit seinem Finger die Karte ab und blickte wiederholt in alle Richtungen. „Nein, ist wirklich alles in Ordnung.“
„Da ist doch was im Busch!“ Alayna zog ihm den Flyer aus der Hand und warf selbst einen Blick darauf. „Kann es sein, dass du keine Ahnung hast, wohin wir gehen müssen?“
„Das stimmt gar nicht, gib sie mir wieder!“, forderte Takeru und zerrte nervös an der Karte. „Ich weiß sehr wohl, wohin wir müssen!“
„Dann führ uns doch dort hin!“ Alaynas Stimme wurde lauter und sie zerrte ebenfalls an der Karte.
Mit einem lauten Riss teilte sie sich und beide taumelten zwei Schritte zurück.
„Na toll gemacht!“, brüllte Tak. „Ich hätte uns schon zum Dorf geführt!“
„Hättest du gar nicht!“, behauptete Alayna. „Du Spatzenhirn hast uns gerade voll in die Irre geführt! Wir haben keine Ahnung, wo wir sind!“
„Wir sind auf dem richtigen Weg, aber jetzt hast du die Karte kaputt gemacht und ich kann den Pfad nicht mehr finden!“
Kioku und Eimi holten schnell auf, als sie merkten, dass die Geschwister sich stritten.
„Was ist los?“, wunderte sich Kioku.
„Der Vollidiot hier hat uns in die falsche Richtung geführt!“, ärgerte sich Alayna und stampfte dabei mit einem Fuß in den Schnee.
„Sie hat die Karte nicht losgelassen, ich hätte uns schon zum Dorf geführt!“, verteidigte sich Takeru, der beide Hälften des Papiers in den Händen hielt.
„Jetzt beruhigt euch erstmal“, unterbrach Eimi beide und nahm Takeru die Hälften der Karte ab. Prüfend betrachtete er die Stücke, aber beide Hälften waren durch den Riss und die Knitter darauf wirklich nicht mehr zu gebrauchen. „Dann stecken wir nun in dieser verzwickten Situation. Aber das ist kein Problem. Wir folgen dem Pfad und kommen schon bald am Dorf an. Ich denke, der Weg war gar nicht so falsch. Dort ein Stückchen hinter diesem Wald kann ich Lichter entdecken.“
„Es wird langsam dunkel“, fügte Kioku hinzu. „Anstatt zu streiten, sollten wir uns sputen, sonst müssen wir auf diesem eisigen Berg übernachten.“
Alayna warf ihrem Bruder noch einige giftige Blicke zu, aber sie sagte nichts mehr. Takeru ärgerte sich unheimlich darüber, was seine Schwester da behauptete. Er hätte schon den richtigen Weg gefunden, obwohl sie sich doch nur ein wenig verlaufen hatten. Aber das war typisch für sie, denn immer war er der Schuldige. Doch diesmal hatte er wirklich ein gutes Gefühl. 
Die Sonne bewegte sich langsamer in Richtung Horizont und tauchte die glänzende weiße Landschaft in ein immer dunkler werdendes Blaugrau. Es war immer noch trocken, aber trotzdem eisig kalt.
„Hinter diesem Wald scheint es ein kleines Dorf zu geben“, meinte Eimi und versuchte seine Freunde zu motivieren. Die Stimmung war eisig. Anscheinend hatte Takeru doch die richtige Richtung gesucht, war aber gekränkt durch das nicht entgegengebrachte Vertrauen seiner Schwester. Die Freunde betraten den Wald, der von der untergehenden Sonne nicht mehr so viel Licht abzubekommen schien. Der schmale, dunkle Weg war durch Steine und große Baumwurzeln sehr schwer abzulaufen. Im Wald selbst wurde die Stille der Freunde selten durch ein merkwürdig klingendes Tier in der Ferne unterbrochen. Alayna lief nun näher neben Eimi; Takeru wollte nicht mehr führen und ließ Kioku vorlaufen. Der Wald war sehr groß und Kioku hielt ihre Freunde an, doch schneller zu laufen. Die anderen bemühten sich, ihr zu folgen.
„Da ist etwas! Ich sehe Licht!“, jubelte Kioku, als sie zwischen ein paar Bäumen ein Licht entdeckte. Takeru war erleichtert. Er hatte also doch Recht, dass hier ein Dorf war! Alayna war nur erleichtert, dass der beschwerliche Weg nun ein Ende hatte. Kioku beeilte sich und verschwand hinter einer Böschung. Als Takeru ihr folgte, war er erstaunt und enttäuscht zugleich. Als Eimi und Alayna kurz darauf ebenfalls die Lichtung erreichten, verschlug es beiden die Sprache. Hier gab es kein Dorf. Hier gab es einen leuchtenden Bären.

 

 

 


Kapitel 20 – Der Wald der weißen Tiere

Ein warmes, weißes Leuchten erhellte die Lichtung des Waldes, auf der sich Kioku, Eimi, Takeru und Alayna befanden. Das Licht glich dem des aufgehenden Mondes, mit dem einzigen Unterschied, dass es leicht pulsierte. Die Sonne war schon gar nicht mehr hinter den großen Bäumen des Waldes zu sehen und die ersten Sterne der Nacht wurden sichtbar.
Die Sprachlosigkeit der Freunde wurde erst unterbrochen, als Takeru mit zitterigem Finger auf den am anderen Ende der Lichtung liegenden leuchtenden Bären zeigte und verwundert von sich gab: „Seht ihr das auch? Oder träume ich?“
Aber die ausbleibende Antwort seiner Freunde war ihm Antwort genug. Wie, als hätte Takeru zu dem Bären gesprochen, richtete sich dieser still auf und blickte die Freunde durchdringend an. Dabei hörten die Freunde weder den Schnee knirschen, noch ein anderes Geräusch. Alayna drückte sich noch fester an Eimi. Kioku hob langsam ihre Hände.
„Keine Panik“, sprach sie leise und wandte ihren Blick nicht von dem Bären ab. „Wenn wir uns ganz langsam klein machen, dann wird er das nicht als Angriff wahrnehmen. Wir sind schließlich in seinem Territorium.“
Während Eimi und Takeru das taten, was Kioku vorgeschlagen hatte, nämlich ruhig in die Knie zu gehen, um sich kleiner zu machen, war Alayna total außer sich.
„Wie kannst du so was vorschlagen, der wird uns so oder so fressen!“, flüsterte Alayna ziemlich laut. Ihre Knie schlotterten. Sie wollte am liebsten so schnell wie möglich weg von hier.
„Mach einfach!“, antwortete Tak. „Ich habe das schon einmal in einem Buch gelesen, das hilft!“
„Ich bin auf meinen Reisen des Öfteren auf wilde Tiere gestoßen. Alayna, vertrau mir“, entgegnete Kioku und ging langsam in die Knie. „Wenn wir auf dem Boden sind, dann krabbeln wir langsam zurück.“
Als sich dann alle auf dem Boden niedergelassen hatten, verlor der Bär auch den Blickkontakt zur Gruppe nicht. Gerade, als Alayna ihr Bein hob, um langsam rückwärts zu krabbeln, merkte sie in ihrem Augenwinkel, dass etwas kleines Leuchtendes neben ihr saß. Ihr fuhr es eisig kalt den Rücken hinunter. Vorsichtig drehte sie ihren Kopf zur linken Seite und entdeckte neben sich einen Hasen, der wie der Bär auch leuchtete. In der Sekunde, als der Hase sie bemerkte, flitzte er in einer rasenden Geschwindigkeit in Richtung des Bären. Das erschrak Alayna so sehr, dass sie aufschrie. Eimi und Takeru stürzten sich gleich auf sie um ihr den Mund zuzuhalten, damit es wieder still war. Kioku, die immer noch konzentriert den Bären beobachtete, entdeckte jedoch, dass dieser sich kein bisschen bewegt hatte. Es schien so, als wäre dieses Tier entweder sehr träge und alt oder aber sehr entspannt.
Alaynas Augen weiteten sich und sie versuchte, ihren Arm unter dem Gewicht der Jungs zu lösen und deutete in den Himmel. Die Jungs blickten verwundert nach oben und entdeckten einen Schwarm leuchtender Spatzen, von etwa sechs oder sieben Tieren. Die drei sahen sich um und erblickten noch einen Dachs, der sich an einem Baum rieb, einige Eichhörnchen, welche von Ast zu Ast sprangen und ein Reh, welches sich hinter einem Busch versteckte. Alle Tiere, die sich nun auf dieser Lichtung befanden, glimmten in einem schwachen, weißen Licht.
„Da … da sind ja noch mehr“, stotterte Alayna.
„Das sind so viele“, fügte Eimi hinzu und half Alayna wieder auf die Knie zu kommen. Er klopfte vorsichtig den Schnee von ihren Klamotten. „Ich habe so etwas noch nie gesehen.“
„Ich auch nicht.“ Alayna schluckte.
„Bewegt euch nicht“, befahl Kioku. Sie richtige sich langsam wieder auf, stets mit fixen Blick auf den Bären. „Ich versuche etwas.“
Kioku setzte langsam einen Fuß vor den anderen, um dem Bären näher zu kommen. Dieser bewegte sich kein Stück. Die Ruhe, die dieser Bär ausstrahlte, verblüffte sie. Kioku sah ihn nicht einmal schwer atmen, was Bären sonst taten, wenn sie in einer brenzligen Situation durch Adrenalin und Instinkt gesteuert waren. Dieser Bär war anders als alle wilden Tiere, welche sie bisher jemals gesehen hatte. Der Schnee knirschte leise unter ihren Schuhen. Alayna und Eimi wollten Kioku zurückrufen, unterließen dies aber, um die Ruhe nicht zu stören. Takeru jedoch beobachtete erstaunt, was Kioku vorhatte. Was nun genau der Plan war, wusste Kioku selbst auch nicht. Diese Ruhe, das Leuchten und dieses merkwürdige Verhalten des Bären, das machte alles keinen Sinn. Es musste etwas mit ihm sein. Vielleicht war er verletzt oder bräuchte andere Hilfe. Irgendwie spürte Kioku tief in ihr selbst, dass etwas nicht stimmte. Zögernd näherte sie sich immer mehr dem Bären, der nichts anderes Tat, als Kioku anzustarren. Als sie näherkam, bemerkte sie erst, wie struppig sein Fell war, dass er einige Narben auf dem Rücken hatte und wie groß er eigentlich war. Seine Schulterhöhe betrug sicherlich zweieinhalb Meter. Es war ein ausgewachsenes, stattliches Tier. Seine Augen hatten einen merkwürdigen, besonderen Glanz und einen traurigen Ausdruck.
Kioku war nun schon ganz nah. Vorsichtig streckte sie ihren Arm aus, sodass der Bär schon einmal ihren Geruch besser wahrnehmen konnte. Es trennte sie nur noch ein Meter zum Bären. Ihre Atmung wurde schneller, die Muskeln spannten sich an und Kioku schaffte es, alles um sie herum auszublenden bis auf den Bären.
„Hey! Wer sind Sie!?“, schrie plötzlich jemand, aus dem Wald kommend. Kioku hielt ruckartig inne. Der Bär bewegte sich nun und wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Mit geräuschlosen Schritten ging auf er auf die Stimme zu. Verwundert sah sie auf den Boden und erkannte, dass der Bär keine Fußspuren im Schnee hinterließ. Auch als der Bär an ihr vorbeiging, spürte sie weder seine Körperwärme, noch sein Fell, noch irgendetwas anderes. Eine Silhouette wurde sichtbar.
„Gehen Sie weg von dem Bären“, forderte die Stimme. Der Schatten stellte sich als ein Mann heraus, welcher in seiner linken Hand einen geflochtenen Korb hielt, darin befand sich eine kleine Sichel. Er trug keine Jacke, sondern nur ein Hemd und eine Hose, obwohl es sehr kalt war. Der Mann hatte kurz geschnittene, orangene Haare und einen Kinnbart. „Was auch immer Sie wollen, Sie müssen hier verschwinden.“
Kioku löste sich aus ihrer Starre. Auch Alayna, Eimi und Takeru standen langsam auf.
„Was ist das hier für ein Ort? Wir dachten, hier gäbe es ein Dorf“, antwortete Kioku.
Der Mann legte seinen Korb nieder und machte einige Schritte auf die Lichtung zu. Dort, wo er stehen blieb, ließ sich der Bär nieder. Der Mann streichelte den Kopf des Bären und wandte sich dann wieder Kioku zu. Ohne zu zögern, machte sich Takeru auf, um zu Kioku zu gehen. Eimi und die sich an ihn drückende Alayna folgten.
„Ich sagte, Sie müssen hier verschwinden“, wiederholte der Mann ruhig, aber bestimmt. „Wenn sie das Dorf suchen, sind Sie hier falsch.“
„Was ist das für ein Tier?“, fragte Kioku, ohne auf die Forderung des Fremden einzugehen.
„Sie müssen hier verschwi…“, der Mann brach seinen Satz ab, als er Alayna und Takeru entdeckte. Die beiden und Eimi stellten sich entschlossen zu Kioku. Der Fremde machte keinen bedrohlichen Eindruck, aber man konnte nie wissen, ob sich das nicht noch ändern würde.
Er machte ein paar Schritte nach vorn und sah die Geschwister konzentriert an. Er musterte sie von oben bis unten. Es traute sich keiner etwas zu sagen, bis der Mann selbst die Stille unterbrach: „Alayna und Takeru Sabekaze? Seid ihr das?“
Bruder und Schwester sahen sich wundernd an. Sie hatten diesen Mann vorher noch nie gesehen. Keiner von beiden antwortete. Eimi und Kioku stellten sich verteidigend vor ihre Freunde.
„Also stimmt es, die Stille verrät euch“, kicherte der Mann und kratzte seinen Kinnbart. Keiner der Gruppe wusste, wie er nun darauf reagieren sollte. „Entschuldigt. Ich heiße Jumon und bin ein Freund eures Vaters. Gutes Stichwort, wo sind eure Eltern? Wo ist Sora, wo ist Ginta?“
Alayna beobachtete, wie Takerus Schultern sich entspannten und er gerade dabei war, etwas zu sagen. Abrupt sagte sie etwas, bevor ihr Bruder sprechen konnte: „Stopp, stopp! Woher wissen wir, dass Sie die Wahrheit sagen? Woher kennen Sie unsere Namen? Was soll das!?“ Sie ging auf den Mann zu, der behauptete Jumon zu sein. „Woher wissen wir, dass Sie wirklich mit unserem Vater befreundet sind? Müssten wir Sie dann nicht kennen!?“
Alayna wurde immer lauter. Sie hatte die Schnauze voll davon, ständig Leute zu treffen, die dies oder jenes über ihre Familie behaupteten, obwohl sie dies doch besser wusste! Wenn er wirklich ein Freund wäre, warum wusste sie dann nichts von ihm? Eimi legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie etwas zu beruhigen. Takeru wunderte die schnelle, laute Reaktion seiner Schwester, aber irgendwie hatte sie recht. Der leuchtende Bär richtete sich wieder stumm auf und kam der Gruppe näher. Alayna verzog sich wieder respektvoll hinter Eimi. „Und was soll dieser Bär hier? Warum leuchtet er!?“
Der Mann schnaubte nachdenklich. „Das sind viele Fragen auf einmal“, antwortete er und zog dabei aus seiner hinteren Hosentasche einen Umschlag. „Ich weiß, ich habe euch nie besucht. Aber ich pflege einen außerordentlich regelmäßigen Briefkontakt mit eurem Vater. Seht her.“
Er überreichte den Umschlag des Briefes an Takeru.
„Das ist die Schrift von Papa“, erklärte er, nachdem er die Adresse von Jumon genau betrachtete. „Ich erkenne das!“
„Gib mal her“, befahl Alayna schroff und riss ihm den Umschlag aus der Hand. „Tatsache. Wir können Ihnen aber nicht trauen. Sie könnten auch nur behaupten, ein Freund zu sein, obwohl sie dem wahren Freund den Brief in Wirklichkeit abgeknöpft haben.“
Ohne zu zögern antwortete Jumon: „Alayna, du wurdest am 23. Oktober geboren. Takeru, du am 27. November. Vor drei Jahren war eure Mutter so krank, dass sie einen Monat in einem Krankenhaus verbrachte. Die letzte Urlaubsreise, die ihr unternommen habt, ist sechs Jahre her und euer Vater verbringt ziemlich viel Zeit in seinem Büro. Sein Lieblingsbuch ist ‚Das Ende der Zeit‘ von Sander Aeinhof. Wenn die Kirschblüten blühen, sieht euer Vater stundenlang aus dem Fenster und ist ganz weg. Eure Eltern kennen sich schon, seit sie jünger waren, als ihr jetzt seid.“
„Das wissen Sie also alles von uns …“, murmelte Alayna, erstaunt über die Dinge, die Jumon wusste.
„Weil er ein Freund unseres Vaters ist“, erkannte Tak. Er öffnete den Brief und war erstaunt darüber, was darin stand. Er las vor: „Ich habe es gefunden. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ginta.“
„Ist das auch wirklich seine Unterschrift?“, hakte Eimi skeptisch nach. Nachdem die Geschwister beide einen Blick darauf geworfen und sich vergewissert hatten, bestätigten sie seine Frage mit einem entschlossenen Nicken.
„Ich bin der letzte, der euch oder eurer Familie etwas tun möchte“, erklärte Jumon. „Und um auf die Frage vom Anfang zurückzukommen: Das hier ist der Wald dieses Bären.“
Er deutete um sich herum und auf einmal versammelten sich alle weiß-leuchtenden Tiere um die Lichtung herum. Der Bär legte sich wieder auf den Boden und sah Jumon dabei erwartungsvoll an.
„Normalerweise zeigen sie sich nicht, wenn Menschen im Wald unterwegs sind. Aber es scheint, dass ich sie entweder herausgelockt habe, oder …“ Er machte eine kurze Pause und sah dabei Kioku, Eimi, Alayna und Takeru intensiv an. „… oder sie hatten nie Angst vor euch.“
„Aber was genau sind diese Tiere?“ Kioku wollte unbedingt wissen, was ihr eigenartiges Bauchgefühl bedeutete.
„Ich zeige es euch.“
Jumon hob leicht seine Hand und die Tiere verschwanden schneller, als ein Blinzeln dauerte. Dabei verschwanden sie nicht, indem sie aufstanden und davonsprangen. Sie waren einfach weg. Dann sank Jumons Hand wieder und die Tiere wurden wieder sichtbar.
„Vielleicht habt ihr auch beobachtet, dass nur unsere Fußspuren im Schnee zu finden sind.“
Takeru drehte sich um und bemerkte, dass von der Stelle, an welcher sich der Bär zuerst befunden hatten, bis zu der Stelle, wo sich der Bär nun befand, keine Spuren zu sehen waren.
„Wie funktioniert das?“, wunderte sich Eimi.
„Sie sind Geister“, antwortete Jumon kurz.
Alayna war kurz davor, wieder einen Schrei loszulassen, hielt sich dann aber selbst den Mund zu. Kioku starrte verständnislos auf den Bären und Takeru drehte sich um sich selbst.
„Der Bär, das Reh, die Vögel … alle, alle sind Geister? Also gibt es doch Geister?“, fragte Takeru fassungslos.
„Das ist doch nicht möglich“, behauptete Alayna.
Jumon lächelte. Alayna und Takeru, beide waren ihren Eltern wie aus dem Gesicht geschnitten. „Tja, das kann ich euch später sehr gerne erklären. Jetzt aber zurück zu meiner Frage. Wo sind eure Eltern?“
„Das ist eine sehr lange Geschichte“, antwortete Alayna zuerst. Sie versuchte sich Vertrauen einzureden, obwohl die Umstände mehr als außergewöhnlich waren. Jumon war, wie vielleicht auch Ryoma, wirklich eine große Hilfe auf ihrer Suche nach ihrem Vater. Eimi und Kioku nickten ihr zu, um ihr zu zeigen, dass sie auch ein gutes Gefühl hatten. „Wir suchen unseren Vater.“
„Und wie seid ihr von Zuhause so weit bis hierher gekommen?“, entgegnete Jumon erstaunt. Er kratzte sich wieder an seinem Kinnbart.
„Das ist eben diese lange Geschichte“, antwortete Alayna.
„Warum kommt ihr nicht mit zu mir in meine Hütte und wir unterhalten uns etwas länger darüber? Es ist schließlich schon dunkel und ihr habt sicherlich Hunger. Richtig?“, lud Jumon die Freunde ein.
„Das wäre großartig, danke“, bedankte sich Alayna. Bei dem Gedanken, eine Nacht in diesem Wald mit all diesen Geistern zu verbringen, stellten sich ihr alle Haare auf.
Jumon drehte sich zu dem Bären und streichelte ihm den Kopf. Kioku beobachtete das und fragte sich, wie er den Bären überhaupt streicheln konnte, wenn der Bär doch ein Geist war. Jumon ging auf den stehen gelassenen Korb zurück und hob ihn auf. Dann winkte er die Freunde zu sich.
„Hier geht es lang. Ich mache uns einen köstlichen Tee“, erklärte er und verschwand zwischen den Bäumen.
Die Freunde bewegten sich erst zögernd, folgten dann aber Jumon. Alayna versuchte besonders vorsichtig zu laufen, um nicht etwa den Bären oder die anderen Tiere zu erzürnen. Sie war diejenige, die der Lichtung mit den Bären am längste hinterher sah. Der Weg führte durch den Wald. Schon bald war das Strahlen der Tiere und die Lichtung nicht mehr zu sehen. Still liefen alle Jumon hinterher, der ein gutes Tempo vorgab. Am nördlichen Rand des immer steiler werdenden Waldes entdeckten die Freunde das Leuchten eines Hauses. Auf einer weiteren Lichtung entdeckten sie dann Jumons Zuhause. Es sah aus wie eine kleine, einfache Hütte aus Holz. An der Rückseite der Hütte jedoch befand sich ein sicherlich dreimal so hoher und fünfmal so breiter Anbau aus Stein, welcher nur sehr kleine Fenster hatte. Die Hütte war hell beleuchtet und aus dem Schornstein stieg Rauch heraus. Jumon stellte den Korb und die Sichel auf einer hüfthohen Kiste neben einem Stapel Brennholz ab und nahm ein Bündel an Kräutern heraus.
„Daraus mache ich uns Tee“, erklärte er und hielt dabei die Tür der Hütte auf. In einem Vorraum konnten alle ihre Jacken aufhängen und ihre Schuhe ausziehen. Die Dielen des großen, durch einen Kamin beheizten, Raumes waren warm. Sie befanden sich nun in einem großen Zimmer, welches neben der Feuerstelle auch eine einfache Küchenzeile, einen Esstisch und ein großes Sofa besaß. Die Wände des Raumes waren durch etliche Bücherregale verdeckt. Am anderen Ende des Raumes befanden sich drei Türen.
„Ich bin zuhause“, grüßte Jumon und kurz darauf öffnete sich eine der drei Türen und eine schwangere Frau trat heraus.
„Willkommen zurück“, grüßte sie, streichelte dabei ihren großen Bauch und sah verdutzt in die Runde. „Du hast Gäste mitgebracht?“
„Sabî, darf ich dir vorstellen: Alayna, Takeru und … Oh, ich habe gar nicht nach eurem Namen gefragt“, wandte sich Jumon an den Begleitern der Geschwister.
„Das ist Kioku und ich bin Eimi“, stellte Eimi sich und Kioku vor. „Wir danken für die Einladung.“
„Kein Problem. Ihr seid also Alayna und Takeru“, antwortete Sabî und gab allen die Hand. Dann setzte sie sich auf das Sofa und streichelte weiterhin ihren Bauch.
„Ich habe die Kräuter mitgebracht“, erklärte Jumon. „Während ich danach suchte, entdeckte ich, dass die vier hier auf unsere Freunde des Waldes gestoßen sind. Aber sie waren ganz friedlich und haben sich gezeigt.“
„Das ist ungewöhnlich“, antwortete Sabî.
„Das finde ich auch. Nun ja, ich habe sie eingeladen. Ginta ist verschwunden, haben sie erzählt.“
Jumon setzte eine Kanne mit heißem Wasser auf und schnitt die Kräuter klein.
„Wir haben uns alle wohl viel zu erzählen.“ Er lud die Freunde ein, am Tisch Platz zu nehmen. „Schießt los. Was ist mit euren Eltern passiert?“
Während Jumon den Kräutertee servierte und dabei jedem eine Kleinigkeit zu essen hinstellte, erzählte Takeru die ganze Geschichte, von dem Moment an, als ihr Vater von der Lichtgestalt entführt worden war, dem Feuer, der Organisation, Vernezye, dem Job, dem Zeitungsartikel, der Flugreise, bis hin zu dem Zeitpunkt, als die Freunde im Wald angekommen waren. Takeru erzählte alle Details und alle wichtigen Sachen, die ihnen aufgefallen waren. Er ließ nur den Teil mit dem Tagebuch aus.
„Verstehe …“, meinte Jumon nach langem Zuhören. „Scheint so, als wäre dieses Licht das, von dem euer Vater in seinem letzten Brief erzählt hat. Ich muss euch aber leider enttäuschen, dieser Zeitungsartikel handelte nicht von eurem Vater. Wäre er hier gewesen, hätte ich das sofort mitbekommen. Ich nehme an, dass dieser Artikel vielmehr von den Geistern des Waldes handelt.“
„Es kann sein, dass jemand die Geister gesichtet hat“, meldete sich Sabî, die in Ruhe ihren Tee trank. „Das hätte fatale Folgen für den Frieden im Wald.“
„Was hat es denn nun damit auf sich?“, hakte Kioku neugierig nach. „Nun bist du an der Reihe, diese Geschichte zu erzählen.“
„Ihr müsst wissen“, fing Jumon an zu erzählen, „dass es Geister überall gibt. Nur durch besondere Motivationen werden sie eigentlich für die Menschen sichtbar.“
Sabî stand auf und legte ihre Arme um Jumons Schultern. Dabei gab sie ihm einen kleinen Kuss auf die Wange.
„Oder es braucht besondere Menschen, die durch ihre spirituellen Fähigkeiten die Geister für die Menschen sichtbar machen, wie ich es bin.“
Die Freunde sahen sich verwundert an. Bisher hatte keiner von ihnen von so einer Fähigkeit gehört.
„Vor ungefähr hundert Jahren gab es eine Frau namens Rothea, die in den Bergen ein einsames Eremitenleben führte. Damals war der Wald noch viel größer und es gab viel mehr Tiere hier. Es war eine harte Zeit, wirtschaftlich und politisch und die Bewohner des Berges fingen an, die Tiere wegen ihres Fells und ihres Fleisches zu jagen. Rothea hingegen setzte sich immer für das Wohl der Waldbewohner ein. Eines Tages, als sie versuchte, einen Bären vor Wilderern zu retten, kam sie dabei ums Leben. Die Menschen sprachen damals von einem Martyrium.“
„Das ist doch, wenn jemand für seinen Glauben stirbt, richtig?“, meldete sich Takeru zu Wort. Er fand den Anfang der Geschichte schon sehr spannend.
„Richtig“, antwortete Jumon. „Die Geister, die ihr heute gesehen habt, sind Tiere, die in dem letzten Jahrhundert qualvoll gestorben sind. Sie schaffen es nicht, allein ins Jenseits überzutreten. Sie warten immer noch auf die Rückkehr von Rothea.“
„Aber weswegen war der Bär so ruhig? Wieso kommen die Tiere so gut mit dir klar?“, wunderte sich Kioku. Sie konnte diese Geschichte noch nicht ganz mit dem Ereignis des Tages zusammenführen.
„Jumon ist ein Medium. Geister werden von Medien angezogen, weil sie sich durch ihre seelische Energie manifestieren können“, erklärte Sabî und goss sich noch etwas Tee in ihre Tasse.
„Nur, wenn sich die Tiergeister wirklich entspannt fühlen, zeigen sie sich. Dadurch, dass ich im Wald unterwegs war, mussten sie sich sicher gefühlt haben. Andererseits haben sie von euch sicherlich keine Bedrohung ausgehen sehen.“
Sabî gähnte. „So etwas passiert hier selten.“
Jumon sah seine Frau an und stand auf. „Was haltet ihr davon, wenn ihr bei mir übernachtet und wir reden morgen noch ausführlicher, auch über euren Vater? Wie ihr seht ist meine Frau schwanger und wir brauchen viel Ruhe. Ich bereite euch in meiner Bibliothek einen Schlafplatz vor. Und morgen sehen wir weiter. Eimi, Takeru, warum kommt ihr nicht mit?“
Während die Jungs Jumon folgten, um die Schlafsachen für die Bibliothek vorzubereiten, standen Alayna und Kioku auf, um Sabî nach dem Baby zu fragen. Sie erfuhren, dass Sabî schon im achten Monat schwanger war und Jumon pflegte sie jeden Abend mit Tee und Massagen, sodass es ihr gut ging. Die Schlafgelegenheit für die Freunde bestand aus ein paar dünnen Matratzen und kratzigen Decken, welche jedoch sehr wärmend waren. Die Matratzen wurden mittig in die riesige Bibliothek gelegt, welche sich im Anbau aus Stein befand.
Während sich am späteren Abend Jumon und Sabî in ihr Schlafzimmer begaben und auch Kioku, Eimi und Alayna sich in die Bibliothek machten, um dort zu schlafen, blieb Takeru noch am glühenden Kamin sitzen und holte das Tagebuch hervor. Neugierig schlug er die Seite, auf die er geschrieben hatte, auf, in der Hoffnung, dass die Notiz ihm weiterhelfen würde. Leider musste er feststellen, dass sowohl der Eintrag als auch seine Notiz sich nicht darin befanden. Zunächst ging er davon aus, dass er sich in der Seite geirrt hatte, fand jedoch nicht das, was er suchte. Dafür entdeckte er einen neuen Eintrag:

„Wir haben heute eine kleine Pause eingelegt. Jumon gab mir ein Buch, als er sah, dass ich mich etwas langweilte. Ich las darin und er setzte sich ganz ruhig neben mich und las ebenfalls.“
 
Was Takeru dabei nicht bemerkte, war, dass Jumon ihn dabei durch einen kleinen Spalt in der Tür beobachtete. Lautlos schloss er wieder die Tür.


Kapitel 21 – Wichtige Worte

 Leise rollte eine Schublade aus dunklem Kirschholz auf. Jumon nahm sich einen silbernen Füller heraus und legte ihn auf eine Schreibunterlage in seinem Sekretär. Aus einem der Fächer, die sich an der Seite befanden, nahm er einige Briefumschläge und Briefpapier heraus und platzierte alles fein säuberlich neben einer großen Kerze. Dann setzte er sich auf seinen mit grünem Stoff gepolsterten Stuhl.
„Was tust du, Jumon?“, fragte Sabî müde und neugierig, als sie gerade aufwachte. Sie richtete sich gähnend in ihrem Bett auf.
„Ich werde noch ein paar Briefe schreiben.“
Sabî stand auf und warf sich eine gestrickte Decke über. Während sie ihren Bauch hielt, ging sie zum Sekretär und streichelte Jumon einmal durch das kurze Haar.
„Weißt du“, fing Jumon an zu erklären, als er gleichzeitig seinen Füller in das Fass tauchte, „die ganze Sache wird größer, als ich es erwartet hatte. Sie sind zurück und ich denke, sie haben es diesmal wieder auf Shiana abgese-hen. Ginta wird dies sicherlich verhindern wollen. Aber warum im Alleingang? Ich hatte ihn die letzten Jahre anders eingeschätzt. An der ganzen Sache mit Ginta ist irgendetwas komisch.“
„Was hast du jetzt vor?“, fragte Sabî unsicher. Jumon fing an, einen Brief zu schreiben. Dabei kratzte die metal-lene Feder des Füllers über das raue Papier.
„Als allererstes muss Sayoko davon erfahren. Sie hat mit ihrer jetzigen Position die meisten Möglichkeiten, zu helfen.“ Jumon hielt kurz inne und sah Sabî an. Er nahm ihre Hand und hielt diese fest, ihre Augen wurden glasig, als einige Tränen in ihr hochstiegen. „Ich werde nicht gehen, wenn du das meinst. Ich kann dich und unser Kind nicht alleine lassen. Aber ich kann auch nicht untätig hier herumsitzen und darauf warten, dass die Weltordnung wieder aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Unsere Freunde müssen davon erfahren. Deswegen schreibe ich Briefe.“
Sabî setzte sich wieder auf das Bett. In ihrem müden Zustand konnte sie nicht lange herumstehen.
„Du weißt, dass ich da eine Theorie habe über die drei Hüter und dass Shiana eine davon sein könnte. Wenn die Shal genauso weit mit ihren Nachforschungen sind wie ich, wird bald etwas Schlimmes passieren. Meine Theo-rien könnten helfen, die Welt besser zu beschützen. Aber mir mangelt es noch an so vielen Beweisen. Ich wer-de morgen früh noch einmal in die Bibliothek gehen und die Bücher heraussuchen.“
Es kehrte wieder Stille ein, welche nur durch das leise Kratzen des Füllers unterbrochen wurde. Sabî schlief schnell wieder ein und Jumon schrieb Briefe.

Takeru schloss das Tagebuch. Er war enttäuscht und verwirrt zugleich. Einerseits verschwanden seine Notizen genauso wie die Tagebucheinträge. Andererseits sprach der Eintrag gerade von Jumon. War das ein Zufall? Was hatte Jumon mit dem Tagebuch zu tun? Er nahm sich vor, dem am nächsten Tag auf den Grund zu gehen.
Ausgestattet mit einer Kerze ging er zurück in die Bibliothek. Dabei war er ganz leise, da seine Schwester, Kioku und Eimi in der Mitte des Raumes lagen und schliefen. Die Ungewissheit über das nächste Ziel und die Verbin-dung zwischen dem Tagebuch und Jumon beschäftigten ihn aber so sehr, dass er nicht schlafen konnte. Leise ging er in das nächste Stockwerk, um etwas in den Bücherregalen zu stöbern. Die Bibliothek besaß auf der nörd-lichen Seite eine Treppe, welche alle Stockwerke miteinander verband. Die Stockwerke gingen ringförmig an den Wänden entlang. Dabei konnte man von jedem Stockwerk aus, wenn man sich an die Brüstung zur Mitte des Raumes lehnte, ohne Probleme in die anderen Bereiche blicken. Die Ebenen waren zweieinhalb bis drei Metern hoch und man brauchte, um an die Bücher ganz oben im Regal zu kommen, definitiv eine Leiter. Am Ende jedes Regals, eingehakt in einer Arretierung, befanden sich die Leitern, sodass man diese nur noch zur richtigen Posi-tion schieben oder ziehen musste, um an alle Bücher zu gelangen. Wonach die tausenden Bücher in den Rega-len sortiert waren, konnte Takeru in der Dunkelheit nicht erkennen. Er sah nur mithilfe des Kerzenscheins, wel-che Bücher Jumon wohl häufiger aus dem Regal herausnahm als andere. Oft war es so, dass zwischen sehr ein-gestaubten Büchern welche waren, die kaum eine Staubschicht darauf hatten. Als Takeru durch die Gänge ging und Bücher entdeckte, die schmal oder breit, dick oder dünn, mit schwarzem, farbigem und ledernem Einband waren, dachte er mehr über das Tagebuch nach. Wenn es nicht möglich war, Notizen in das Buch zu schreiben, dann war dieses Buch doch sicherlich mit einer Art Magie versehen. Eine andere Begründung konnte er dafür nicht finden. Warum sonst sollten Einträge erscheinen und verschwinden? Es war so frustrierend, sich immer weiter und weiter von zu Hause fortzubewegen und seinem Vater keinen Schritt näherzukommen. Für einen kurzen Moment blitzte in Takeru der Alltag auf. Er sah, wie er sich morgens Frühstück zubereitete, wie er in die Schule ging und seine Freunde traf und wie abends seine Familie auf ihn wartete. All das war mit einem Schlag plötzlich weg gewesen. Schuld daran war dieses Tagebuch, da war er sicher!
Und genau aus diesem Grund konnte er nicht länger Trübsal blasen. Seine Freunde und er befanden sich mitt-lerweile auf einem anderen Kontinent und es war nicht die richtige Zeit, um frustriert zu sein. Wenn also die Notizen aus dem Buch verschwanden, dann müsste er doch nur die Einträge auf einen extra Zettel schreiben und diese dann am Ende richtig ordnen, sodass die Einträge Sinn ergaben. Das war ein guter Plan.
Takeru grinste zufrieden. Er war glücklich mit seinem Plan. Während er über die Details nachdachte, hörte er nicht die Schritte, die auf ihn zukamen. Als er gerade dabei war, um ein Regal herumzugehen, stieß er mit einer Person zusammen, sodass er auf den Boden fiel und die Kerze erlosch. Eine dunkle Hand streckte sich ihm ent-gegen. Sie bat ihm an, ihm aufzuhelfen.
„Du bist wohl noch nicht so müde wie die anderen, was?“, erkannte Jumon, als er dem Jungen wieder auf die Beine half.
„Kann nicht so gut schlafen“, antwortete Takeru kurz.
„Ich auch nicht.“
„Warum?“, fragte Takeru nach. Jumon deutete auf die Treppe und die zwei gingen leise in das oberste Stock-werk.
„Ich mache mir Sorgen um euren Vater“, antwortete Jumon, der Takeru durch die Dunkelheit in das oberste Stockwerk führte. Hier waren die Regale etwas kleiner. Auf der Nordseite des Raumes befand sich eine kleine, halbkugelförmige Glaskuppel, worin ein Tisch und zwei niedrige Sessel standen. Takeru setzte sich, nachdem Jumon auf einen der beiden Sessel gezeigt hatte. Die Aussicht aus der Glaskuppel war gigantisch. Er erkannte ein dunkles Dreieck, welches der Gipfel des Berges war. Darum herum befanden sich unzählige Sterne in verschie-denen Größen und Farben. Takeru staunte nicht schlecht darüber, was sich Jumon hier aufgebaut hatte.
Bevor der Junge wieder zu Wort kommen konnte, fuhr Jumon fort: „Ich habe deinen Vater sehr lange auf seiner Reise begleitet. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir uns gut verstehen. Aber kurz vor seinem Verschwinden war er anders.“
„Ich hatte immer das Gefühl, dass Papa ganz normal war.“ Takeru verstand gerade nicht, worüber Jumon mit ihm gerade reden wollte.
„Diese Reise, die euch bevorsteht“, redete Jumon einfach weiter, machte aber eine kleine Pause und schaute dabei in die Ferne, „diese Reise wird euch verändern. Dort draußen werdet ihr auf Leute treffen, die keine gu-ten Absichten haben. Die euch verletzen und angreifen wollen, die gierig und schlecht sind.“
Takeru war etwas verwirrt. Jumon redete zwar sehr ruhig, aber er hatte trotzdem das Gefühl, dass der werden-de Vater gerade die Hälfte von dem, was er erzählte, weggelassen hatte.
„Euren Vater hat unsere Reise sehr verändert. Und das wird bei euch genauso sein. Ich möchte euch wirklich helfen, deswegen habe ich zwei Dinge vor: Erstens habe ich an Freunde von mir und euren Vater Briefe ge-schrieben. Sie werden euch unterstützen. Als nächstes solltet ihr Sayoko Fusai aufsuchen. Sie lebt in Prûo. Sie kann euch helfen, euren Vater zu finden. Zweitens möchte ich euch etwas Selbstverteidigung beibringen.“
„Halt, was meinst du damit!?“, stieß es aus Takeru entsetzt heraus. Er verstand kein bisschen von dem, was Ju-mon ihm gerade sagte. „Briefe, Selbstverteidigung, ich versteh kein Wort!“
„Sayoko ist eine wichtige Politikerin auf diesem Kontinent. Sie ist eine sehr gute Freundin von mir und eurem Vater. Sie hat, sagen wir einmal, die richtigen Verbindungen, um herauszufinden, wo euer Vater sein könnte. Ich habe sie im Brief darum gebeten, euch zu helfen. Deswegen müsst ihr sie aufsuchen.“ Jumon sah Takerus zwei-felnden Blick. „Das passiert natürlich sehr diskret. Du musst mir vertrauen, sie wird euch eine große Hilfe sein. Und ich habe auch nicht verraten, dass du dieses Buch mit dir herumträgst.“
Vor Schreck sprang Takeru aus dem Sessel auf. „Woher … woher weißt du, dass ich irgendein Buch habe!?“ Ta-kerus Stimme überschlug sich, als er versuchte, dies zu verheimlichen.
„Ich habe dich vorhin damit gesehen“, antwortete Jumon kühl und blickte wieder aus dem Fenster. „Abgesehen davon ‚sehe‘ ich das Buch.“
„Was meinst du mit ‚sehen‘“, wunderte sich Takeru und fasste sich dabei auf seine Brust, da unter seiner Weste das Buch steckte.
Jumon kam ihm näher und drückte seinen rechten Zeige- und Mittelfinger auf seine Schläfe. Plötzlich nahm Ta-keru seine Umgebung nur verschwommen wahr. Als er Jumon ansah, erkannte er nur ein orangenes Licht. Ver-wundert blickte er auf seine Hände und sich selbst. Das, was er sehen konnte, war aber nicht sein Körper, son-dern ein dunkelblaues, großes Licht und ein ganz kleines azurblaues Licht. Nachdem Jumon seine Hand wieder wegbewegte, sah Takeru nach einem Augenzwinkern den Raum wieder ganz normal. Da war der Tisch und das Fenster vor ihm, die Regale und auch Jumon.
„Was war das?“, fragte er erstaunt.
„Unsere Seelen“, gab Jumon zur Antwort. „Das ist das, was ich sehen kann. Sowie die Geister. Ich kann das alles sehen.“
„Warum habe ich in zwei Farben geleuchtet?“
„Das zweite Licht ist das Buch, das du unter deine Weste versteckst“, erklärte Jumon ruhig. „Ich würde es mir die Tage gerne etwas näher anschauen.“
Takeru wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Entweder war das gerade ein richtig schlechter Trick gewe-sen, oder an der Sache war wirklich etwas dran, dass er seine und die Seele des Buches gesehen hatte. Aber Jumon hatte doch im Wald auch die Geister erscheinen lassen. Dann musste das gerade auch wahr gewesen sein!
„Bring es mir bei!“, forderte Takeru und sah Jumon entschlossen in die Augen. „Wenn ich diese Fähigkeit habe, dann werde ich Papa sofort finden können! Dann werde ich auch das Rätsel des Buches lösen können! Und dann wird alles wieder okay sein!“ Er war richtig euphorisch. Mit so einer interessanten und großartigen Fähig-keit musste es doch ein Kinderspiel sein, Leute zu finden.
„Es ist kompliziert“, entgegnete Jumon.
„Aber so kann ich Papa doch finden! Oder nicht? Du könntest Papa finden!“
„So geht das leider nicht“, gab Jumon von sich. „Ich kann dir diese Fähigkeit so nicht beibringen, geschweige denn, dass ich so stark bin, damit deinen Vater zu finden.“
Enttäuschung machte sich in Takeru breit. Die Euphorie war mit der einen auf die andere Sekunde verschwun-den. Schwach ließ er sich zurück in den Sessel fallen und warf dabei einen müden Blick hinaus in die Ferne.
„Aber es gibt andere Möglichkeiten, wie ich euch helfen kann“, versuchte Jumon den Jungen zu ermutigen. „Ei-nerseits könnte ich etwas über das Buch herausfinden, das ganz offensichtlich etwas mit deinem Vater zu tun hat. Andererseits bringe ich dir gerne eine Art der Selbstverteidigung bei, die deine eigenen, ganz individuellen Fähigkeiten hervorbringt.“
Jumon setzte sich wieder und beugte sich vor, um Takeru etwas näher zu sein. Dabei lächelte er ihn an.
„Was meinst du, mit ganz individuellen Fähigkeiten?“, hakte Takeru nach.
„Das dunkelblaue Licht, das du gerade gesehen hast“, fing Jumon an, „das ist der Schlüssel. Dort versteckt sich dein ganzes Können. Die Seele ist immer der Schlüssel.“
„Was muss ich dafür tun?“ Langsam wurde Takeru mit Jumons Vorschlag warm.
„Du hast deine Seele nun gesehen. Aber damit du dich weiterentwickelst, musst du sie auch spüren. Ich möchte, dass du versuchst, in dich zu gehen und herauszufinden, wer du bist und was du kannst. Wenn du anfängst, dei-ne Seele richtig zu spüren, entwickelst du deine ganz eigenen Fähigkeiten. Als ich so alt war wie du, habe ich dafür täglich meditiert. Du kannst es damit versuchen, bist du dein Aros spürst.“
„Bis ich was spüre?“
„Dein Aros“, wiederholte Jumon, „es gibt verschiedene Namen dafür: Chi, Energie oder auch Aros. Das ist eine ganz individuelle Energie, die jeder von uns in sich trägt. Erlangt man Kontrolle darüber, entdeckt man Fähigkei-ten, welche andere Menschen als Superkräfte beschreiben könnten.“
„Du meinst, wie du Geister sehen kannst?“
„Genau! Du hast also verstanden, was das ist?“
„Aber wenn das jeder in sich trägt, wieso haben alle Menschen, die ich kenne, keine solche Fähigkeiten wie du?“ Diesen Punkt hatte Takeru noch nicht verstanden. Wenn Jumon doch gerade über Superkräfte redete, dann müsste doch jeder Mensch ganz besondere Fähigkeiten haben. Aber besonders gut malen oder Fahrrad fahren zu können, das konnte er doch nicht meinen. Zumindest waren dies Fähigkeiten, welche ihn selbst von seinen Klassenkameraden und Freunden unterschied.
„Das ist sehr kompliziert. Aros ist in verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Außerdem ist die Kontrolle darüber sehr wichtig. Viele Menschen wissen von dieser Energie nichts, sie wissen nichts über ihre eigene Seele und haben deswegen auch keine Kontrolle. Ich selbst erforsche schon lange dieses Thema und bin schon über etliche verschiedene Ansätze und Begründungen gestoßen. Ohne abschweifen zu wollen, solltest du versuchen, dich selbst zu finden. Das ist, wie gesagt, der Schlüssel.“
„Der Schlüssel“, wiederholte Takeru murmelnd für sich.
„Ich würde vorschlagen“, fuhr Jumon fort, „dass wir morgen weitermachen. Es ist sehr spät und wenn ich dir wirklich etwas beibringen soll, brauche ich jemand Fittes vor mir. Außerdem möchte ich das Training auch dei-nen Begleitern anbieten. Also legen wir uns schlafen.“
Mit diesen Worten stand Jumon auf und ging. Als er die Bibliothek verließ, blieb Takeru allein in der Dunkelheit zurück. Eine merkwürdige Stille kehrte ein. Takeru stand auf und lehnte sich mit seiner Stirn an die kalte Fens-terscheibe. Er holte mit seiner rechten Hand den Kompass unter seiner Weste hervor, während er mit seiner linken das Buch festhielt.
„Ich werde trainieren“, flüsterte er und erwartete, dass der Kompass dabei etwas anzeigen würde. „Dann werde ich dich finden, Papa.“
Dann legte sich auch Takeru zu seiner Schwester, Kioku und Eimi schlafen.

Als Takeru am nächsten Morgen aufwachte, war er alleine in der Bibliothek. Verschlafen suchte er seine Umge-bung ab und als er das Tagebuch neben sich unter seinen Klamotten fand, steckte er es schnell in die Tasche. Er zog sich flott seine Hose wieder an, kratzte sich am Kopf und gähnte noch einmal herzhaft. Dann begab er sich zu den anderen. Zu seiner Überraschung saßen alle am Tisch und tranken Tee. Jumon war gerade dabei, die Über-reste des Frühstücks abzuräumen.
„Ihr habt schon gefrühstückt“, murmelte Jumon als er in der Tür stand.
„Guten Morgen, Bruderherz“, begrüßte ihn seine Schwester. „Tja, wer zu spät kommt, verpasst halt das Beste.“
„Das war jetzt aber etwas gemein“, entgegnete Kioku.
„Wir haben noch etwas für dich übrig gelassen“, lächelte Eimi und lud ihn mit einer Handbewegung an den Tisch ein.
Als Takeru sich setzte, machten alle einen sehr entspannten Eindruck. Sabî trank genüsslich ihren Tee, während Jumon allen noch etwas nachschüttete. Als Jumon sich dann an den Tisch setzte, wirkte die Runde etwas ko-misch. Takeru aß gemächlich sein Brot und beobachtete seine Freunde. Sie waren so still, als würden sie etwas erwarten. Sabî streichelte ihren Bauch und fasste Jumon erwartungsvoll an die Schulter.
„Jetzt wo du da bist, Takeru, kann ich ja anfangen“, sprach Jumon. Er wirkte etwas nervös. Meinte er damit das Training? Takeru überlegte, ob das nicht doch etwas zu früh war. Immerhin hatte er doch nicht einmal sein Früh-stück gegessen.
„Ich glaube, es ist der richtige Zeitpunkt, dass ich euch die Wahrheit über eure Eltern erzähle. Sabî und ich ha-ben letzte Nacht noch lang darüber geredet und die Entscheidung ist gefallen. Ihr seid schon so weit gekommen, deswegen braucht ihr das Wissen über die Vergangenheit“, fing Jumon an.
Takeru hielt einen Moment inne. Die Wahrheit über seine Eltern? Fragend sah er Alayna an, die auf einmal sehr angespannt aussah. Er beobachtete, wie sie Eimi etwas näher rückte. Kioku stützte ihre Arme auf den Tisch und faltete ihre Hände vor dem Gesicht. Sie sah nun etwas ernster aus als vorher, als hätte sie die Hoffnung, dass Jumon auch etwas über ihre Vergangenheit erzählen würde. Was meinte er mit ‚Wahrheit‘?
„Als ich euren Vater richtig kennengelernt hatte, erzählte er mir von seiner Reise. Es fing alles damit an, dass sich eine merkwürdige Organisation in sein Leben begeben und eurer Urgroßmutter das Leben genommen hat-te. Ginta machte sich daraufhin kurzerhand auf den Weg, mehr über diese Organisation herauszufinden. Es dau-erte nicht lang, da kam er auch an diesen Ort, mit anderen Freunden …“
Jumon erzählte viele Details über die Reise ihres Vaters. Er ließ die Kämpfe und die Personen, die sie getroffen hatten dabei nicht aus. Gespannt und still saßen die Freunde am Tisch, bewegten sich kein bisschen, als würde jedes Zucken die Geschichte noch mehr in die Länge ziehen oder unterbrechen. Takeru merkte, wie sein Herz plötzlich anfing zu pochen.
„Als wir dann an ein Lagerhaus kamen“, fuhr Jumon fort, „trafen wir auf Shiana Aroya. Sie war eine Gefangene der Shal gewesen und wirkte zunächst wie ein ganz normales Mädchen. Was wir aber anfänglich nicht wussten, war, dass sie ganz besondere Fähigkeiten hatte …“
Er beschrieb auch die ganzen Eigenschaften von Shiana und wie sie ihre Reise fortsetzten. Wie sie Sayoko hal-fen, Tsuru und Kûosa trafen, Matra in ihrem Dorf kennenlernten, wie Oto und Ryoma die Gruppe verließen und wie sie noch Denji kennenlernten. Er erwähnte die Begegnung mit den Vastus Antishal und alle schlimmen Ta-ten, welche die Shal während dieser Zeit auf den Kontinenten begangen hatten.
„Als wir an unserem Ziel endlich alle wieder zusammentrafen, stand Ginta vor der schwierigsten Aufgabe seines Lebens. Er hatte nun nicht mehr nur die Aufgabe, die Welt vor dem Untergang zu beschützen, sondern auch Shiana zu befreien.“
Was Jumon nicht erwähnte, war, wie sehr Ginta in Shiana verliebt gewesen war. Er wollte gegenüber den Kin-dern nicht das Gefühl erwecken, dass er sein Zuhause verlassen hatte, weil er seine Frau nicht mehr liebte. Ju-mon erzählte auch nicht, dass ihre Mutter von der Organisation manipuliert worden war.
„Der Mond war der Erde bedrohlich nahe. Meiner Meinung nach hatten die Shal damals eine viel zu physikali-sche Einstellung zu der Erneuerung der Welt, welche sie als Fusion mit dem Mond verstanden. Aber das ist eine andere Theorie meinerseits.“
Takeru sah Kioku an. Sie formte mit ihrem Mund die Worte ‚Mond‘ und ‚Erneuerung‘. Der Ausdruck, den ihre Augen dabei hatten, wirkte so, als könne sie sich an etwas Bestimmtes erinnern. Jumon fuhr fort, die Geschichte des letzten Kampfes in allen weiteren Details zu erzählen. Er erwähnte, was für eine Kraft ihr Vater entwickelte, wie er Shiana befreite und …
„… am Ende opferte sich Shiana mit all ihrer Energie, um die Erneuerung der Welt zu stoppen. Meine Vermutung war immer, dass sie sich in Energie aufgelöst hat, um sich mit dem Mond zu verbinden und somit den Untergang zu stoppen. Die Welt war vor der radikalen Zerstörung gerettet.“
Für einen Moment war es still. Takeru hatte schon lange den Teller mit seinem Brot beiseite gelegt. Keiner trau-te sich, etwas zu sagen, bis Alayna ruckartig aufstand und dabei ihre Hände fest auf den Tisch schlug, sodass die Tassen kurz klirrten.
„Du willst mir jetzt ernsthaft weismachen, dass unser Vater gegen einen Tyrannen gekämpft hat und dabei fast sein Leben verloren hat, um die Welt vor dem Untergang zu retten!? Unser Vater, der jeden Tag in seinem Büro sitzt, um zu arbeiten, der mit uns einkaufen geht und Geburtstage feiert, der lacht, der mit uns zu Abend isst, der uns immer sagte, wir wären das Wertvollste in seinem Leben und dann einfach verschwunden ist!?“, schrie Alayna durch den Raum.
Takeru war von dem Ausbruch seiner Schwester so schockiert, dass er für einen kurzen Moment nicht atmete. Sein Herz pochte auf einmal rasend schnell. Wenn die Geschichte wahr war, was bedeutete das dann für ihn und Alayna? Jumon blickte Alayna tief in die Augen und nickte dabei.
„Warum zur Hölle hören wir erst jetzt davon? Warum wird darüber nicht in der Schule berichtet!? Weswegen haben wir denn Geschichtsunterricht? Warum redet keiner darüber, dass unsere Welt fast auf einmal hopsge-gangen wäre!?“
„Alayna, beruhige dich“, meinte Eimi und berührte dabei ihren Arm.
„Aber ich möchte das wissen!“, wimmelte sie Eimi ab. „Was bedeutet das für uns? Müssen wir nun auch unser Leben riskieren, damit die Welt nicht untergeht? Warum ist unser Vater verschwunden!?“
Alayna stiegen die Tränen in die Augen. Takeru bekam dabei ein richtig beklemmendes Gefühl in der Brust und er begann auch zu weinen.
„Wenn ich das wüsste“, antwortete Jumon in einem ruhigen Ton, „hätte ich schon längst etwas unternommen. Ich habe keine Antworten auf deine Fragen, aber ich arbeite jeden Tag hart, um all die Puzzleteile zusammenzu-fügen.“ Jumon deutete dabei auf die Bibliothek. „Irgendwo dort versteckt sich die Antwort und ich werde so lange nicht ruhen, bis ich die Geschichte verstehe.“
Takeru sprang auf und sprintete in die Bibliothek. Aus seiner Tasche zog er das Tagebuch und rannte zurück. Mit einem lauten Aufschlag knallte er das Tagebuch auf den Tisch.
„Ich habe auch keine Antworten, Alayna. Ich habe keine Ahnung, wo Papa ist und was das hier alles soll. Das Ta-gebuch macht mich verrückt, denn es erzählt mir nichts. Ich weiß genau so wenig wie du und wie Kioku und Eimi und Jumon! Wir dürfen jetzt nicht verzweifeln, das habe ich in den letzten Tagen viel zu sehr!“, stieß es aus Ta-keru heraus. Er war richtig in Fahrt. Die anderen hielten beeindruckt inne.
„Wir haben immer noch uns. Und solange wir uns haben, können wir auch unsere Eltern finden und herausfin-den, warum dies alles passiert! Alayna ich weiß, dass es nicht leicht ist. Wir sind von der einen auf die andere Nacht aus unserem Leben herausgerissen worden und haben nun diese unglaublich schwierige Aufgabe vor uns. Aber wir schaffen das! Wir haben Freunde gefunden, die uns helfen. Jumon will uns helfen! Er will uns trai-nieren, sodass wir uns beschützen können. Dort draußen sind noch mehr Leute, die unseren Vater kennen und mit jedem Schritt, den wir nach vorne gehen, kommen wir unserem Vater immer näher, ich spüre das! Es ist jetzt nicht die Zeit, wegen allem zu verzweifeln. Wir müssen jetzt erst recht stark sein!“ Takeru blickte in die Runde.
Alayna setzte sich wieder. Der Ausdruck in den Gesichtern seiner Freunde veränderte sich. Es fühlte sich so an, als wäre seine Hoffnung auf die anderen übergegangen.
„Takeru hat recht“, antwortete Kioku, als sie ihre Hand auf Alaynas legte. „Wir müssen stark bleiben. Wir müssen vertrauen haben in die Leute um uns herum. Sonst werden wir die Antworten nie finden.“
„Alayna, du bist nicht allein“, beruhigte sie Eimi. „Dein Bruder hat Recht, zusammen werden wir das hinkriegen und am Ende wird alles wieder normal.“
„Deswegen möchte ich euch trainieren“, bot Jumon an. „Wir wissen nicht, was dort draußen noch alles auf euch zukommt, ihr müsst euch verteidigen können.“
Takeru ging zu seiner Schwester und umarmte sie von hinten. „Papa und Mama waren so oft für uns da. Sie wa-ren immer da! Jetzt ist es Zeit, das zurückzuzahlen. Alayna, wir sind doch eine Familie.“
Er bemerkte, wie sich der Brustkorb seiner Schwester langsam und ruhig hob und wieder sank. Sie ließ einen langen, tiefen Seufzer heraus und löste sich von der Umarmung.
„Ihr habt alle Recht“, sah sie ein, „Wir können hier nicht tatenlos herumsitzen. Wir müssen etwas tun.“
„Dann lade ich euch ein, ein paar Tage zu bleiben. Dann kann ich mir das Tagebuch anschauen und euch etwas trainieren. Damit ihr weiterreisen könnte.“
Sabî lächelte und nickte. „Es wäre schön, wenn ihr als Gäste bleiben könnt.“
Jumon stand auf und sagte: „Dann fangen wir doch gleich damit an!“